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Aktionswochen gegen Antisemitismus

Nikolas Lelle und Janne Grashoff: It’s complicated – Zur schwierigen Beziehung von Antisemitismus und Rassismus

Es braucht neue Allianzen und Bündnisse im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus. Aber: Es ist kompliziert. Die neue Staffel [tacheles] nähert sich deshalb dem schwierigen Verhältnis von Antisemitismus(Kritik) und Rassismus(Kritik).

von Nikolas Lelle und Janne Grashoff

Wir stellen fest: Antisemitismus ist weiterhin auf dem Vormarsch. Er zeigt sich in Israelhass auf deutschen Straßen, Relativierungen des Holocaust auf Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und Angriffen auf die Erinnerungskultur von allen Seiten.

Wir beobachten: Rassistisch motivierte Gewalttaten sind Alltag in Deutschland, anti-asiatischer Rassismus hat seit dem Beginn der Corona-Pandemie wieder Konjunktur und BIPoC werden beständig durch strukturellen Rassismus im Bildungsbereich, bei der Wohnungssuche und im Berufsleben diskriminiert.

Angesichts dieser Lage braucht es dringend bessere Strategien, um Rassismus und Antisemitismus über die bisherigen Praxen hinaus wirksam zu bekämpfen. Eine Antwort darauf könnten neue Allianzen und Bündnisse sein, Bündnisse, die rassismuskritisches und antisemitismuskritisches Engagement miteinander verbinden, ohne Antisemitismus und Rassismus gegeneinander auszuspielen.

Die Beziehung von Antisemitismus(kritik) und Rassismus(kritik) wird noch zu wenig diskutiert. Das hat viele Gründe. Mit der zweiten Staffel [tacheles] wollen wir neue Diskussionen anstoßen und andere wieder aufnehmen. Dieser Text bildet den Auftakt zu einer Reihe von Beiträgen, die in den nächsten Monaten erscheinen. Er argumentiert vor allem aus einer antisemitismuskritischen Perspektive. Weitere, nicht zuletzt rassismuskritische Perspektiven werden folgen.

Die Beziehung von Antisemitismus und Rassismus ist schwierig: it’s complicated. Denn es besteht unter anderem die Gefahr, dass Themen vermengt werden, von denen es sinnvoll ist, sie einmal – zumindest analytisch – zu trennen. Dieser Text nähert sich der schwierigen Beziehung mit einer ersten Systematisierung von vier Konstellationen an, die die Beziehung von Antisemitismus(kritik) und Rassismus(kritik) prägen. Versucht man diese Beziehung aufzuschlüsseln, müssen Überlagerungen und Differenzen, Instrumentalisierungen und Allianzen in den Blick genommen werden.

Denn worüber reden wir eigentlich, wenn wir von dieser schwierigen Beziehung sprechen und inwiefern ist es complicated? Wo wird Rassismus verbreitet, indem Antisemitismus bekämpft wird? Und wo Antisemitismus im Namen des Anti-Rassismus reproduziert oder verharmlost? Und zum Schluss: Was hat das mit der Bekämpfung von Antisemitismus zu tun?

I Antisemitismus und Rassismus

Wie verhalten sich Antisemitismus und Rassismus zueinander? Beide Phänomene sind historisch miteinander verwoben und doch verschieden. Beides sind Ungleichheitsideologien, die Fremd- und Eigengruppen konstruieren. Sie verweisen aufeinander, treten oft zusammen auf und befruchten sich gegenseitig. Das wird zum Beispiel in rechtsextremen Verschwörungserzählungen deutlich: Der Mythos von einem „Großen Austausch” verschränkt Antisemitismus und Rassismus in der Vorstellung, eine globale Elite plane den Austausch der christlich-weißen Bevölkerung durch gezielte Einwanderung von People of Color und muslimischen Menschen. Antisemitisch ist diese Erzählung, weil besagte globale Elite als jüdisch verstanden wird, was den antisemitischen Mythos einer jüdischen Weltverschwörung reproduziert. Rassistisch ist die Geschichte vom „Großen Austausch”, weil Migrant:innen zu einer invasiven Gefahr für die angeblich einheimische Bevölkerung stilisiert werden. Diese Verschränkung von Ideologien stellt eine ganz konkrete Gefahr für die von Rassismus und Antisemitismus Betroffenen dar: Nicht nur der Attentäter von Halle handelte aus miteinander verwobenen antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Überzeugungen, auch der Attentäter von Hanau veröffentlichte ein Pamphlet, das rassistische, antisemitische und verschwörungsideologische Ansichten miteinander vermengt.

Und doch sind Antisemitismus und Rassismus zwei unterschiedliche Phänomene. Rassismus zeichnet sich durch eine kollektive Abwertung der konstruierten Fremdgruppe aus. Derartige Überlegenheitsfantasien zeigen sich zwar ebenfalls im Antisemitismus, gleichzeitig spielt aber hier die wahnhafte Vorstellung einer jüdischen Übermacht eine große Rolle. Antisemitismus ist also auch eine Unterlegenheitsfantasie. Antisemit:innen blicken auf Juden:Jüdinnen herab, schreiben ihnen aber gleichzeitig zu, Macht im Sinne einer Weltverschwörung oder umfassenden Kontrolle von staatlichen oder medialen Organen auszuüben. So zu tun als sei Antisemitismus einfach eine Unterform des Rassismus ist folglich problematisch. Damit verengt sich der Blick auf rassistischen Antisemitismus und wesentliche Formen des Antisemitismus, wie Israelbezogener Antisemitismus und Schuldabwehr-Antisemitismus werden unsichtbar gemacht.

II Anti-Antisemitismus und Rassismus

Zur schwierigen Beziehung von Antisemitismus(kritik) und Rassismus(kritik) gehören auch Instrumentalisierungen: Etwa, wenn im Namen einer angeblichen Antisemitismusbekämpfung der eigene Rassismus ausgedrückt wird. Die extreme Rechte macht sich Antisemitismuskritik zu Nutze – und bringt sie in Verruf. Beispielsweise zeigt sich die Instrumentalisierung scheinbar projüdischer oder proisraelischer Haltungen in Teilen der AfD, wie der extremen Rechten, wenn antisemitische Vorfälle zum Anlass genommen werden, um gegen „den Islam” zu hetzen. Die Sicherheit von Juden:Jüdinnen in Deutschland ist immer nur dann von Relevanz, wenn sie sich für rassistische Mobilisierung eignet. Eine vermeintliche Solidarität von Teilen der AfD, wie der extremen Rechten mit Israel geht auch darauf zurück, dass Israel als Bollwerk gegen „den Islam” verstanden wird.

Diese Dynamik zeigt sich mitunter in der Debatte um den sogenannten „importierten Antisemitismus”: Im Zusammenhang mit Flucht- und Migrationsbewegungen wird die ohnehin prekäre Sicherheitslage von Juden:Jüdinnen in Deutschland für eine rassistische Argumentation eingespannt. Demnach sind vor allem als muslimische Migrant:innen markierte Personen, die in den allermeisten Fällen nicht einmal zugewandert sind, eine pauschale Gefahr für jüdisches Leben. Zuletzt war diese Behauptung zu hören, als sich während des wiederaufflammenden Nahostkonflikts im Mai 2021 israelbezogener Antisemitismus wieder Bahn brach. Die extreme Rechte bekämpft immer nur den Antisemitismus der Anderen. So instrumentalisierte die AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch die antisemitischen Vorfälle im Mai 2021, um die Migrationspolitik zu kritisieren. Sie warf der Bundesregierung am 19. Mai vor: „Mit ihrer Einwanderungspolitik haben sie Judenhass aus dem Nahen Osten nach Deutschland importiert.” Die unverhältnismäßig präsente Debatte um einen „importierten Antisemitismus” stellt muslimische Migrant:innen unter Generalverdacht und lenkt von der jahrhundertelangen Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland ab. Antisemitismus ist ganz im Gegensatz zur Debatte durchaus auch ein deutscher Exportschlager, wenn man sich die Geschichte anschaut. Schon lange bevor der Nationalsozialismus den Antisemitismus europaweit exekutierte, schrieb der deutsche Mönch Martin Luther das vielleicht erste Pamphlet des modernen Antisemitismus.

Die rassistische Form der Antisemitismusbekämpfung ist entschieden zu verurteilen. Den Antisemitismus aus islamistischen Milieus gibt es dennoch und er stellt eine ernstzunehmende Bedrohung für Juden:Jüdinnen dar. Daraus dürfen jedoch weder pauschale Anschuldigungen abgeleitet noch die Erscheinungsformen des Antisemitismus in anderen politischen Milieus ignoriert werden. Der Antisemitismus der Anderen ist immer leicht zu erkennen.

Antisemitismus radikal und das heißt an der Wurzel packend zu bekämpfen, bedeutet dagegen auch den Antisemitismus und die „Gojnormativität” des eigenen politischen Milieus zu kritisieren. Im Interview mit uns betonten die Autor:innen des gleichnamigen Buchs, Judith Coffey und Vivien Laumann: „Gojnormativität ist die nichtjüdische Norm als gesellschaftliche Struktur.” Gojnormativ ist es also, nicht zu sehen, dass das nichtjüdische als das Normale gesetzt und vorausgesetzt wird. Jüdische Perspektiven und damit auch deren Perspektive auf Antisemitismus werden so nicht gesehen. Damit erscheinen Jüdinnen:Juden auch nicht als Bündnispartner:innen.

III Antisemitismus und Anti-Rassismus

Problematisch ist auch das Verhältnis zum Antisemitismus in Teilen der anti-rassistischen Szene. Denn bisweilen ist deren Anti-Rassismus von einer entschiedenen Abwehr von Antisemitismusvorwürfen geleitet (1), mal reproduziert er Antisemitismus –– bewusst oder unbewusst (2), ein andermal ist er schlicht blind für Antisemitismus (3).

(1) Die Debatte um den Postkolonialismus-Forscher Achille Mbembe hat die starke Abwehr auch aus Teilen der anti-rassistischen Szene deutlich gezeigt. Obwohl immer wieder Beweise dafür vorgelegt worden sind, dass Mbembe israelfeindliche Positionen vertritt, die man nicht vom Vorwurf des israelbezogenen Antisemitismus freisprechen kann, wurde das bis zuletzt bestritten. Dabei schrieb er etwa ein Vorwort mit dem Titel „On Palestine“ zu einem Sammelband, dessen Erlöse der BDS Kampagne zugute kamen, und setzte sich nachweislich dafür ein, dass eine israelische Wissenschaftlerin von einer Konferenz ausgeladen wurde.

(2) Immer wieder treten antizionistische und bisweilen antisemitische Positionen in der anti-rassistischen Szene unter dem Deckmantel der sogenannten Israelkritik zutage. Das zeigte sich jüngst bei den propalästinensischen und antiisraelischen Positionierungen infolge der durch die Hamas ausgelösten Eskalation im Mai 2021. Das hatte zur Folge, dass gerade eine Szene, der der eigene Anti-Rassismus so wichtig ist, antisemitische Positionen nicht nur duldete und verharmloste, sondern teils auch reproduzierte. Durch die Stilisierung Israels zu einem Kolonial- und Apartheidsstaat, wie jüngst durch Amnesty International UK, gilt Antizionismus in Teilen der Szene geradezu als zwingende Konsequenz aus der eigenen antirassistischen Haltung. Dabei ist der israelische Staat auch eine Antwort auf den grassierenden Antisemitismus, der in der Shoah gipfelte. Israel war (und ist) eine Schutzmacht für jüdische Geflüchtete aus der ganzen Welt. Diesen demokratischen Staat mit dem dämonisierenden Urteil der Apartheid zu belegen, ist nicht nur falsch, es ist auch fatal, weil es die Fronten verhärtet und die Spaltungen größer macht.

(3) Antisemitismus wird als Diskriminierungsform in den bisherigen Intersektionalitätsdebatten häufig nicht mitgedacht oder sogar reproduziert. Jüdinnen:Juden gelten schlicht als privilegiert. Ihre besondere Lage als von Antisemitismus Betroffene wird so einfach ausgeblendet. Jüdinnen:Juden wird dadurch auch keine Rolle als Subjekte oder Akteur:innen zugestanden, mit denen man Bündnisse eingehen kann. Hier braucht es neue Repräsentations- und Handlungsstrategien. David Baddiel kritisiert zutreffend, dass Antisemitismus und die Perspektiven von Juden:Jüdinnen in progressiven Milieus keinen Platz finden und bringt diese Leerstelle auf den Punkt: „Jews don’t count.”

Abwehrhaltungen und bewusste oder unbewusste Reproduktion von Antisemitismus sowie Leerstellen behindern die gemeinsame Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus in solidarischen Bündnissen, die doch dringend nötig wären.

IV Den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus zusammendenken

Wir brauchen neue Strategien im Kampf gegen Antisemitismus. Dafür müssen Überlagerungen und Differenzen der Diskriminierungsformen reflektiert, ihre Instrumentalisierungen enttarnt und Leerstellen in aktivistischen und theoretischen Diskursen thematisiert werden. Außerdem müssen personelle wie theoretisch-analytische Verbindungen geknüpft werden zwischen Akteur:innen der Rassismus- und der Antisemitismuskritik. Keine Allianzen um jeden Preis: Nicht mit denen, die Antisemitismus oder Rassismus kleinreden oder reproduzieren, sondern nur mit denen, die bereit sind, sich einer aufrichtigen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus(kritik) und Rassismus(kritik) zu stellen.

Bündnisse, die als Vorbild dienen können, gibt es in der Geschichte wie Gegenwart. Etwa wenn die Überlebenden des Anschlags von Halle und die Angehörigen der Opfer des Anschlags von Hanau auf dem Festival of Resilience 2020 gemeinsam der Attentate gedachten und sich in ihrer Widerstandskraft bestärkten. Solche Allianzen zeigen: Eine gemeinsame Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus ist möglich! Neue Bündnisse bieten die Chance, neue Handlungsstrategien zu entwickeln und Antisemitismus sowie Rassismus nachhaltiger, wirksamer und entschiedener zu bekämpfen. Und das ist dringend nötig.

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