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Podcast #9 Hasskriminalität

 

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In 9. Folge des de:hate-Podcasts geht es um ein Themenfeld, das sowohl Justiz und Polizei als auch Zivilgesellschaft und Forschung beschäftigt: Hasskriminalität. Was steckt hinter diesem Begriff? Welche Rolle spielt er im deutschen Strafrecht? Welche Auswirkungen hat Hasskriminalität auf die Betroffenen? Und wie können gesellschaftlich stigmatisierte und dadurch besonders gefährdete Gruppen gestärkt werden? Die 9. Folge des Dehate-Podcasts entstand im Rahmen der Fachtagung “Hass gegen Minderheiten” des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ Jena).

Matthias Quent: Der Forschungsstand zeigt, dass international Hasskriminalität zunimmt.

Barbara Perry: We often refer to hate crime as a message crime. That is it’s intended to send a message not just to the individual victim but to the community of which they are part.

Christina Büttner: Betroffene rechter Gewalt sind eine besondere Betroffenengruppe, weil sie nicht so sehr als Person gemeint sind, sondern als Vertreter*innen einer bestimmten Gruppe, die von den Täter*innen abgewertet wird.

Chris Allen: What we see is that the Brexit referendum really was a kind of catalyst in terms of like prompting a significant racial motivated backlash.

Was verstehen wir eigentlich unter Hasskriminalität?

 Hasskriminalität, vorurteilsgeleitete Straftaten, Hass gegen Minderheiten. In dieser Podcast-Folge geht es um ein Themenfeld, das sowohl Justiz und Polizei als auch Zivilgesellschaft und Forschung beschäftigt. Der Begriff Hasskriminalität bekommt in jüngerer Zeit verstärkt Aufmerksamkeit. Das liegt auch an den Entwicklungen der letzten Jahre.

Seit 2014 kam es zu einem enormen Anstieg von vorurteilsgeleiteter Gewalt gegen Minderheiten – insbesondere gegen Muslime und Musliminnen sowie gegen Geflüchtete. Allein im Jahr 2017 dokumentierten Pro Asyl und die Amadeu Antonio Stiftung über 1.700 Übergriffe gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Im selben Jahr erfasste die Polizei mehr als 1.450 antisemitische Delikte und rund 300 Straftaten gegenüber Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung.

Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) nahm diese Entwicklung zum Anlass, eine Fachtagung in Jena auszurichten. Unter dem Titel “Gewalt gegen Minderheiten – Internationale Perspektiven und Strategien zum Umgang mit Hasskriminalität” trafen sich im vergangenen September internationale Expert*innen aus Politik, Justiz, Polizei und Zivilgesellschaft.

Matthias Quent: Gegenstand der Tagung war zunächst die begriffliche Auseinandersetzung, was bedeutet eigentlich Hasskriminalität oder auch Vorurteilskriminalität, was wissenschaftlich der präzisere Begriff wäre.

 Matthias Quent ist Soziologe und beschäftigt sich mit Rechtsextremismus, Demokratie- und Radikalisierungsforschung. Seit 2016 leitet er das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena.

Matthias Quent: Das IDZ ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung und wird vor allem finanziert durch den Freistaat Thüringen. Unsere Aufgabe ist es, als eine Schlussfolgerung auf den unerkannten Rechtsterrorismus des NSU, wissenschaftliche Analysen, zivilgesellschaftliche Analysen zu aktuellen Herausforderungen, insbesondere zu Gewalt gegen Minderheiten, zusammenzuführen, in Austausch zu bringen, weiter zu entwickeln und die Herausforderung für eine diverse Gesellschaft somit auch sichtbar zu machen.

Wie können gesellschaftlich stigmatisierte und dadurch besonders gefährdete Gruppen gestärkt werden? Welche Auswirkungen hat Hasskriminalität auf die Betroffenen? Wie kann gruppenbezogene Gewalt verhindert werden? Doch zunächst: Was verstehen wir eigentlich unter Hasskriminalität?

Hasskriminalität – Beispiele und Definition

22. Juli 2016: Im Olympia-Einkaufszentrum in München tötete ein 18-jähriger Schüler neun Menschen und verletzte fünf weitere durch Schüsse. Sämtliche Todesopfer hatten Migrationshintergrund oder waren Sinti.

13. Mai 2017: Ein 30-Jähriger wird in München von mehreren Männern homophob beleidigt, bespuckt und krankenhausreif geschlagen

17. April 2018: Am Berliner Helmholtzplatz wird ein 21-jähriger Kippa tragender Israeli antisemitisch beleidigt und mit einem Gürtel geschlagen.

22. September 2018: Kurz nach 21:00 Uhr wird ein wohnungsloser Mann in einer Berliner S-Bahn von zwei Sicherheitsmitarbeiten der Bahn mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

30. September 2018: Am frühen Sonntagmorgen wird ein türkischstämmiger 24-Jähriger an einer Kölner Straßenbahn von einem Mann rassistisch beleidigt und mit einem Messer angegriffen.

27. Oktober 2018: Bei einem Attentat in der Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh/ Pennsylvania erschießt ein Mann elf Menschen und verletzte sechs.

Silvesternacht 2019: In Bottrop und Essen attackiert ein 50-Jähriger mit seinem Auto mehrere Menschen und äußert sich bei seiner Festnahme rassistisch.

Bei all diesen Vorfällen handelt es sich um Beispiele für Hassverbrechen. Das Besondere an dieser Form von Gewalt: Die Motive hinter den Taten sind vorurteilsgeleitet. Die Betroffenen werden angegriffen, weil sie zu stigmatisierten Gruppen gehören, z.B. People of Color, behinderte Menschen, Wohnungslose, Homo- und Trans*sexuelle, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma.

Matthias Quent: Der Begriff Hasskriminalität ist sozialwissenschaftlich verschieden ausgeprägt, wird verschieden interpretiert. Ganz allgemein geht es immer darum, dass es Straftaten sind, die sich gegen Menschen aufgrund ihrer sozialen Identität, aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit richten, es sind also Botschaftstaten gegen Minderheiten. Gegen Gruppen, die gesellschaftlich stigmatisiert, die historisch unterdrückt wurden. Es sind nicht willkürliche Gruppenkonstellationen, beispielsweise gegen Mopedfahrer kann es ja auch zu Gewalt kommen, sondern es geht um rassistische, antisemitische, um transfeindliche Gewalttaten.

„In einer regelrechten Anschlagstour, fuhr ein 50-Jähriger in Bottrop und Essen mehrmals auf Menschen zu, mit der klaren Absicht, sie zu töten. Und offensichtlich ging es dem mutmaßlichen Täter nicht darum, irgendjemanden tot zu fahren. Er hatte es nach jetzigen Erkenntnissen auf Ausländer abgesehen.“[1]

Barbara Perry: I am Barbara Perry from the University of Ontario Institute of Technology in Oshawa Ontario. And I’m the director of our criminology and justice program, but also director of the newly lounged center on Hate, Bias and Extremism at the university.

Die kanadische Sozialforscherin Barbara Perry von der University of Ontario, Kanada, ist eine der führenden Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Hate Crime- Forschung. In ihren Studien befasst sie sich unter anderem mit der Frage, welche Auswirkungen Hate Crimes haben.

Barbara Perry: There are the community impacts associated with hate crime. We often refer to Hate Crime as a message crime – that is that it’s intended to send a message not just to the individual victim but to the community of which they are part.

Der „in terrorem effect“

Hate Crimes sind Botschafts-Taten. Sie betreffen nicht nur diejenigen, die unmittelbar Opfer einer Straftat werden. Sie betreffen die gesamte Gruppe, der das Opfer angehört oder vermeintlich angehört. Die einzelne betroffene Person steht stellvertretend für die gesamte Betroffenen-Gruppe. Die Botschaft, die durch Hasskriminalität an sie gesendet wird lautet: Das kann auch dir passieren. Barbara Perry spricht im Kontext von Hate Crimes deshalb auch von Terror:

Barbara Perry: As a sociologist by training the definition that I would use is, that it is an attempt to terrorize a community through violence or threat of violence, to silence them, to discourage them from engagement in the broader society. And terrorism is essentially the same thing. It is the attempt to terrorize a civilian portion of the population, in order to affect change. How does that differ?

Der lateinische Begriff “Terror” bedeutet “Schrecken”, “Angst”. Das entsprechende Verb: “jemanden in Angst versetzen”. Hate Crimes, so Perry, versetzen eine ganze Community in Angst, lösen ein Gefühl der Bedrohung aus. Die gesamte Betroffenengruppe soll zum Schweigen gebracht, entmutigt werden. Das sei nichts Anderes als Terror. Ausgehend von dieser Definition hat Perry den Begriff “in terrorem effect” geprägt. Damit beschreibt die Sozialforscherin die Auswirkungen, die Hate Crimes auf die Betroffenen-Gruppen haben.

Barabara Perry: The “in terrorem effect” suggests the notion that terror and fear that is experienced by the individual victims is also experienced by broader members of that particular community. People will say: It could have happened to me. I’m fearful for myself, my family and my friends, because if that can happen to someone who looks like me, believes as I do, that I’m also vulnerable to victimization.

Christina Büttner: Oft sind die psychischen Folgen neben den physischen sogar noch schwerwiegender und langwieriger. Psychische Folgen muss man verarbeiten, die Ängste, die damit verbunden sind, die Unsicherheitsgefühle und auch die Ausgrenzungserfahrungen müssen verarbeitet werden und das sind oft lange Prozesse.

Christina Büttner – Projektkoordinatorin und Beraterin bei EZRA, der Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen.

Christina Büttner: Wenn das häufiger vorkommt, wenn Leute keinen guten Halt in der Gesellschaft haben, dann ist die Gefahr größer, dass es nicht gut gelingt und dass da vielleicht auch ein Krankheitswert zurückbleibt oder dass jemand nicht mehr seine Ressourcen ausschöpfen kann. Vielleicht auch immer krank wird, also richtig schwerwiegende, langfristige Folgen können entstehen. Und auch das sind auch nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Folgen. Es geht über das Individuum hinaus.

Christina Büttner betont, wie wichtig es ist, dass Opfer von vorurteilsgeleiteten Straftaten wahrgenommen werden. Betroffene brauchen das Gefühl, dass Diskriminierung und Gewalt verurteilt und nicht geduldet werden.

Christina Büttner: Es muss ernst gemeint sein, es muss auch konsequent sein. Das heißt es nützt nichts, wenn das jemand nur sagt. Das ist dann auch wie eine Negierung, wenn dann am Ende nicht auch Konsequenzen daraus folgen. Betroffene brauchen um wieder Vertrauen finden zu können, einfach auch vertrauensvolle Ansprechpartner*innen. Leute, die an ihrer Seite stehen in bestimmten schwierigen Situationen: Wenn Behörden noch mit ins Spiel kommen, vielleicht bei der Polizei oder im Gerichtsverfahren, dass sie dem nicht alleine ausgesetzt sind. Und sie brauchen manchmal auch Öffentlichkeit, wenn sie das wünschen, dass die Problematik öffentlich wahrgenommen wird und auch thematisiert wird. Eine Sensibilisierung für diese Situation.

„Ein Großteil der Juden in Europa hat den Eindruck, dass ihnen immer mehr Hass entgegenschlägt. Viele Juden gaben an, im vergangen Jahr antisemitisch belästigt oder angegriffen worden zu sein.“[2]

„Es ging um handfeste Gesetze“

Für die öffentliche Wahrnehmung von Gewalt gegen Minderheiten, spielt auch die Etablierung des Begriffs “Hasskriminalität” eine wichtige Rolle. Es waren Betroffene selbst, die den Begriff prägten: In den USA der 1980er Jahre im Rahmen der Bürgerrechtsbewegungen. PoCs, Homo- und Transsexuelle, Jüdinnen und Juden – Verschiedene Betroffenengruppen setzten sich für ihre Rechte ein. Und machten darauf aufmerksam, dass eine gesetzliche Regelung für Straftaten fehlt, die sich gegen Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit richten. Diese müssten schärfer bestraft werden, da sie über die konkrete Tat hinaus wirken und eine besondere Gefahr für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft darstellen.

Marc Coester: Also im Grunde kommt dieses gesamte Konzept aus einer Rechtsdebatte, Bürgerrechtsdebatte, es ging schon um handfeste Gesetze.

Marc Coester, Professor für Kriminologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin.

Marc Coester: Also natürlich liegt dem ganzen Konzept auch eine gesellschaftspolitische Dimension zugrunde, aber es ging immer um die Einführung von Gesetzen, die diese Gruppen schützen. Wegen dem Botschaftscharakter. Und deshalb hat sich in den USA, aber auch in vielen anderen Ländern der Welt, herausgebildet, dass man Strafverschärfungsgesetze einführt. Das heißt also, wenn im Gerichtssaal als bewiesen gilt, dass es tatsächlich aus Vorurteilen gegenüber der Hautfarbe oder was auch immer, der Religion, durchgeführt wurde und damit auch diese politische Dimension besitzt – die Rückwirkung auf die gesamte gesellschaftliche Gruppe – dass dann eine Strafverschärfung ausgesprochen werden muss, vom Richter oder der Richterin.

Im Unterschied zu den USA, ist das Konzept Hasskriminalität im deutschen Strafrecht nicht direkt verankert. Hassdelikte können in der deutschen Rechtsprechung nur indirekt berücksichtigt werden.

Eine entscheidende Änderung im deutschen Strafgesetz wurde am 1. August 2015 vorgenommen:

„Als Reaktion auf die Mordserie des rechtsextremen NSU treten morgen Gesetzesänderungen gegen sogenannte Hasskriminalität in Kraft“[3]

Als Folge der Selbstenttarnung des NSU und mit geänderter politischer Mehrheit, wurde §46 Absatz 2 des Strafgesetzbuches geändert. Der Paragraph 46 regelt die Grundsätze der Strafzumessung, also die schuldangemessene Bestrafung eines Täters/einer Täterin. Im geänderten Absatz 2 heißt es seit 2015 nun: Dass “rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende” Beweggründe strafverschärfend heranzuziehen sind.

Diese Änderung ist vor allem für Betroffene ein wichtiger Schritt. Denn er bedeutet eine Stärkung ihrer Position und bekräftigt ihr Anliegen, das Tatmotiv aufzuklären und anzuerkennen.

Inwieweit diese Veränderung in der Praxis tatsächlich umgesetzt wird, kann nicht genau beurteilt werden. Denn es gibt wenig Forschung in diesem Bereich, auch weil die Justiz dies bislang kaum zu lässt. Kritiker*innen bemängeln, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte sich einer wissenschaftlichen Betrachtung entziehen.

PMK – Erfassung durch Behörden

Anders als bei der Justiz, wird Hasskriminalität bei der Polizei dokumentiert. Seit 2001 erfassen die sogenannten PMK-Statistiken bundesweit politisch motivierte Kriminalität. Diese jährlich veröffentlichte Statistik gliedert sich in vier Phänomenbereiche: PMK rechts, PMK links, PMK ausländische Ideologien und PMK religiöse Ideologien. Unter einer fünften Kategorie, werden Fälle erfasst, die nicht genau zugeordnet werden können.

Hasskriminalität existiert in der PMK-Statistik als Unterkategorie. Gilt eine Straftat als politisch motiviert, wird sie also zunächst in eine der 5 Oberkategorien sortiert. Im nächsten Schritt kann die Straftat zudem in die Unterkategorie “Hasskriminalität” eingeordnet werden. Diese gliedert sich wiederum in 11 weitere Teilkategorien: Dazu gehören rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten, Straftaten gegen die sexuelle Orientierung, Straftaten, die gegen die Religion, gegen den gesellschaftlichen Status oder gegen die Behinderung einer Person gerichtet sind.

Seit 2017 werden auch antiziganistische, christenfeindliche und islamfeindliche Straftaten separat erfasst. Was bis lang fehlt ist die gesonderte Erfassung von  transfeindlichen Straftaten.

Das Erfassungssystem der PMK-Statistiken wird von vielen Seiten als zu kompliziert kritisiert. Zudem stellt sich die Frage, wo der Unterschied zwischen “rassistischen” und „fremdenfeindlichen” Straftaten liegen soll.

Es stellt sich die Frage, wie genau die Daten erfasst werden, die zu den PMK-Statistiken führen.

Tobias Singelnstein: Die Erfassung erfolgt bei der Polizei und zwar in Form einer Eingangsstatistik. Das heißt die Polizeibeamten, die ein bestimmtes Delikt aufnehmen, geben dort bereits in diesem Zusammenhang an, ob es sich um ein politisch motiviertes Delikt handelt oder nicht. Und diese Einschätzung kann sich natürlich im Laufe der Zeit wandeln und auch nochmal geändert werden. Ob das in der Praxis aber tatsächlich gemacht wird, ist doch sehr fraglich.

Tobias Singelnstein, Professor am Lehrstuhl für Kriminologie an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Er beschreibt das Erfassungssystem der Polizei als Kette von verschiedenen Stationen.

Die Straftat wird zunächst von der Polizei vor Ort bearbeitet und eingeordnet. Kommen die zuständigen Polizeibeamt*innen zu der Einschätzung, das Tatmotiv sei als “politisch motiviert” einzuordnen, werden die Daten an das zuständige Landeskriminalamt gemeldet. Von dort wird der Fall wiederum ans Bundeskriminalamt weitergeleitet, die statistikführende Stelle der Polizei. Hier werden die Daten nun aufbereitet und an den Verfassungsschutz und die Innenministerien weitergeleitet. Am Anfang dieser Kette steht also immer die Einschätzung der zuständigen Polizeibeamt*innen. Sie sind das erste Glied in der Kette des Erfassungssystems und tragen damit enorme Verantwortung für die Statistik.

Tobias Singelnstein: Wir bekommen natürlich kein realistisches Abbild dessen, was in der Praxis stattfindet, sondern das Ganze bildet erstmal nur das Hellfeld ab, also auch die Taten, die auch bei der Polizei bekannt werden. Und dann haben wir hier eine doppelte Verzerrung, weil die Taten müssen nicht nur bei der Polizei bekannt werden, sondern die Polizei muss sie eben auch als politisch motiviert einstufen. Und das ist in der Praxis erstens oftmals nicht so einfach, weil die Motivation unter Umständen gar nicht so leicht zu ermitteln ist und zum anderen, haben die Polizeibeamten, die diese Einordnung vornehmen, einen doch erheblichen Beurteilungsspielraum, ob sie die Tat als politisch motiviert einordnen oder eben nicht.

Wenn überhaupt, finden also nur die Straftaten Eingang, die auch bei der Polizei gemeldet werden. Und auch dann bleiben Fälle von Hasskriminalität häufig unerkannt. Auch weil Polizeibeamt*innen nicht genügend sensibilisiert sind.

Mit dem PMK-System wurden viele verschiedene, sich teilweise überlappende Kategorien geschaffen, in die eine Straftat eingeordnet werden kann. Expert*innen, Opferverbände und verschiedene Parteien kritisieren: Es sei zu kompliziert, schwer durchschaubar und insgesamt unzureichend, um vorurteilsbasierte Straftaten zu erfassen.

Heike Kleffner: Ich bin Heike Kleffner und ich bin die Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.

Heike Kleffner kennt die Auswirkungen, die vorurteilsgeleitete Straftaten haben: Sie verändern das Leben der Betroffenen – oft nicht nur in dem unmittelbaren Augenblick und den Monaten nach der Tat, sondern häufig ein Leben lang, körperlich und psychisch.

Heike Kleffner: Die größte Wahrnehmungslücke ist tatsächlich, dass die Berücksichtigung der Betroffenenperspektive nur in einer Fußnote vermerkt ist. Und es gibt so viele politisch rechts, rassistisch und auch antisemitisch motivierte Gewalttaten, die überhaupt nur aufgeklärt werden können, wenn die Betroffenenperspektive berücksichtigt wird. Und umgekehrt der NSU-Komplex ist das beste und schrecklichste Beispiel dafür, was eben passiert, wenn die Betroffenenperspektive ignoriert wird. Fast alle Angehörigen, fast alle Verletzten der Sprengstoffanschläge des NSU haben gesagt, die Täter können nur Rassisten, nur Rechtsradikale, nur Neonazis sein.

Die Perspektive der Menschen, die Opfer von Hasskriminalität werden, spielt in Deutschland eine untergeordnete Rolle. Dass es auch anders gehen kann, zeigt das Beispiel Großbritannien.

Der Sonderfall Großbritannien

Chris Allen: Hate Crime in the UK is a legal term, so we have a legal definition of that.

Chris Allen, Professor für Hate Studies an der University of Leicester. Seit fast zwei Jahrzehnten forscht er zu muslimischen Communities, Islamophobie und der extremen Rechten. In Großbritannien werden Hate Crimes seit 2005 als gesonderte Straftaten verfolgt. Im Unterschied zu Deutschland, gibt es in Großbritannien eine offizielle, gesetzliche Definition für Hate Crimes.

Chris Allen: We have a definition which is from the College of Policing and that definition is: A Hate Crime is any criminal offense which is perceived by the victim or other person as being motivated by hostility or prejudice. I guess key to that is the fact that it is the victim who identifies whether it is a hate crime or not. So it is not the police, it’s not the reporting agency, it’s actually the victim. If the victim believes, it was motivated because of their identity, than in the UK that becomes a Hate Crime.

In Großbritannien hat die Einschätzung der Tat durch die Betroffenen einen völlig anderen Stellenwert. Wenn die betroffene Person glaubt, dass die Tat aufgrund eines Vorurteils begangen wurde, wird diese Einschätzung ernst genommen und die Tat als Hate Crime eingestuft.

Dass Deutschland weit davon entfernt ist, Betroffene ernst zu nehmen, zeigte sich in besonderem Maße beim NSU: Die Angehörigen der Opfer wiesen schon früh auf ein mögliches rassistisches Motiv und einen rechtsextremen Tathintergrund hin. Die Polizei jedoch ignorierte diese Hinweise. Stattdessen und unterstellte sie den Opfern und ihren Angehörigen, selbst kriminell zu sein.

Chris Allen betont, dass Hate Crimes nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Wenn wir verstehen wollen, wie es zu Hasskriminalität kommt, warum sie zunimmt, dann müssen wir immer auch das gesamtgesellschaftliche Klima betrachten. Allen erklärt am Beispiel Großbritannien, wie gesellschaftliche Entwicklungen mit Hate Crimes zusammenhängen:

Chris Allen: What we see is the Brexit referendum, which took place two years ago, really was a kind of catalyst in terms of prompting a significant racial motivated back clash.

Nachdem im Juni 2016 beim Brexit Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU entschieden wurde, kam es zu einem enormen Anstieg von rassistisch motivierten Straftaten.

Chris Allen: When you look at those actual dates you see that the day before the Brexit Referendum Hate Crime figures are on a quite normal kind of level, the day afterwards you see this dramatic increase.

Vergleicht man die Statistiken zur Erfassung von Hate Crimes einen Tag vor und einen Tag nach dem Brexit Referendum, zeigt sich ein dramatischer Anstieg. Chris Allen erklärt den Zusammenhang so:

Chris Allen: I think that the Brexit referendum kind of functioned along the lines of politics of belonging. And it immediately demarcated who could belong in Britain, and who should belong in Britain and who can’t and who shouldn’t. And I think what we saw was that almost that referendum void, to kind of leave Europe, almost gave a kind of great confidence, and kind of emboldened those who want to commit and perpetrate hate crime to actually go out on to the streets and do that.

Durch das Brexit-Referendum, so Allen, werde deutlich, wer vermeintlich zu Großbritannien gehört und wer nicht. Die Narrative und Diskurse, die in Zusammenhang mit dem Brexit stehen, begünstigen ein Klima, in dem Leute sich ermutigt fühlen auf die Straße zu gehen und ihre rassistische Einstellung in Gewalt auszudrücken.

Doch nicht nur der Brexit trägt zu einem Klima bei, das Hate Crimes befördert. Auch islamistische Terror-Anschläge begünstigen eine Stimmung, in der Hasskriminalität ansteigt, so Allen. In den letzten Jahrzehnten beobachtet Allen zudem ein Klima, in dem vor allem muslimische Communities Diffamierungen und Ausgrenzung ausgesetzt sind – auch von Seiten der Regierung. An diesem Diskurs zeige sich: Die Stimmen der extrem Rechten und die des politischen Mainstreams sind mittlerweile zusammengewachsen.

Chris Allen: We have created this landscape in the UK where actually when you have the political release, when you have those hierarchies, when you have the prime minister using a platform in the mainstream media, to say: “Muslims aren’t British, Muslims don’t won’t to be British, we need to stop foreigners coming here, we have to many foreign people in this country.” Actually that emboldens those who want to perpetuate hat and want to perpetrate hate crime. And it gives them permission to hate.

Permission to hate – die “Erlaubnis zu hassen”. Auch Matthias Quent vom IDZ beobachten, dass Hasskriminalität international unter bestimmten gesellschaftlichen Stimmungen legitimiert und dadurch verstärkt wird. Sogenannte Legitimationseffekte zeigten sich zum Beispiel durch die Politik von Donald Trump in den USA und in Kanada. Und auch in Deutschland ist der Einfluss von Rechtspopulist*innen bemerkbar:

Matthias Quent: Wir können in Deutschland ganz ähnliches beobachten, insbesondere mit dem Erstarken der AfD, was zu einer Legitimierung von Taten gegen Minderheiten führt. Auf der anderen Seite gibt es Studien, die sich damit auseinandersetzen, was machen solche gruppenbezogenen Botschaftstaten mit denen, die davon betroffen sind und ihren Gemeinschaften, und da zeigt sich, dass Menschen, die von Hasskriminalität viktimisiert, geschädigt werden, schwerere, stärkere psychische und physische Schäden erleiden, geringeres Demokratie-, Politik- und Institutionsvertrauen aufweisen, als Menschen, die das nicht erleiden oder als Menschen, die ähnliche Straftaten erlebt haben, aber ohne diesen Gruppenbezug, also reine Kriminalität, zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründe und nicht aufgrund von Gruppenkonstellation. Hasskriminalität schadet also mehr, und zwar nicht nur individuell, sondern auch gruppenbezogen und für die Gesellschaft, die ja von einem Gleichheitsanspruch ausgeht.

Wie können wir Betroffene schützen?

Was können wir also tun? Die Prognose von Chris Allen ist düster. Hasskriminalität, so der Forscher, werde weiter steigen. Was können wir also tun um gegen Hasskriminalität, Gewalt gegen Minderheiten vorzugehen? Wie können wir Betroffene schützen? Barbara Perry drückt es so aus:

Barbara Perry: There is no single way. It needs to be multidimensional responses. We need to collectively challenge that hostility and that prejudice in whatever form that we see it. Collectively as well as individually and we all have responsibility to do that.

Hasskriminalität ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Um dagegen vorzugehen, Betroffene zu schützen, die Hintergründe zu verstehen, braucht es gesamtgesellschaftliche, mehrdimensionale Antworten. Die Tagung des IDZ zum Thema “Hass gegen Minderheiten” hat wichtige Einblicke in das Phänomenfeld aufgezeigt. Aus Justiz, Polizei, Forschung und Zivilgesellschaft wurden unterschiedliche Perspektiven und Probleme benannt. Fest steht: Die Auseinandersetzung mit Hasskriminalität ist angesichts des erstarkten Rechtspopulismus wichtiger denn je. Denn Hasskriminalität destabilisiert die Gesellschaft und greift sie in ihrem Kern an. In ihrem Grundprinzip der Gleichheit und Freiheit aller.

De:hate – Ein Podcast der Amadeu Antonio Stiftung.

Konzeption und Umsetzung: Viola Schmidt

Sprecher*innen: Viola Schmidt und Matthias Goedeking.

Musik: Kevin McLeod und Jan Möller.

O-Ton Quellen:

[1]http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-489173.html

[2]https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-480501.html

[3]https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-9447.html

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