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Offener Brief

Solidarität mit der HDP – Gegen die Autokratisierung der Türkei

Wir, die Verfasser*innen und Unterzeichner*innen dieses Aufrufes, stellen uns hiermit deutlich gegen das Verbot der zweitgrößten Oppositionspartei HDP, ein pro-kurdisches Linksbündnis, in der Türkei. Die 2012 gegründete Partei ist ein Zusammenschluss verschiedenster antirassistischer, feministischer, ökologischer und progressiver Gruppen und ist Hoffnungsträgerin von über 6 Millionen Wähler*innen – davon tausende türkeistämmige Deutsche, die wiederholt dieser Oppositionsbewegung ihre Stimme gegeben haben.

Am Mittwoch, den 17.3.2021 beantragte Generalstaatsanwalt Bekir Şahin, das Verbot der HDP, begründet mit dem Vorwurf, die HDP wolle die Einheit des Staates stören. Es sind schauerliche Botschaften in einer Sprache, die man gerade in Europa noch zu gut kennt, eine Sprache, die versucht, Teile der Bevölkerung systematisch auszuschließen, während sie auf Einheit und Vaterlandstreue schwört. Ein Verbot der HDP ist ein schwerer Schlag gegen alle Wähler*innen und Unterstützer*innen dieser Bewegung, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, die sich deutlich gegen Rechtsextremismus, Islamismus und Rassismus einsetzen und der HDP ihre Stimme gaben. Das Verbot der HDP ist damit nicht nur ein außenpolitisches sondern auch ein innenpolitisches Thema, denn es betrifft alle progressiven Kräfte der migrantischen Szene Deutschlands. Konsequent antirassistisch sein bedeutet, auch diese zu unterstützen.

Ein langer Weg der Repression begleitet die Geschichte der HDP, die 2015 das Unmögliche schaffte: Sie überwand die 10% Hürde des türkischen Parlaments, die prozentuell höchste Hürde für den Einzug in ein nationales Parlament weltweit. Bis dato war das türkische Parlament von islamisch-konservativen, rechtsnationalistischen und kemalistisch-nationalistischen Parteien geprägt. Der Einzug der HDP war eine Chance für alle, die sich eine Demokratisierung der Türkei herbeisehnten, wie auch für Millionen von Kurd*innen im Land, die seit der Gründung der türkischen Republik 1923 Diskriminierung und Verfolgung erfahren mussten. Wiederholt versuchten kurdische Parteien, die Repräsentation der Gruppe im türkischen Parlament zu erreichen, was jedoch immer wieder in Verbote mündete. Sechs kurdische Parteien wurden bereits seit 1993 verboten, doch Politiker*innen gründeten immer wieder neue Parteien: Zuletzt die BDP, später zusammengeschlossen im Bündnis als DBP. Diese bildet einen wichtigen Teil des Bündnisses, aus dem die HDP sich speist und in der Kurd*innen ihre politische Vertretung sehen. Viele Stimmen bekam die HDP ebenfalls aus der deutschtürkischen Community, mit dem Wunsch, dass Jahre des Autoritarismus in der Türkei durch eine neue progressive Kraft wie die HDP im Parlament ein Ende haben würden. Gerade der Wahlkampf der HDP in Europa, der noch im Zeichen der Gezi-Proteste Menschen für Frieden, Koexistenz und Freiheit vereinte, wurde maßgeblich von einer diasporischen Community geleitet, die sich Demokratisierung und Frieden für das eigene Herkunftsland wünscht.

Trotz einer wachsenden sozialen Bewegung unter dem Dach der HDP, die Hoffnung machte für eine demokratische Türkei, geriet das Linksbündnis immer weiter ins Fadenkreuz der Regierung. Kurz nach dem Rekordergebnis der Parlamentswahl von 2015, als die HDP mit 13,1% Einzug hielt, hinderte die Oppositionspartei Präsident Erdoğan bei der Erstellung seines autokratischen Systems, indem sie ihm und seiner Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit nahm. Durch Millionen von Stimmen wurde die HDP zwar ins türkische Parlament gewählt, doch was bis heute folgte, waren Jahre der Diskriminierung, Diskreditierung und Verleumdung von Amtsträger*innen der HDP. Beispiellos wurden oppositionelle Abgeordnete, Bürgermeister*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen verfolgt, bedroht und zahlreich in Haft gesteckt, was gerade die Bundesrepublik Deutschland bei den Fällen von Meşale Tolu und Deniz Yücel am eigenen Leibe erfahren musste. Die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Partei, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sind seit 2016 inhaftiert, obwohl erst im Dezember 2020 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, die Inhaftierung sei nicht rechtmäßig und Demirtaş solle sofort freigelassen werden. Seit den Kommunalwahlen von 2019 sind zudem ein Großteil der 67 gewählten HDP-Bürgermeister*innen abgesetzt und durch Zwangsverwalter der AKP ersetzt worden. Die zusätzliche Autokratisierung des Staates seit dem zivilen Putsch von 2016 hat darüber hinaus die Fronten verhärtet, die Gefängnisse der Türkei weiter mit politischen Gefangenen gefüllt und ein Klima von Unterdrückung und Bedrohung erzeugt, denn nicht zuletzt das Verfassungsreferendum der Türkei von 2017 hat Erdoğans Alleinherrschaft faktisch besiegelt.

Das Verbotsverfahren ist ein gefährliches Signal an die übriggebliebenen und isolierten Demokrat*innen der HDP und hiermit stellen wir uns ausdrücklich dagegen und fordern, dass die Bundesregierung den Rücken der demokratisch legitimierten Oppositionspartei HDP stärkt. Die Türkei ist nicht nur eine wichtige staatliche Partnerin Deutschlands, auch die Bevölkerungen beider Länder sind eng verbunden. Gerade in diesem Kontext ist eine Autokratisierung einer so wichtigen Partnerin und der Wegfall dieser Oppositionskraft verhängnisvoll und muss um jeden Preis verhindert werden. Von der Zivilgesellschaft in Deutschland fordern wir eine konsequente Haltung gegenüber allen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, egal aus welchem Hintergrund. Wir stehen konsequent gegen Rechtsextremismus und Autoritarismus und somit an der Seite der HDP.

 

Unterzeichner*innen institutionell:

Amadeu Antonio Stiftung

Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V.

Bühne für Menschenrechte

Bildungsstätte Anne Frank

European Ways e.V.

Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst

Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)

DIE LINKE. LV Baden-Württemberg

Hay Stab Germany – Humanitäres armenisches Kollektiv

MODUS

Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V. (BDAJ)

TÜDAY – Menschenrechtsverein Türkei/Deutschland e.V

KulturForum TürkeiDeutschland

Seebrücke. Schafft sichere Häfen, Bündnis

linksjugend [’solid] Berlin

DIE LINKE. Kreisverband Stuttgart

 

Unterzeichner*innen individuell:

Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung

Cem Özdemir, MdB

Meşale Tolu, Autorin & Journalistin

Klaus Lederer, Bürgermeister und Kultur- und Europasenator von Berlin

Carolin Emcke, Autorin

Herbert Grönemeyer, Musiker

Eric Marquardt, Mitglied des Europaparlaments

Düzen Tekkal, Politikwissenschaftlerin & Menschenrechtsaktivistin

Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Leiter des Institute for Transcultural Health Science – Institut für transkulturelle Gesundheitsforschung

Jamila Schäfer, stellvertretende Bundesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen

Cemile Sahin, Künstlerin & Autorin

Dastan Jasim, Politikwissenschaftlerin

Sigmount Königsberg

Canan Bayram, Mitglied des Deutschen Bundestages

Juri Sternburg, Theater- und Drehbuchautor

Doğan Akhanlı, Schriftsteller

Imran Ayata, Autor & Campaigner

Felix Banaszak, Landesvorsitzender GRÜNE NRW

Fatma Aydemir, Autorin

Hengameh Yaghoobifarah, Autor_in & Journalist_in

Margarete Stokowski, Autorin

Dilan Sina Balhan, Juristin

Arndt Klocke, MdL, Stv. Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag NRW

Rosa Burç, Politikwissenschaftlerin

Hito Steyerl, Filmemacherin & Autorin

Mehmet Tanriverdi, stellvertretender Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, Unternehmer

Berivan Aymaz, MdL Grüne Landtagsfraktion NRW

Julia Schramm, Politikerin DIE LINKE und Publizistin

Ali Ertan Toprak, Bundesvorsitzender Kurdische Gemeinde Deutschland

Marcel Roth, Landesvorstand BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN BW

Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler

Doris Akrap, Journalistin

Jörg Nürnberger, Vorsitzender SPD Oberfranken

Dirk von Lowtzow, Musiker

Alla Muhomed, Pädagogin

Bini Guttmann, Präsident European Union of Jewish Students

Daniel al-Kayal, Autor

Ronya Othmann, Autorin

Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft

Veronika Kracher, Publizistin

Simone Barrientos, MdB, DIE LINKE

Ninve Ermagan, Autorin & freie Journalistin

Patrice Poutrus, Zeithistoriker und Migrationsforscher an der Universität Erfurt

Serpil Temiz Unvar, Mutter des am 19.2. ermordeten Ferhat Unvar

Kemal Bozay, Professor für Sozialwissenschaften, Köln

Mona Neubaur, Landesvorsitzende des Bündnis 90/Die Grünen NRW

Alev Korun, Ex-Vorsitzende des Menschenrechtsaussches im Öst. Nationalrat & Sprecherin des 10. Bundeslandes der Öst. Grünen

Koray Yılmaz-Günay, Verleger

Sarah-Lee Heinrich, Aktivistin für Soziale Gerechtigkeit, Bundesvorstand Grüne Jugend

Mario Sixtus, Filmemacher und Autor

Max Zirngast, Journalist und Übersetzer

Alexander Waltschew

Adil Demirci, Sozialwissenschaftler

Ricarda Lang, Stellvertretende Bundesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen

Dr. Remko Leemhuis, Direktor American Jewish Committee, Lawrence & Lee Ramer Institute for German Jewish Relations

Sharon Adler, Journalistin, Fotografin und Gründerin des Magazins Aviva-Berlin

Eliyah Havemann

Benjamin Garabedian, Arzt und Public Health Forscher

Mahir Tokatlı, Politikwissenschaftler an der Universität Bonn

Civan Akbulut, Mitglied im Integrationsrat Essen

Derya Türk-Nachbaur, SPD Kreisvorsitzende im Schwarzwald-Baar Kreis und Bundestagskandidatin

Leon Kahane, Künstler

Aram Lintzel, Politischer Berater und Journalist

Ersan Mondtag, Regisseur

Fabian Bechtle, Künstler

Dr. Francis O’Connor, Politikwissenschaftler, Hessische Friedens- und Konfliktforschung

Ilias Kevork Uyar, Rechtsanwalt

Yüksel Yavuz, Filmemacher

Nicolaus Schafhausen, Kurator und Strategic Director Fogo Island Arts and Shorefast

Prof. Dr. Burak Çopur, Politikwissenschaftler

Burak Yılmaz, Pädagoge

Baran Hevî, Schauspieler

Rênas Şahin, Aktvist der GRÜNEN JUGEND

Prof. Dr. Andreas Nachbaur, Jurist

Ali Can, Sozialaktivist & Autor

Aziz Bozkurt, Bundesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt in der SPD

Anita Starosta, Medico International

Dr. Kamal Sido, Nahost-Experte, Göttingen

Prof.  Dr. Manuela Bojadzijev, Wissenschaftlerin, Berlin

Charlotte Obermeier

Abuzer Erdogan, Vorsitzender der SPD-Stadtratsfraktion Rosenheim

Heidi Merk, Justizministerin und Stellvertretende Ministerpräsidentin a.D. Niedersachsen

Dr. h.c. Herbert Schmalstieg, Oberbürgermeister der LH Hannover a. D.

Çiler Fırtına, Übersetzerin

Christian Holtzhauer, Schauspielintendant Nationaltheater Mannheim

Carl Hegemann, Dramaturg

Osman Okkan, Dokumentarfilmer

Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim Gorki Theaters Berlin

Ferda Berse, Sozialwissenschaftlerin

Claudia Kaloff, Kunstberater

Maria Noichl, SPD Europaabgeordnete

Dîlan Yazicioglu

Nurgül Tosun, Rechtsanwältin, Bochum

Dîlan Yazicioglu, Kölner Ratsmitglied, Bündnis 90/Die Grünen

Dîlan Karacadağ, Medienschaffende

Florian Ritter, Vorsitzender SPD Oberbayern

Angelika Graf, MdB a.d. SPD

Mark Waschke, Schauspieler

 

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HP Beitrag(3)
Aufruf

Wenig Zeit bis zur Bundestagswahl – Demokratie ist nicht verhandelbar! Wir fördern eure Projekte!

Im Superwahljahr 2024 hat eine rechtsextreme Partei in ostdeutschen Bundesländern hohe Stimmenanteile erzielt. Bei der kommenden Bundestagswahl droht die Gefahr, dass sie diesen „Erfolg“ über Ostdeutschland hinaus fortsetzt. Viele Initiativen und Bündnisse engagieren sich kreativ und mit langem Atem für ein solidarisches und demokratisches Miteinander. Die Zivilgesellschaft steht bundesweit weiterhin gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ein. Dieses stabile Engagement braucht es nunmehr denn je, trotz und gerade wegen aller Unsicherheiten.

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Kommentar

Kommentar: Lohnt sich Demokratieförderung überhaupt?

Als die Correctiv-Recherchen Anfang 2024 publik wurden, gründeten sich bundesweit Initiativen, die zu Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus aufriefen. Sie mobilisierten Hunderttausende. Seitdem sind neue Initiativen und Bündnisse entstanden und Netzwerke gewachsen. Die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland blüht auf, wie lange nicht. Trotzdem erringt die rechtsextreme AfD starke Ergebnisse. Das enttäuscht und war doch vorhersehbar. Es braucht Zeit, die über Jahre entstandene rechtsextreme Hegemonie wieder aufzubrechen. Ein Kommentar.

Motiv 2024 für Webseite
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In Deutschland hat es Tradition, dass Minderheiten und marginalisierte Gruppen als Schuldige für gesellschaftliche Problemlagen herhalten müssen. Das Jahr 2024 hat dies mit einer Hochkonjunktur von Geflüchteten- und Migrationsfeindlichen Diskursen in Politik und Öffentlichkeit als Antwort auf sicherheits- und sozialpolitische Fragen wieder eindrücklich gezeigt. Mit der Kampagne “BerlinZeigtCURAge” lenkt die Amadeu Antonio Stiftung zum Ende des Jahres die Aufmerksamkeit darauf, welche Auswirkungen diese Stimmungsmache auf den Alltag Betroffener hat.

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