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Gefördertes Projekt

„Starke Seiten“ – Eine Bibliothek wehrt sich gegen rechtsextreme Angriffe

Christian Meskó und Boryano Rickum von der Stadtbibliothek Tempelhof-Schöneberg

Seit Sommer 2021 kam es in der Bezirkszentralbibliothek Tempelhof-Schöneberg immer wieder zu gezielten Zerstörungen und Beschädigungen von Büchern. Die betroffenen Titel setzten sich allesamt kritisch mit Rechtsextremismus auseinander oder thematisierten linke Theorie und die Geschichte des Sozialismus. In Reaktion initiierte die Stadtbibliothek die u.a. von der Amadeu Antonio Stiftung geförderte Veranstaltungsreihe „Starke Seiten“, bei der die betroffenen Autor*innen aus ihren Büchern lesen und mit dem Publikum über rechte gesellschaftliche Tendenzen ins Gespräch kommen. Wir haben mit Boryano Rickum, Leiter der Stadtbibliothek Tempelhof-Schöneberg und dem dortigen Community-Manager Christian Meskó über ihre Motive und die gesellschaftliche Rolle öffentlicher Bibliotheken gesprochen.

von Yannik Böckenförde

Die ersten Vorfälle liegen nun gut ein Jahr zurück, können sie sich noch an den Fund und ihre ersten Reaktionen erinnern?

Christian Meskó: Die ersten zerstörten Bücher wurden im Juli 2021 entdeckt. Das Putzpersonal fand die zerschnittenen Bücher damals in einem Nutzerkorb vor den Toiletten, wo der oder die Täter*in sie wahrscheinlich auch zerstört hat. Relativ schnell haben wir begonnen, zu recherchieren welche weiteren Titel betroffen sind oder fehlen. Denn es wurden nicht nur Bücher zerstört, sondern auch schlicht entwendet. Bei den späteren Vorfällen waren die zerstörten Bücher unter den Regalen versteckt.

Boryano Rickum: Wir haben uns intern besprochen und überlegt, wie wir vorgehen. Bundesweit ging der Vorfall mit einem von mir abgesetzten Tweet viral, der dafür gesorgt hat, dass es dann auch in den Medien aufgegriffen wurde. Das hat eine große Welle von Solidarität ausgelöst. Es gab eine riesige Unterstützungs- und Spendenbereitschaft von Privatleuten, aber auch den betroffenen Verlagen und der lokalen Politik. Auch andere Bibliotheken, nicht nur in Berlin, zeigten sich solidarisch und haben genau die zerstörten Bücher hervorgeholt und ausgestellt.

 

Als Stadtbibliothek haben sie sich relativ schnell dafür entschieden, in die Offensive zu gehen und die Öffentlichkeit zu suchen. Warum war Ihnen das so wichtig?

 

Boryano Rickum: Der Entschluss, in die Öffentlichkeit zu gehen, war nicht von vornherein gesetzt. Es stand durchaus die Frage im Raum, ob es klug ist Aufmerksamkeit auf die Vorfälle zu lenken, ob wir damit nicht ein gelegenes Podium bieten und mögliche Trittbrettfahrer animieren. Das heißt, es war für uns schon eine Abwägungsentscheidung. Letztlich haben wir uns dafür entschieden, weil die Vorfälle entschieden gegen alles stehen, wofür wir als Bibliothek eintreten. Wenn jemand anfängt Bücher zu zerstören, wohl wissend um die symbolische Bedeutung, ist damit eine Grenze überschritten, bei der wir nicht untätig bleiben konnten. Bis heute sind wir in dieser Entscheidung immer wieder bestätigt worden, in der öffentlichen Meinung, von den Behörden aber auch zivilgesellschaftlichen Akteuren wie ihrer Amadeu Antonio Stiftung. Sie haben alle immer gesagt: Der Schritt war richtig.

 

Christian Meskó: Letztlich waren sich alle Mitarbeitenden einig, dass wir das nicht unkommentiert lassen können. Politische Neutralität war in diesem Moment für uns keine Option. Auch in Bibliothekskreisen wurde schon länger über den Umgang mit dem Erstarken von rechtsextremen Tendenzen diskutiert. Parteipolitisch sind wir natürlich neutral, werteanschaulich sind wir das meiner Meinung nach aber keineswegs: Als öffentliche Bibliothek treten wird für alle Menschen ein, wir sind für alle Menschen offen, zielen darauf, ein diskriminierungsfreier Raum zu sein.

 

Hinter den Vorfällen lassen sich Täter*innen aus dem rechtsextremen Spektrum vermuten: Warum glauben sie, wird gerade ihre Bibliothek hier zur Zielscheibe von rechten Übergriffen?

 

Boryano Rickum: Das ist eine Frage, die mich persönlich schon eine ganze Weile begleitet. Wahrscheinlich ist es einerseits so, dass der oder die Täter*in davon ausgehen kann, dass dem Akt der Zerstörung von Büchern im deutschen Kontext eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Zum anderen scheint sich hier in Tempelhof ein „Sumpf“ von rechtsextrem denkenden Menschen gebildet zu haben, angesichts dem es vielleicht nur eine Frage der Zeit war, bis es sich auch bei uns in der Bibliothek niederschlägt. Seit Jahren finden sich im Stadtteil immer wieder Schmierereien mit rechtsextremen Botschaften, auch bei uns in den Räumen wurden wiederholt unerlaubt Broschüren und Flyer von rechten Organisationen ausgelegt. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir uns als Bibliothek, mit den Mitteln die wir haben, der Sache annehmen, Stellung beziehen und die Probleme durch programmatische Arbeit  thematisieren.

 

Ergebnis war nicht nur die Ausstellung der betroffenen Werke in einer Vitrine im Foyer der Bibliothek, sondern die Lese- und Diskussionsreihe, „Starke Seiten“, die im Mai bereits in die vierte Runde ging. Wie kamen sie auf das Format?

 

Christian Meskó: Gerade weil es von den Autor*innen und Verlagen der betroffenen Bücher Solidaritätsbekundungen und Unterstützungsangebote gab, kam schon früh die Idee auf, eine Lesereihe aufzuziehen, in der genau diese Bücher und ihre Themen Raum bekommen. Mit den „Starken Seiten“ wollten wir nicht nur die Autor*innen einladen aus ihren Büchern zu lesen, es war uns auch ganz wichtig, dass wir ein Diskussionsformat schaffen, in dem das Publikum eine wesentliche Rolle spielt. Begleitet wurde das durch die Präsentation der zerstörten Werke in der Vitrine und eine durch unsere Auszubildenden gestaltete Ausstellung, die mittlerweile abgebaut wurde. Uns ging es darum, dass wir die Vorfälle auf ganz vielen Eben thematisieren.

 

Welche Reaktionen gab es bei den bisherigen Veranstaltungen der Lesereihe?

 

Christian Meskó: Wir hatten uns durchaus auch auf gezielte Störungsversuche eingestellt und vorbereitet. Glückweise sind diese bis heute komplett ausgeblieben. Weder vor Ort noch in den Sozialen Medien gab es negative Reaktionen oder Vorfälle. Im Gegenteil: Bisher sind die Veranstaltungen für uns ein großer Erfolg – wenn die auslösenden Umstände nicht so furchtbar wären. Alle Veranstaltungen waren sehr gut besucht, immer wieder waren spannende Vertreter*innen der Zivilgesellschaft vor Ort. Mit dem recht divers zusammengesetzten Publikum hatten wir angeregte Diskussionen, gerade auch mit der jüngeren Generation. Viele habe sich bedankt und uns in unserem Weg bestärkt.

 

Bisher sind noch drei weitere Lesungen geplant. Gibt es bereits Pläne, wie es danach weitergehen soll?

Boryano Rickum: Die Idee ist, dass sich das Format irgendwann von den ursprünglichen Vorfällen emanzipiert. Aber es soll dabei bleiben, dass wir als Stadtbibliothek weiterhin ein öffentliches Format haben, dass sich durchaus auch weiterhin kritisch mit rechtsextremen oder antidemokratischen Tendenzen in unserer Gesellschaft auseinandersetzt. Ich glaube auch, dass es bei allem, was heute in der virtuellen Welt passiert, wichtig ist, dass es immer wieder einen physischen Raum gibt, in dem sich Menschen über solche Dinge austauschen können. Ich denke, dass dies etwas ist, was wir als Stadtbibliothek auf jeden Fall weiterhin kultivieren müssen und es auch eine zentrale Aufgabe von Stadtbibliotheken sein sollte.

 

Bedeuten die Vorfälle für Sie auch einen Anstoß für ein langfristiges Umdenken betreffend die gesellschaftliche Rolle von Bibliotheken?

Boryano Rickum: In der Fachsphäre der öffentlichen Bibliotheken Deutschlands flammten in den letzten 10 Jahren immer wieder Diskussion um die Frage auf, wie politisch Bibliotheken sein können oder sollten. In dieser Zeit hat sich der Diskurs ein ganzes Stück weiterentwickelt. Erst in den letzten drei bis vier Jahren zeigt sich allerdings, dass sich diese Diskurse auch in der konkreten bibliothekarischen Arbeit niederschlagen. Es gibt zurzeit eine Menge Versuche und Experimente, sich diesen Aufgaben neu zu nähern. Die „Starken Seiten“ sind darunter ein eher klassischer Zugang mit Texten und Büchern ins Gespräch zu kommen. Parallel, aber auch unabhängig von den Vorfällen sind bei uns zuletzt ganz viele Prozesse in Gang gesetzt worden, die gemeinsame Schnittstellen haben.

 

Christian Meskó: Schon ziemlich lange wird in der Fachwelt über Bibliotheken als „dritter Ort“ diskutiert. Da passiert relativ viel, aber bis wir dort ankommen sind, wird es noch einige Zeit dauern, Deutschland hängt hier etwas hinterher. Es geht hier auch darum, dass es zur Aufgabe der Bibliotheken gehört „raus zu gehen“. Das betrifft auch meine Arbeit als Community-Manager. Das heißt dann auch mal, mit dem Lastenrad auf die Spielplätze und Hinterhöfe im Schöneberger Norden zu fahren. Das ist aber nicht alles. Auch mit dem neu geschaffenen Diversity-Management sind Prozesse im Haus angestoßen worden, um Strategien zu entwickeln, nicht nur mit Rechtsextremismus, sondern auch mit anderen Ausformungen von Diskriminierung umzugehen. Es geht uns darum, Gruppen, die von Diskriminierung betroffen sind, zu unterstützen, ihre Erfahrungen sichtbar zu machen.

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