Charaktere in Videospielen werden immer wieder stereotypisiert dargestellt. Warum sind diese zuweilen unreflektierten Darstellungsweisen ein Problem, hat sich die Gamesindustrie diesbezüglich in den letzten Jahren weiterentwickelt und welche Schritte müssen zukünftig gegangen werden? Ein Überblick.
Von Paul Nachtwey
Eine Harfe spielt, Motorensummen und ein gewaltiges Luftschiff braust durch den blauen Himmel. Da steht sie: Prinzessin Peach. An einen Mast gefesselt, mit einer goldenen Geschenkschleife. Ihre großen, glitzernden Augen schauen zu ihrem Helden: „Mario“, ruft sie mit ungläubiger Begeisterung. Der männliche Held springt ein paar letzte Stufen hoch, dann hat er sie endlich befreit. Nach einem kurzen gemeinsamen Tanz trägt Mario Peach auf Händen durch den Himmel während die Endcredits des Spiels ablaufen.
Diese Szene aus „Super Mario 3D Land“ (2011) ist so ähnlich vermutlich schon unzählige Male über diverse Bildschirme jeglicher Größe geflimmert. Viele weiblich gelesene Personen werden in Videospielen vergleichbar zu Peach in der „Super Mario“ Reihe dargestellt, ohne eigene Handlungsfähigkeit. Die Darstellung von weiblichen Charakteren auf diese Art und Weise bezeichnet man als „Damsel in Distress“- die Narration der „Jungfrau in Nöten“
Allgemein kamen verschieden Inhaltsanalysen im Laufe der letzten Jahre immer wieder zum gleichen Ergebnis: gesellschaftlich marginalisierte Gruppen werden in Videospielen fast ausschließlich stereotyp dargestellt. Frauen sexualisiert oder hilflos, asiatisch gelesene Charaktere vor allem in Kampfspielen als fernöstliche Kampfkünstler:innen, schwarze Charaktere als Sportler:innen oder Kriminelle. Die Liste ließe sich lange weiterführen. Aber glücklicherweise nicht ewig. Denn immer mehr Spiele versuchen diverse Themen und Repräsentationen darzustellen. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut. Schauen wir uns zunächst aber an, was ein Stereotyp überhaupt ist.
In der Psychologie versteht man unter Stereotypen den kognitiven Teil von vorurteilshaften Einstellungen. Also die Zuordnung einer Person oder einer Gruppe zu einer bestimmten Kategorie. Dabei gibt es sowohl positive als auch negative Stereotype. Darüber hinaus legt die psychologische Forschung nahe, dass alle Menschen einer Gesellschaft über die kulturellen Stereotype in der bestehenden Gesellschaft Bescheid wissen. Außerdem werden Stereotype bei allen Menschen automatisch aktiviert, wenn beispielsweise ein Mitglied der betroffenen Gruppe wahrgenommen wird. Der Unterschied zwischen vorurteilsbehafteten Menschen und weniger vorurteilsbehafteten Menschen besteht darin, dass Zweitere die automatische Aktivierung eines Stereotyps aktiv „unterdrücken“, wenn sie mentale Kapazität dafür zur Verfügung haben.
(Vielleicht als Kasten) An dieser Stelle ein kurzer Disclaimer: Bei der Interpretation von psychologischen Studien sollten Ergebnisse nicht zu sehr generalisiert werden. Dies gilt im Besonderen für die Videospielforschung, da hier besondere methodische Herausforderungen auftreten, die das Interpretieren von Ergebnissen erschweren können.
Stereotype in Videospielen, wo liegt denn das Problem?
Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns erst einmal klarmachen, dass das Aussehen und die Charakteristika eines Avatars das Verhalten von Spielenden im Spiel und in der analogen Welt beeinflussen können. Passiert dies, spricht man in der Psychologie vom sogenannten „Proteus Effekt“. Das erste Mal beschrieben wurde der Effekt im Jahr 2007. Die Forschenden konnten in ihrer Untersuchung zeigen, dass Teilnehmende sich in einer Verhandlungssituation unterschiedlich verhielten, in Abhängigkeit von z. B. der Größe ihres Avatars. Teilnehmende, die einen größeren Avatar zugeordnet bekamen, verhielten sich danach in der Verhandlung (die in einer virtuellen Umgebung stattfand) selbstbewusster und machten häufiger unfaire Angebote als Teilnehmende, die durch einen kleineren Avatar repräsentiert wurden. Die Ergebnisse einer Untersuchung zwei Jahre später legen nahe, dass sich der Proteus Effekt auch auf eine Interaktion in der analogen Welt auswirken kann. Die Größe des Avatars beeinflusste das Verhalten der Teilnehmenden auch in einer nachfolgenden Interaktion im analogen Leben. Wie Charaktere in Videospielen dargestellt werden, kann also Einfluss auf das Verhalten der Spielenden im Alltag haben.
Und was hat der Proteus Effekt nun mit Stereotypen zu tun?
Eine mögliche Erklärung für den Effekt ist, dass Avatare bestimmte Stereotype in der spielenden Person aktivieren. Das kann dann dazu führen, dass diese sich so verhält, wie man es von Menschen der stereotypisierten Gruppe erwarten würde. In einer Studie zum Spiel „World of Warcraft“ konnte beispielsweise gezeigt werden, dass weibliche Charaktere nur dann andere Charaktere häufiger heilen, wenn sie von Männern gespielt werden. Die Forschenden argumentieren, dass dieser Effekt auftritt, weil die weiblichen Charaktere bei Männern den Stereotyp „Frauen kümmern sich um und umsorgen Andere“ aktivieren und sie sich dann entsprechend verhalten.
Das Aussehen und die Charakteristika von Avataren können also Einfluss auf Spielenden haben. Eine mögliche Erklärung: Festgesetzte, stereotype Rollenbilder. Aber wo ist denn jetzt das Problem?
Dass stereotyp dargestellte Avatare bestehende Stereotypen verstärken können, konnte bereits 2014 festgestellt werden. In einer Untersuchung zeigten weiße Teilnehmende nachdem sie einen schwarzen Avatar in einem „violent“ Videospiel spielten stärker unbewusste und bewusste negative Einstellungen gegenüber Persons of Colour (PoC). Diese Teilnehmende zeigten, verglichen mit einer Gruppe, die ein anderes Spiel oder einen anderen Avatar spielten, auch eine stärkere unbewusste Assoziation von PoC und Waffen. Eine Gruppe von Forschenden konnte 2021 zeigen, dass das Spielen eines als aggressiv, also stereotyp, dargestellten schwarzen Avatars unter bestimmten Bedingungen zu aggressivem Verhalten außerhalb des Spiels führen kann. Die Forschenden erklären, dass ein Charakter, der in Übereinstimmung mit häufigen Stereotypen dargestellt ist, zu einer Aktivierung von sogenannten Schemata führt. Ein Schema beschreibt in der Psychologie eine kognitive Struktur, die als Rahmen für das Wissen über Personen, Objekte, Ereignisse oder Ähnliches dient. Menschen nutzen Schemata als Hilfsmittel, um Informationen, die sie wahrnehmen, einer Bedeutung zuzuordnen. Im vorliegenden Beispiel könnte der Charakter beispielsweise ein Schema aktivieren, in welchem Informationen über aggressive und gewalttätige PoC abgespeichert sind.
Stereotype Charaktere in Videospielen sind auch problematisch, weil sie gerade in sogenannten toxischen Communities auf Zuspruch treffen können. Eine Community kann als toxisch bezeichnet werden, wenn ihre Mitglieder sich bewusst oder unbewusst diskriminierend (sexistisch, rassistisch, antisemitisch oder anderweitig menschenfeindlich) äußern und/oder sich gegen Vielfalt in Gaming-Kontexten positionieren. Solche Communities sind aber nicht nur problematisch, weil hier Stereotype reproduziert und Menschen diskriminiert werden, sondern auch, weil sie häufig nach rechts offen sind und menschenverachtende Einstellungen akzeptieren. Dadurch stellen sie einen Nährboden für Rechtsextremisten dar, die vermehrt versuchen, Gaming als Teil des sogenannten vorpolitischen Raums für sich zu nutzen. Da gewisse Stereotype immer Teil einer rechtsextremen Weltanschauung sind, können stereotyp dargestellte Charaktere weitere Anknüpfungspunkte für Rechtsextremisten in toxischen Communities sein.
Spiele können leider auch dann negative Einflüsse auf Vorurteile und Stereotype haben, wenn sie eigentlich dazu gedacht waren, diese abzuschwächen. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2016 setzten sich die Forschenden mit dem Spiel „SPENT“ auseinander. In diesem übernehmen Spielende die Rolle einer alleinerziehenden Person mit einem Kind und 1000 $ für den ersten Monat. Man muss nun mit dem Geld durch den Monat kommen und idealerweise noch Geld übrig halten, um im nächsten Monat die Miete zahlen zu können. Das Spiel sollte den Spielenden dabei helfen, ihre Vorurteile gegenüber Menschen ohne finanziellen Rückhalt, abzubauen. In der Untersuchung zeigte sich aber, dass das Spiel bei manchen Personen gar keinen Einfluss hatte. Bei anderen sogar einen negativen. Die Vorurteile gegenüber Menschen in prekären Lebenssituationen wurden verstärkt, weil die Spielenden den Eindruck bekamen, Armut sei individuell kontrollierbar.
Gibt es auch positive Seiten? Können Videospiele auch Stereotype aufbrechen?
Ja! Mehrere Studien konnten auch positive Einflüsse von Videospielen auf Stereotype zeigen. Beispielsweise führte das gemeinsame Spielen eines Online-Spiels mit einer Person einer anderen Gruppe, zu positiveren Einstellungen gegenüber dieser Gruppe. Außerdem konnte gezeigt werden, dass Videospiele hilfreich sein können, um sogenanntes „Social Perspective Taking“ zu fördern. Social Perspective Taking beschreibt die Fähigkeit, sich selber in die Situation von anderen hineinzuversetzen. Weitere Studien konnten zeigen, dass Social Perspective Taking helfen kann, Stereotype zu reduzieren.
Darüber hinaus gibt es, wie bereits oben kurz angedeutet, immer mehr Videospiele, die auf Diversität anstatt auf Stereotype setzen. So beispielsweise bei „Life is Strange: True Colors“, wo die Hauptfigur, Alex Chen, eine asiatisch-amerikanische Frau, weder hypersexualisiert, noch als stereotyp asiatisch dargestellt wird. Oder „Krem“ in „Dragon Age: Inquisition“ als eines der seltenen Beispiele für gelungene Repräsentation von Trans-Menschen in Videospielen. Eine solche Repräsentation verhindert nicht nur, dass bestehende Stereotype weiter verhärten, sondern bricht diese auf und ermöglicht Gamer:innen somit eine kritische Auseinandersetzung mit ihren eigenen Stereotypen. So können die vorpolitischen Möglichkeiten der kleinen Minderheit an rechtsextremen Gamer:innen eingeschränkt werden.
Was kann außerdem noch getan werden?
Es ist wichtig zu erkennen, dass Spiele Stereotype reproduzieren können. Deswegen sollten noch mehr Entwicklungsstudios darauf achten, Charaktere möglichst divers darzustellen. Dafür ist es notwendig, dass auch die Entwickler:innen-Szene weitaus diverser wird, und nicht größtenteils die Ansicht von weißen cis Männern vertritt. Eine Forderung vieler marginalisierter Gruppen: Sie müssen direkt in den Entwicklungsprozess miteinbezogen werden. Gaming-Communitys sollten zudem durch bspw. Bildungsprojekte empowered werden, sich gegen die kleine Minderheit an Rechtsextremen zu positionieren. Darüber hinaus, sollte es gesellschaftlicher Konsens werden, dass Videospiele eine Chance bieten Stereotype abzubauen, zu hinterfragen und Perspektivübernahme von Spielenden zu fördern. Dieses Potenzial sollte noch viel stärker genutzt werden, dafür müssen auch bestehende Stereotype über Games und Gamer:innen hinterfragt und aufgebrochen werden.