RB Leipzig wird gehasst wie kein anderer Verein in Deutschland, das drückt sich auch in Antisemitismus aus. Der Fall RB Leipzig ist ein Beleg dafür, dass selbst anti-antisemitische Milieus wie die Ultra-Szene im Fußball ungewollt Antisemitismus reproduzieren können. Handelt es sich dabei um „Antisemitismus ohne Juden“, also „strukturellen Antisemitismus“? Pavel Brunssen argumentiert stattdessen für die Kategorie der antisemitischen Ressentimentkommunikation und plädiert zudem für eine antisemitismuskritische Perspektive, die mehr sein soll als eine bloße Positionierung. Die Kolumne.
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„Rattenball Leipzig“, „RB Vernichten!“ oder „Für den Volkssport Fußball – gegen die, die ihn zerstören“: RB Leipzig wird über alle Ligen und politischen Differenzen hinweg gehasst wie kein anderer Verein in Deutschland. Linke, Rechte sowie sich „unpolitisch“ nennende Fangruppierungen im Westen, Norden, Süden und Osten des Landes: Sie alle beteiligen sich an der antisemitischen Ressentimentkommunikation gegen RB Leipzig. Der Verein existiert erst seit 2009, nur aufgrund der Investitionen von Red Bull, die undemokratischen Mitgliederstrukturen tun ihr Übriges: Dem Verein haftet der Makel des Kommerzes und der Globalisierung an. In die Ablehnung mischt sich Antisemitisches, obwohl der Verein nicht als „jüdisch“ angefeindet wird. Fans kontrastieren vermeintliche Tradition gegen Moderne, das Lokale gegen das Globale sowie das „Authentische“ gegen das Kommerzielle. Anders als in allen anderen Fällen wird die österreichische Herkunft Red Bulls nicht als deutsch, sondern als global angesehen und hiermit auch die Radikalität der Ablehnung RB Leipzigs begründet; im Unterschied zu Vereinen wie dem von VW abhängigen VfL Wolfsburg, dessen Sponsor als lokal und somit als authentisch gilt.
Struktureller Antisemitismus?
Antisemitismus ohne Juden wird häufig mit der Kategorie des „Strukturellen Antisemitismus“ beschrieben. Autor*innen verweisen auf Thomas Haurys Dissertation „Antisemitismus von Links“, die aufzeigt, wie sich bei Lenin zwar „nicht die geringste Spur von gegen Juden gerichteten Einstellungen“ finden ließe, die Grundstrukturen seiner Ideologie jedoch „augenfällige Affinitäten zu den Grundprinzipien antisemitischen Denkens“ aufwiesen. Lässt sich Struktureller Antisemitismus also als eine Ideologie definieren, welche Grundformen des antisemitischen Denkens aufweist, jedoch keine offen feindlichen Einstellungen gegen Juden:Jüdinnen enthält? Es erscheint naheliegend, diesen Begriff auch für eine Untersuchung der Antipathie gegen RB Leipzig zu verwenden, ich halte den Begriff in diesem Fall jedoch aus zwei Gründen für unpräzise bzw. unpassend.
Erstens: Da mit der Annahme eines Strukturellen Antisemitismus implizit auch die Existenz eines nicht-strukturellen Antisemitismus behauptet wird (wie auch immer dieser dann genau definiert wird), besteht die Gefahr der Annahme, der „richtige“, nicht-strukturelle Antisemitismus sei derjenige, der etwas mit Juden:Jüdinnen zu tun haben müsse. In anderen Worten: es müsse doch etwas dran sein am Antisemitismus. Ich gehe jedoch davon aus, dass der moderne Antisemitismus, zu dem auch der Strukturelle Antisemitismus zählt, eine mal mehr, mal weniger im Vordergrund stehende spezifische Kernstruktur hat und es einen nicht-strukturellen Antisemitismus nicht gibt. Diese Kernstruktur zeichnet sich wesentlich durch eine antikapitalistische Denkweise aus, die nicht den Kapitalismus abschaffen möchte, sondern die abstrakten gesellschaftlichen Strukturen auf einen Akteur projiziert, der dann stellvertretend als Personifikation dieser attackiert wird. Diese Form der Personifizierung wurde von Moishe Postone treffend als „Logik des Antisemitismus“ sowie von Reinhard Rürup als das „Zerrbild einer Gesellschaftstheorie“ beschrieben. Gegen RB Leipzig kommt diese Personifizierung beispielsweise zum Ausdruck, wenn tausende Fußballfans sich in schwarz kleiden und RB Leipzig für den „Untergang des Fu$$balls“ verantwortlich machen.
Zweitens: Die Kategorie des Strukturellen Antisemitismus ist ungeeignet, um den spezifischen Fall der Ressentimentkommunikation gegen RB Leipzig zu analysieren. In den bisherigen Beiträgen dieser [Tacheles]-Reihe zur Frage „Was ist Struktureller Antisemitismus?“ wurde dieser unter anderem als ein „Antisemitismus noch ohne Juden“ definiert, welcher „einem offenen Judenhass den Weg“ ebne. Typisch seien außerdem sprachliche Codes wie „die Ostküste“, welche Eingeweihte sofort als „die Juden“ verstehen würden. Auf den Fall RB Leipzig lassen sich diese Definitionen nicht übertragen. Nicht zuletzt, da viele der RB hassenden Fangruppierungen sich aktiv gegen Antisemitismus im Fußball engagieren, ebnen die antisemitischen Bestandteile der Ressentimentkommunikation gegen den Club weder einen direkten Weg zu einem manifesten Judenhass noch wird „RB Leipzig“ als Code benutzt, der eigentlich „die Juden“ meint.
Antisemitisches in der Demokratie
Es ist vor allem die Fankultur der Ultras, die sich radikal gegen RB Leipzig stellt. Für mein Buch Antisemitismus in Fußball-Fankulturen: Der Fall RB Leipzig habe ich mehr als 500 Aktionen wie Transparente, Banner und Boykotte sowie mehr als 50 Stellungnahmen von Fangruppierungen gegen RB Leipzig analysiert. Ultras sind besonders aktive Fans und wesentlich für die bunte und laute Atmosphäre in den Stadien verantwortlich. Sie engagieren sich für fanfreundliche Anstoßzeiten und für Mitbestimmung in den Fußballvereinen. Nicht wenige von ihnen setzen sich aktiv gegen Antisemitismus und Rassismus sowie für die Aufarbeitung der Rolle ihrer Vereine in der NS-Zeit ein. Es gibt auch rechtsoffene Gruppierungen, doch viele Ultras in Deutschland sind Teil einer zivilcouragierten, subversiven und demokratischen Jugendkultur.
Nicht zuletzt da einige Ultras sich offen gegen Antisemitismus positionieren, ist die antisemitische Ressentimentkommunikation gegen RB Leipzig weniger ein codierter oder latenter Antisemitismus. Vielmehr bietet der Fall RB Leipzig die Möglichkeit, „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ zu untersuchen, Adorno bezeichnete es 1959 „als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie”. Die Fallstudie RB Leipzig zeigt, wie tief antisemitische Bilder und Vorstellungen in die Mitte unserer Gesellschaft reichen – bis hinein in partiell anti-antisemitisch orientierte Jugendkulturen. Antisemitismus ist nicht das Problem der „Anderen“ – der Linken, der Rechten, der Islamist*innen usw. – sondern ein gesamtgesellschaftliches. Um den Antisemitismus in der Demokratie in den Blick zu bekommen, schlage ich in meinem Buch zwei Perspektivwechsel vor: Erstens plädiere ich für die Kategorie der antisemitischen Ressentimentkommunikation. Zweitens argumentiere ich für eine antisemitismuskritische Perspektive, die mehr sein soll als eine bloß anti-antisemitische Positionierung.
Antisemitische Ressentimentkommunikation und antisemitismuskritische Perspektive
Den Begriff der Ressentimentkommunikation verwende ich in Anlehnung an Julijana Ranc. In ihrem Buch Eventuell nichtgewollter Antisemitismus unterscheidet Ranc das Ressentiment vom Vorurteil, welches als „primär kognitive Kategorie“ dazu tendiere, Affekte auszublenden. Der Antisemitismus sei jedoch „mehr und anderes“ als ein „vorauseilendes Urteil“. Das Vorurteil als Kategorie öffne der Annahme Tür und Tor, es müsse nur widerlegt werden, um zur Einsicht zu gelangen, und birgt somit die Gefahr einer „Kausaltäuschung“: Demnach liegt es in der Verantwortung von Juden:Jüdinnen, ob jemand Vorurteile gegen sie hat oder nicht. Tatsächlich sei Antisemitismus jedoch die Vorstellung vom „Anderen“, unabhängig von der Realität und resistent gegen Erfahrungen.
Die Kategorie der „antisemitischen Ressentimentkommunikation“ hat drei entscheidende Vorteile: Erstens lenkt der Begriff „Ressentiment“ den Blick auf diejenigen, die Ressentiments äußern. Charakteristisch für den modernen Antisemitismus sind die Vorstellungen über das Objekt, auf welchen das Ressentiment projiziert wird. Man weiß immer schon alles darüber und keine Erfahrung kann das Ressentiment widerlegen. Entsprechend muss die Forschungsperspektive sich auf die sich antisemitisch Äußernden richten, anstatt darauf, wie Juden:Jüdinnen vermeintlich „sind“, um den Antisemitismus verstehen zu können. Der Begriff der „Kommunikation“ ermöglicht wiederum, die Forschungsperspektive auf die Äußerungen zu richten, anstatt auf die Personen, die Ressentimentgeladenes von sich geben. Hiermit kann die Gefahr einer Überbetonung der Motivation vermieden werden, wie sie häufig in Debatten über Antisemitismus vorkommt. Drittens wird das Substantiv „Antisemitismus“ zum Adjektiv „antisemitisch“. Anstelle einer Klassifizierung wie z.B. „RB Kritik ist Antisemitismus“ fokussiert sich das wie-wort „antisemitisch“ nicht auf die Frage, ob die Kommunikation Antisemitismus ist, sondern erzwingt die präzisiere und offenere Fragestellung, wie diese antisemitisch ist.
Des Weiteren schlage ich inspiriert von der Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt einen Perspektivwechsel von einer sich bloß abgrenzenden Anti-Antisemitismus-Haltung zu einem antisemitismuskritischen Blickwinkel vor. Anstelle einer sich ausschließlich distanzierenden Haltung soll eine kritische Perspektive im Vordergrund stehen, welche antisemitische Denk- und Argumentationsmuster in ihren Tiefendimensionen zu verstehen sucht, ohne dabei mit erhobenem Zeigefinger, auf die sich antisemitisch äußernden Subjekte zu zeigen. Da Antisemitismus, wie Adorno es 1959 ausdrückte, „fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern“, befreit eine allgemeine Abwehr (Anti-Antisemitismus) allein nicht von Elementen antisemitischen Denkens und Fühlens. Die Logik lautet viel zu oft: Wenn man gegen Antisemitismus ist, kann man nicht antisemitisch sein und muss sich folglich auch nicht allzu sehr damit beschäftigen, wie antisemitisches Denken und Fühlen funktioniert. Eine antisemitismuskritische Perspektive hingegen ermöglicht die Analyse von antisemitischem Denken und Fühlen über eine Abgrenzung gegen den Antisemitismus der „Anderen“ (Nazis, Neonazis, Islamist:innen…) hinaus.
Der Fall RB Leipzig zeigt, dass die Kategorie des Strukturellen Antisemitismus nicht per se in der Lage ist, Antisemitismus ohne Juden zu beschreiben. Um Antisemitisches „in der Demokratie“ zu analysieren, sind Forschungsperspektiven gefragt, welche stärker die Äußerungen anstatt der Intentionen der sich Äußernden in den Blick nehmen. Die Kategorie der „antisemitischen Ressentimentkommunikation“ sowie eine „antisemitismuskritische Perspektive“ können hierfür präzisiere Instrumente sein als die Kategorie des „Strukturellen Antisemitismus“.