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ZGO 2019

„Under Pressure“ – digitale Zivilgesellschaft unter Druck

©MaxThrelfall

Angesichts der massiven und gezielten Verbreitung von Desinformation und menschenverachtenden Aussagen im Netz steht die digitale Zivilgesellschaft zunehmend unter Druck. Das Ausmaß ist für viele überfordernd: „Wir sprechen mit vielen NGOs, Initiativen und Vereinen, die uns das bestätigen,“ so Mick Prinz, Projektleiter des Stiftungsprojekts Civic.net – Aktiv gegen Hass im Netz. „Bei Facebook, Twitter und Co. Präsenz zu zeigen, stellt vor allem für kleine Organisationen eine kaum zu meisternde Herausforderung dar. Die Sorge, in Hassstürme zu geraten, sich in kaum zu moderierenden Kommentarspalten wiederzufinden oder durch einen Berg aus Falschmeldungen wühlen zu müssen, ist groß.“ Dabei stehen nicht nur diejenigen unter Druck, die schon im Netz und längst Angriffen ausgesetzt sind, sondern auch jene, die gerne in Sozialen Netzwerken aktiv werden möchten – um sich an Diskussionen zu beteiligen, Menschenrechte zu verteidigen und eigene demokratische Inhalte zu setzen.

Doch warum ist das Netz für viele Menschen eine so toxische Umgebung? Mit welchen Strategien machen sich vor allem rechtsextreme und rechtspopulistische Akteur*innen Soziale Netzwerke zu eigen? Und warum ist es so wichtig, dass sich die Zivilgesellschaft nicht aus den digitalen Räumen zurückzieht?  Diese Fragen diskutierten wir am 12. April auf unserer Tagung „Under Pressure“.

Willkommen im „Infokrieg“ – digitale Gewalt als rechtsextremer Kulturkampf

Hate Speech und Desinformation sind im Netz gut organisiert. Häufig sind sie Teil einer Strategie rechtsextremer Gruppen. Der Kopf der Identitären Bewegung im deutschsprachigen Raum, Martin Sellner, sieht sich selbst in einer Art „Infokrieg“. Die Angriffe rechtsalternativer Akteur*innen auf die Zivilgesellschaft beschränken sich nicht nur auf den digitalen Raum, sondern finden sich auch in den Medien, Parlamenten und auf der Straße wieder. Das Konzept des „Infokriegs“ ist „Teil eines Kulturkampfes der Neuen Rechten gegen die liberale Demokratie, gegen das Grundgesetz“, so Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung. Sprache spielt zur Schaffung neuer Realitäten eine große Rolle. So werden rassistisch konnotierte Begriffe etabliert und demokratische Strukturen mit abwertenden Begriffen verächtlich gemacht. Das rechtspopulistische und rechtsextreme Framing ist längst in unseren Alltag übergegangen. Ziel ist es, die Meinungshoheit zu gewinnen, Diskurse zu dominieren und demokratisches Engagement zu diskreditieren. Durch die ständige Wiederholung sollen rassistische Begriffe, Bilder und damit Einstellungen normalisiert und die Grenzen des Sagbaren verschoben werden.

Für Miro Dittrich vom Stiftungsprojekt de:hate ist dieser Punkt bereits erreicht: „Die Grenze des Sagbaren hat sich schon lange verschoben, jetzt geht es um die Grenze des Machbaren“ (zitiert nach dem Journalisten Georg Restle). Dittrich erfasst unterschwellige Strategien, Erzählungen und die Bildsprache von Rechtspopulist*innen und Rechtsextremen im Netz. Viele Rechtsradikale bewegen sich im Internet in einer „unkorrigierbaren Parallelwelt“, in der sie davon überzeugt sind, dass in Deutschland keine Meinungsfreiheit gelte und der Staat das Volk abschaffen wolle. Sie eint der Glaube, so Miro Dittrich, dass Deutschland in eine Katastrophe, in seinen Untergang steuere. Diese Annahme suggeriert einen Handlungszwang, der tödliche Folgen haben kann: Denn es sind solche Internetwelten, in denen rechtsextreme Ideologien verbreitet werden und sich ihre Anhänger*innen rekrutieren. Hier radikalisierten sich der Rechtsterrorist von Christchurch und der Rechtsextremist, der 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete. Die Täter verfolgen das Ziel, Minderheiten und Demokrat*innen einzuschüchtern und Nachahmer*innen zu finden. Die mediale Kommunikationsstrategie des Rechtsterroristen von Christchurch zeigte erneut auf brutalste Weise, welche Bedeutung digitale Räume für die Radikalisierung haben.

Die Zivilgesellschaft steht angesichts dieser höchst bedrohlichen Entwicklungen unter Druck, diesen demokratische Inhalte entgegen zu setzen. Denn der Hass im Netz und die gezielten Desinformationskampagnen haben ganz konkrete gewaltvolle und im schlimmsten Fall tödliche Folgen. Am stärksten betroffen von Abwertung und Hass im Netz sind Kinder, Jugendliche, Minderheiten und Frauen, aber auch Politiker*innen, Journalist*innen und NGOs, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Digitale Gewalt kann sehr konkrete Folgen haben: Die Betroffenen isolieren sich, ziehen sich aus den Sozialen Medien zurück oder entwickeln psychische oder körperliche Erkrankungen. „Solidarität braucht bisher leider länger“, so Simone Rafael, Chefredakteurin bei Belltower.news. „Aber daran können wir arbeiten“. Das wünscht sich auch Anja Reuss vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: „Wir brauchen mehr Gegenrede im Netz, und das darf nicht auf den Schultern der Community selbst lasten“. Sie sieht „die breite Zivilgesellschaft in der Verantwortung“.

Digitale Räume als Orte der Meinungsbildung verteidigen

Auf der Konferenz „Zivilgesellschaft Online 2019“ (ZGO19) am 12. April in Berlin waren zahlreiche Initiativen und Einzelpersonen versammelt, die sich bereits gegen Desinformation und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Netz engagieren und Betroffenen zur Seite stehen. Da ist zum Beispiel die Gruppe #ichbinhier, in der sich Tausende Aktive in den Facebook-Kommentarspalten gegen Hasskommentare, Hetze und für eine bessere Diskussionskultur einsetzen. Oder die freie Journalistin Karolin Schwarz, die mit der Seite hoaxmap.org gegen Falschinformationen vorgeht. Aber auch Luise Meergans vom Deutschen Kinderhilfswerk, die betont, dass Kinder ein Recht auf digitalen Zugang haben – weshalb Erwachsene in der Pflicht seien, ihre Welt „auch online zu einem kinderfreundlichen Ort“ zu machen. Zwei Projekte der Amadeu Antonio Stiftung haben sich ebenfalls die Stärkung der digitalen Zivilgesellschaft zur Aufgabe gemacht: Civic.net vermittelt in Fortbildungen Strategien für den Umgang mit Hate Speech und möchte insbesondere NGOs ermutigen, demokratische Inhalte zu verbreiten; de:bate vermittelt in Workshops digitale Ansätze zur Intervention gegen Menschenfeindlichkeit.

Viele weitere Organisationen, Einzelpersonen und Aktivist*innen haben die Konferenz genutzt, um sich on- und offline auszutauschen. Siebentausend Menschen haben die Konferenz per Facebook-Livestream verfolgt. Zu der digitalen Zivilgesellschaft gehören letztlich all jene, die sich im Netz zu Wort melden und auf demokratische Weise in Diskussionen einbringen. Die digitale Zivilgesellschaft wächst. Angesichts der digitalen Aufstellung rechtsalternativer Akteure muss sie jedoch schnell wirkmächtiger werden. Das unterstreicht auch Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, in ihren Schlussworten: „Wir dürfen nicht nur reagieren, wir müssen proaktiv sein! Wir müssen uns eine Gesamtstrategie überlegen, wie wir eine relevante Größe im Netz sein können!“

Die digitale Zivilgesellschaft muss wirkmächtiger werden. Eine Hass verbreitende Minderheit darf nicht länger eine demokratische Mehrheit im Netz übertönen. Wenn die Zivilgesellschaft sich zunehmend aus den digitalen Räumen zurückzieht, überlässt sie die Räume den Rechtspopulist*innen und Rechtsextremen. Das ist gefährlich, denn das Internet ist heute ein wichtiger Ort der Meinungsbildung. Hate Speech und Desinformation sollten schon aufgrund der zahlreichen stummen Mitlesenden nicht unwidersprochen bleiben. Besonders wichtig ist es außerdem, sich im Netz solidarisch zu zeigen mit Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen, die von Hate Speech oder Diffamierungskampagnen betroffen sind.

Die ZGO19 hat unterstrichen, wie stark der Druck ist, dem demokratische Akteur*innen ausgesetzt sind. Auf der Konferenz wurde auch an Politiker*innen und Plattformtreibende appelliert, sie verstärkt darin zu unterstützen, die Verbreitung von menschenfeindlicher Hetze auf Facebook, Twitter und YouTube zu unterbinden. Dem „Hass gegen die Demokratie als System“ (Rafael) wird die Zivilgesellschaft inzwischen weiter den Kampf für eine offene Gesellschaft und unsere liberale Demokratie entgegensetzen – offline wie online.

Die ZGO 19 fand bei Alex Berlin statt und wurde von der OCCI und dem Deutschen Kinderhilfswerk unterstützt. Die Veranstaltung wurde im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie Leben“ gefördert.

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