Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Willst du mir vorlesen?

© Kita Lütt Matten

„Juchu, die Leseoma Schmidt kommt!“, tönt es durch Kindergärten und Schulen im Neubrandenburger Stadtteil Oststadt. Im Gepäck hat sie, wie jede Woche, ein spannendes Buch. Und diesmal auch ihre Gitarre.

Von Carlotta Voß

Die Leseoma ist Teil des Lesepat*innenprojekts der Initiative „Ein Quadratkilometer Bildung“. Regelmäßig gehen die Engagierten aus Neubrandenburg in Kindergärten und Schulen, bringen Bücher mit und lesen den Kindern daraus vor. Ihr Motto: „Kein Kind darf verloren gehen“. Gerade hier, wo viele Familien mit einem geringen Einkommen über die Runden kommen müssen und Unterstützung gut gebrauchen können, sind die Lesepatenschaften eine wertvolle Ergänzung zum pädagogischen Programm der Schulen und Kindergärten. „Man merkt, dass die Kinder die Lesepat*innen lieb gewinnen, sich auf sie freuen“, berichtet Thomas Evers, Initiator des Lesepat*innenprogramms. Er sieht auch einen großen Wert im Austausch zwischen den Generationen. „Die Kinder lieben das Leseprogramm, weil sie mal andere Erwachsene einer anderen Generation sehen und als besondere Gäste in ihren Kitas und Grundschulen empfangen“. Aber auch die Lesepat*innen, die meistens über 60 sind, profitieren von diesem übergenerationalen Austausch, denn hier können sie auch ihre eigenen Erfahrungen und Interessen weitergeben.

Nicht alle Kinder lesen zu Hause, häufig bestimmen Smartphones, Tablets oder Fernseher die Freizeitgestaltung. Neue Medien fesseln Kinder zwar oft schneller als Bücher, durch das fehlende Lesen geht jedoch ein riesiges Potential verloren. Denn Lesen fördert nicht nur Phantasie, Schreibkompetenzen sowie kognitive Fähigkeiten und das Gedächtnis. Das regelmäßige Lesen ist ein Schlüssel zum Bildungserfolg. Und dieser soll auch den Kindern in Neubrandenburgs Oststadt nicht verwehrt bleiben.

Die Lesepat*innen suchen sich deswegen Bücher aus, die sie den Kindern in kleinen Gruppen vorlesen wollen. „Wenn die Lesepat*innen neu in das Projekt kommen, wollen sie ihre Lieblingsbücher von früher lesen, aber dann merken sie, dass die weit weg sind von der Realität der Kinder heute“, berichtet Thomas Evers: „Da kamen auch einige hin, die dachten sie könnten jetzt Kant vorlesen!“
Aber schnell bemerkten sie mit Hilfe von einer Berliner Leseexpertin, dass das mit Kindergarten- und Grundschulkindern keine Option ist. In einer intensiven Schulung bereitet die Leseexpertin gemeinsam mit Evers, der selbst Sozialpädagoge ist, die Lesepat*innen auf ihren Einsatz vor. In den Vorbereitungsseminaren lernen die Engagierten auch, dass bei der durchschnittlichen kleinkindlichen Aufmerksamkeitsspanne von acht Minuten, kurze, lustige, bildreiche und aufmerksamkeitsfesselnde Geschichten genau das Richtige sind.

Durch Kooperationen mit der Stadt Neubrandenburg und der Regionalbibliothek ist im Laufe der Zeit ein praktisches Medienkistensystem für die vereinfachte Buchauswahl entstanden. Jede Einrichtung, die am Lesepat*innenprogramm teilnimmt, bekommt von der Bibliothek eine Kiste mit 30 Buchtiteln zur Verfügung gestellt. Dank eines Rotationssystems haben die Lesepat*innen immer neue spannende, und vor allem auch aktuelle Titel zum Vorlesen zur Hand.

Einige der Engagierten sind besonders kreativ, bringen neben den Büchern auch ihre Gitarren für das gemeinsame Musizieren mit oder haben über das Lesepate*innenprojekt ihre Liebe zum Kamishibai-Erzähltheater entdeckt. Hierbei begleiten die Lesepat*innen die vorgelesenen Geschichten mit bunten Bildern. Die Kinder werden mit diesem interaktiven Miniaturtheater schnell in den Bann der Bücher und Geschichtenwelten gezogen. „Die sind richtige Vorleseprofis geworden!“, erzählt Thomas Evers begeistert.

Auch jetzt, in Zeiten von Corona, haben die Engagierten es sich teilweise zugetraut, weiter vorzulesen – natürlich unter Einhaltung der Hygienebedingungen. Und über Mund-zu-Mund-Propaganda kommen sogar immer neue Lesepat*innen dazu, die dann nach und nach in die Einrichtungen reinwachsen können. Auch die Einrichtungen freuen sich sehr auf die Lesepat*innen, die dort immer warm empfangen werden. „Solche Menschen sind Goldstaub in einem Stadtteil“, findet Evers. Alle Lesepat*innen sind unheimlich engagiert und alle, die vor fünf Jahren im Projekt angefangen haben, sind noch immer dabei.

Auch Timo Reinfrank ist begeistert von dem Projekt. Die Amadeu Antonio Stiftung fördert gleich zwei Standorte des Projekts Ein Quadratkilometer Bildung, in Neubrandenburg und in Bernsdorf, bei Hoyersweda. „Unser Stiftungsfokus war in diesem Jahr auch auf die Themen Vielfalt und Empowerment gerichtet. Projekte wie Ein Quadratkilometer Bildung arbeiten aktiv gegen Segregation und Ausgrenzung“, so Reinfrank. Thomas Evers und sein Team aus Lesepat*innen engagieren sich für Kinder, die sonst leicht aus dem Blick der Mehrheitsgesellschaft fallen. „Man darf das Kümmerer-Image nicht den Rechtspopulisten und Rechtsradikalen überlassen“, findet Reinfrank. Umso wichtiger, dass Lesepat*innen des Projekts Ein Quadratkilometers Bildung dafür sorgen, dass alle Kinder mitgenommen werden, in die spannende Welt der Bücher und Geschichten.

Weiterlesen

HP Beitrag(3)
Aufruf

Wenig Zeit bis zur Bundestagswahl – Demokratie ist nicht verhandelbar! Wir fördern eure Projekte!

Im Superwahljahr 2024 hat eine rechtsextreme Partei in ostdeutschen Bundesländern hohe Stimmenanteile erzielt. Bei der kommenden Bundestagswahl droht die Gefahr, dass sie diesen „Erfolg“ über Ostdeutschland hinaus fortsetzt. Viele Initiativen und Bündnisse engagieren sich kreativ und mit langem Atem für ein solidarisches und demokratisches Miteinander. Die Zivilgesellschaft steht bundesweit weiterhin gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ein. Dieses stabile Engagement braucht es nunmehr denn je, trotz und gerade wegen aller Unsicherheiten.

449404093
Kommentar

Kommentar: Lohnt sich Demokratieförderung überhaupt?

Als die Correctiv-Recherchen Anfang 2024 publik wurden, gründeten sich bundesweit Initiativen, die zu Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus aufriefen. Sie mobilisierten Hunderttausende. Seitdem sind neue Initiativen und Bündnisse entstanden und Netzwerke gewachsen. Die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland blüht auf, wie lange nicht. Trotzdem erringt die rechtsextreme AfD starke Ergebnisse. Das enttäuscht und war doch vorhersehbar. Es braucht Zeit, die über Jahre entstandene rechtsextreme Hegemonie wieder aufzubrechen. Ein Kommentar.

Motiv 2024 für Webseite
In eigener Sache

#BerlinZeigtCURAge 2024 – Solidarisch mit Geflüchteten!

In Deutschland hat es Tradition, dass Minderheiten und marginalisierte Gruppen als Schuldige für gesellschaftliche Problemlagen herhalten müssen. Das Jahr 2024 hat dies mit einer Hochkonjunktur von Geflüchteten- und Migrationsfeindlichen Diskursen in Politik und Öffentlichkeit als Antwort auf sicherheits- und sozialpolitische Fragen wieder eindrücklich gezeigt. Mit der Kampagne “BerlinZeigtCURAge” lenkt die Amadeu Antonio Stiftung zum Ende des Jahres die Aufmerksamkeit darauf, welche Auswirkungen diese Stimmungsmache auf den Alltag Betroffener hat.

Mitmachen stärkt Demokratie

Engagieren Sie sich mit einer Spende oder Zustiftung!

Neben einer Menge Mut und langem Atem brauchen die Aktiven eine verlässliche Finanzierung ihrer Projekte. Mit Ihrer Spende unterstützen Sie die Arbeit der Stiftung für Demokratie und Gleichwertigkeit.