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Gefördertes Projekt

Mehr als Worthülsen – Schüler:innen erinnern an jüdisches Leben in Eisleben

© Stolpern MSH

von Charlotte Sauerland

Der 27. Januar hat wieder einmal gezeigt, dass sich die Mehrheitsgesellschaft hinter Worthülsen wie “#weremember” oder “Nie wieder!” versteckt, ohne wirklich gegen Antisemitismus einzustehen oder eine Erinnerungskultur zu etablieren, die kein “Gedächnistheater” ist. In Eisleben (Sachsen-Anhalt) wird das Problem angegangen: Motiviert gehen Schüler:innen hier gegen das Vergessen jüdischen Lebens in ihrer Stadt vor. 

In Eisleben in Sachsen-Anhalt leben heute keine Jüdinnen* und Juden*. Doch die Synagoge in der Nähe des Stadtparks von Eisleben zeugt vom ehemaligen jüdischen Leben in Eisleben. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es hier eine aktive jüdische Gemeinde. Im Rahmen der Novemberpogrome 1938 zerstörten die Nationalsozialist:innen große Teile der Synagoge und enteigneten die jüdische Gemeinde ein Jahr später. Die meisten Jüdinnen und Juden aus Eisleben wurden 1942 über einen Sammelort in einem Altenheim in Halle in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort ermordet. Diejenigen, die überlebten, kehrten nicht nach Eisleben zurück.

Digitaler Stadtrundgang gegen das Vergessen

Damit die nationalsozialistischen Verbrechen und das jüdische Leben in Eisleben nicht vergessen werden, haben sich Jugendliche vom örtlichen Martin-Luther-Gymnasium und vom Jugendclub Zeche mit den Geschichten jüdischer Familien aus Eisleben auseinandergesetzt. Marie (Name geändert), eine Schülerin aus der 12. Klasse, die am Projekt teilgenommen hat, hat sich zusammen mit zwei anderen Mitschülerinnen mit der Geschichte der Familie Rosenthal beschäftigt. Die Familie besaß in Eisleben mehrere Kaufhäuser, ein Sohn der Familie wanderte nach Amsterdam aus, die meisten wurden deportiert und ermordet. „Meiner Meinung nach sollte sich jeder mit dem Holocaust auseinandersetzen, gerade in Deutschland und gerade wegen des Antisemitismus, den es heute noch gibt”, erklärt Marie überzeugt.

Unterstützt werden die Jugendlichen bei ihrer Auseinandersetzung vom Kreis-, Kinder- und Jugendring Mansfeld-Südharz e.V.. Jürgen Frenzel, Projektleiter vom Kreisjugendring, berichtet: „Für die Schüler:innen  waren die Themen näher dran, sobald sie Namen und Familiengeschichten kannten und sie wussten, dass das alles hier vor Ort passiert ist.“ Aus den von den Jugendlichen angefertigten Audiobeiträgen, Stammbäumen und Fotos der Häuser, in denen die jüdischen Familien lebten und vor denen heute Stolpersteine liegen, wird ein digitaler Stadtrundgang erstellt, mithilfe der App Action Bound.

Am Martin-Luther-Gymnasium gibt es schon lange eine aktive Erinnerungsarbeit. Seit mehr als zehn Jahren organisieren engagierte Lehrer:innen einmal im Jahr eine Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz. „Im Lehrplan ist wenig Platz für die Behandlung der Shoah und des Antisemitismus. Wir haben uns als Geschichts und Philosophielehrer:innen dafür eingesetzt, dies intensiv zu behandeln.“ Erzählt Katrin Köhler, Geschichts- und Ethiklehrerin am Gymnasium. Die Schule kooperiert eng mit dem lokalen Synagogenverein. Seit 2002 setzt sich der Förderverein, der die Räumlichkeiten der Synagoge restauriert und Veranstaltungen durchführt, für den Erhalt der Synagoge und für die Erinnerung an das jüdische Leben in Eisleben ein. Der Verein wird von einem engagierten ehemaligen Lehrer des Martin-Luther-Gymnasiums geleitet.

Antisemitismus heute: Schmierereien und der Attentäter von Halle

Auch wenn keine Jüdinnen und Juden mehr in Eisleben leben – Antisemitismus gibt es heute noch, auch in Eisleben. Im Jahr 2015 hing ein Schweineohr an der Synagoge, 2019 wurden antisemitische Schmierereien auf dem nahegelegenen jüdischen Friedhof gefunden. Im Januar 2022 lag eine tote Ratte vor der Tür der Synagoge. Die Jugendlichen beschäftigen sich während des Projekts nicht nur mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern auch mit Antisemitismus heute.  Sie besuchen die jüdische Gemeinde in Magdeburg und schauen sich den Film „Mazel Tov Cocktail“ an.

Ein besonderes Gesprächsthema unter den Schüler:innen des Martin-Luther-Gymnasiums im Rahmen des Projekts war auch das Attentat von Halle im Jahr 2019. Denn der Attentäter von Halle ging hier zur Schule. Nur durch eine dicke Synagogentür wurde er im Oktober 2019 daran gehindert, jüdische Menschen in der Hallenser Synagoge zu ermorden. In seinem Video-Livestream zur Tat, sagte er „Ich glaube, der Holocaust ist niemals passiert“. Die Lehrerin Katrin Köhler kannte den Attentäter. „Ich war sehr erschrocken, als ich von dem Attentat hörte und ich mitbekam, dass es ein Schüler war, den ich kannte.” Frau Köhler und andere Lehrer:innen der Schule haben nach dem Anschlag mit den Schüler:innen eine Schweigeminute eingelegt. Sie vermitteln ihren Schüler:innen immer wieder, dass Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus keine Sache der Vergangenheit sind.

 

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