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70 Jahre Grundgesetz

Grundrechte verteidigen – ohne Wenn und Aber

Das Grundgesetz wird am 23. Mai 2019 70 Jahre alt. Ein Anlass zum Feiern, aber auch eine Mahnung – denn Grundrechte werden zunehmend in Frage gestellt. Gleichzeitig werden Menschenwürde, Gleichheitsprinzip und das Recht auf freie Entfaltung durch viele Initiativen in ganz Deutschland ausdauernd und kreativ verteidigt.

Das Grundgesetz wird 70 Jahre: „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes meinten es ernst. Sie wollten unbedingt, ohne Wenn und Aber, die größtmögliche Negation des Nationalsozialismus für alle Zukunft in eine gesetzliche, unveränderbare Norm gießen“, so Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. Die Einzigartigkeit dieser Errungenschaft wird erst vor dem geschichtlichen Hintergrund der Shoah verständlich: Nie wieder sollte sich das millionenfache Morden in Deutschland wiederholen. Heute gerät leicht in Vergessenheit, welche Aushandlungsprozesse der Entstehung des Grundgesetzes vorausgingen. Seine Normen waren alles andere als selbstverständlich. 70 Jahre später wird wieder an den Grundfesten der Demokratie gerüttelt. Laut der 2019er Mitte-Studie stimmen 35,6 % der Aussage zu, “Im nationalen Interesse können wir nicht allen die gleichen Rechte gewähren.” Gleichzeitig sind 93 % der Ansicht, die Würde und Gleichheit aller sollte an erster Stelle stehen. Während Grundrechte für Einige von Teilen der Bevölkerung abgelehnt oder entwertet werden, bleibt es notwendig, dass sich andere weiterhin für ihre Umsetzung im Alltag ohne Wenn und Aber stark machen.

Das Grundgesetz bietet uns Leitlinien für unser Zusammenleben. Die Amadeu Antonio Stiftung unterstützt seit über 20 Jahren Menschen in ihrem Einsatz für Demokratie und Grundrechte. Viele Initiativen engagieren sich pragmatisch, kreativ und sehr ausdauernd in ganz Deutschland. Und das sollte so bleiben: Denn nicht nur der Staat, sondern auch die Zivilgesellschaft muss darüber wachen, dass die Werte und Normen unseres Zusammenlebens eingehalten werden.

Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Der wohl bekannteste Artikel des Grundgesetz lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Infragestellung der Gleichwertigkeit verschiedener sozialer Gruppen ist mit diesem Artikel nicht vereinbar. Rechtsextreme und Rechtspopulist*innen stellen die Gleichberechtigung aller Menschen jedoch in Frage, indem sie bestimmte Gruppen aus ihrer Vorstellung einer ethnisch-homogenen Gemeinschaft ausschließen. So werten sie Muslim*innen ab und schüren mit dem Gerede vom „großen Bevölkerungsaustausch“ völkisch-rassistisches Denken. Die Menschenwürde ist unvereinbar mit allen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sei es Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Sexismus, Homo- und Trans*feindlichkeit sowie Obdachlosen- und Behindertenfeindlichkeit.

Das Projekttheater Dresden reagiert auf die immer häufiger auftretenden rassistischen Äußerungen in der Gesellschaft mit einem von der Stiftung geförderten Theaterstück, das die Sprache der “Neuen” Rechten aufzeigt und davor warnt, wie sie unsere Kommunikation beeinflusst. Das Projekt „Gemeinsam Gesellschaft Gestalten“ des Drop In e.V. regt Jugendliche mit Fluchterfahrung zur Beteiligung an zivilgesellschaftlichem Engagement an und hilft ihnen, gegen rassistische Anfeindungen einzustehen.

Artikel 2: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Sinti und Roma, Muslim*innen, Jüd*innen, Homosexuelle, Obdachlose und andere Minderheiten erleben häufig Anfeindungen und Bedrohungen im öffentlichen wie privaten Raum. Auch in den Sozialen Medien nimmt die Hetze gegen (vermeintliche) Angehörige dieser Gruppen zu. Beleidigungen und tätliche Angriffe richten sich zwar oft an einzelne Personen, gemeint sind aber die ganzen Gruppen. Rechte Gewalttaten sind Botschaftstaten und sollen in den betroffenen Gemeinschaften zu Angst und Unsicherheit führen. Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt, aber auch bereits die Angst davor, schränken so die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ein – beispielsweise, wenn Betroffene bestimmte Gegenden meiden, nicht mehr allein aus dem Haus gehen oder Anfeindungen befürchten, wenn sie sich nur äußern.

Die Stiftung unterstützt regelmäßig Projekte wie die Jugendbegegnung „Dikh angle! Nach vorne schauen!“ von Amaro Drom e.V. Junge Rom*nja und Sinti*zze setzten sich mit der Verfolgung im Nationalsozialismus auseinander und lernen so über ihre eigene Geschichte, über die weder zuhause noch in der Schule gesprochen wurde. Wer aus der Vergangenheit lernt, kann für die Zukunft handeln – so werden Gemeinschaftsgefühl und Selbstbestimmung gestärkt.

Artikel 3: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

Rassismus, Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sind in der gesamten Bevölkerung weit verbreitet. Dies betrifft gesamtgesellschaftliche wie staatliche Strukturen. So haben Menschen aufgrund ihrer (vermeintlichen) Herkunft mehr Probleme auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. People of Color werden allein aufgrund äußerer Merkmale häufiger von der Polizei kontrolliert (racial profiling). Und bei den Morden des NSU-Trios wurde aus rassistischen Gründen viel zu lange in die falsche Richtung ermittelt. Mit dem Gleichheitsprinzip ist all das nicht vereinbar.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist von der Gleichwertigkeit aller Menschen überzeugt. Wir setzen uns für die Rechte und den Schutz von Minderheiten ein. Mit dem Opferfonds CURA unterstützt die Stiftung beispielsweise Menschen, die rechte Gewalt erlebt haben, finanziell in der Wahrnehmung ihrer Rechte. Dies ermöglicht den Betroffenen, zivilrechtliche Schritte gegen politisch motivierte Angreifer*innen einzuleiten.

Artikel 4: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich .

Die Religionsfreiheit ist in Artikel 4 des Grundgesetzes festgelegt. Rechtspopulist*innen und Rechtsextreme legitimieren ihre Hetze gegen Muslim*innen mit der angeblich drohenden „Islamisierung des Abendlandes“. Sie hetzen gegen den Bau von Moscheen – in diesem Zusammenhang kommt es häufig zu Schändungen, Angriffen und Drohungen – und polemisieren in Debatten über den Verzicht von Schweinefleisch in Schulkantinen. Dadurch schüren sie ein Klima des Hasses, das Muslim*innen in Deutschland in konkreten Anfeindungen und Übergriffen erleben. Auch jüdische Menschen sind in Deutschland Diskriminierung ausgesetzt: Antisemitismus zeigt sich u.a. in der Beschneidungsdebatte, in der Schändung von jüdischen Friedhöfen und in Anschlägen auf Synagogen.

Die Amadeu Antonio Stiftung setzt sich gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ein. Diese kann sich auch gegen Angehörige einer Religion richten – oder gegen Menschen, die dieser vermeintlich angehören. Diese Anfeindungen werden unter anderem sichtbar in den übertriebenen Forderungen nach völliger Anpassung an eine “christlich-jüdische Kultur”, in Verschwörungsideologien mit antisemitischem Kern oder Eroberungsphantasien. Wir möchten Menschen darin unterstützen, Vorurteile und Ressentiments angesichts von Jüd*innen und Muslim*innen zu erkennen und im Gespräch mit anderen zu benennen und aufzulösen. Aus diesem Grund unterstützt die Stiftung gerne Projekte wie die des AStA Eberswalde, der ein „Argumentationstraining gegen Rechts“ organisiert hat. Teilnehmende konnten dort lernen, die eigene Haltung klar zu vertreten und sich deutlich gegen Menschenfeindlichkeit zu positionieren.

Artikel 5: Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.

Die systematische Hetze gegen Journalist*innen in Europa nimmt aktuell zu. Rechtsradikale und Rechtspopulist*innen wollen mit gezielten Kampagnen die Diskurse bestimmen und die Deutungshoheit erlangen. Unter dem Vorwurf der „Lügenpresse“ stacheln sie regelmäßig gegen Medienschaffende auf. Laut Reporter ohne Grenzen ist die Zahl der tätlichen Angriffe gegen Journalist*innen 2018 gestiegen. Insbesondere am Rande rechtspopulistischer Veranstaltungen und Kundgebungen sei es zunehmend zu Gewalt gekommen. Auch durch geplante Gesetzesentwürfe werde die journalistische Arbeit zunehmend erschwert. Die Freiheit der Berichterstattung ist eingeschränkt, wenn Journalist*innen um ihre Sicherheit fürchten müssen und deshalb nicht über menschenfeindliche Einstellungen und Gruppen berichten können.

Die Stiftung stärkt Nachwuchsjournalist*innen darin, sich inhaltlich mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus auseinander zu setzen. Auf den von der Stiftung geförderten Jugendmedientagen setzten sich die Journalist*innen von morgen u.a. mit dem Thema „Vielfältiger und objektiver Journalismus und Berichten über schwierige Themen“ auseinander. Auch der von der Stiftung geförderte Mediendienst Integration, der sich für eine differenzierte und sachliche Auseinandersetzung mit den Themen Flucht, Asyl und Migration einsetzt, wird von der Stiftung gefördert. Die Anlaufstelle für Journalist*innen begegnet rechtspopulistischen Falschmeldungen und migrationsfeindlichen Debatten mit fundierten Informationen.

Das Grundgesetz verteidigen und verbessern

Das Grundgesetz muss verteidigt und gelebt werden. Gleichzeitig sollte es die Weiterentwicklung nicht scheuen. Der Begriff „Rasse“ ist fehl am Platze, weil er Rassismus reproduziert und Betroffene verletzt. Er muss gestrichen werden. Ergänzt werden sollte im Gleichheitsartikel hingegen die sexuelle Identität. Außerdem ist es ein lange überfälliger Beschluss des Koalitionsvertrag, dass die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. Die Amadeu Antonio Stiftung setzt sich seit Langem dafür ein, u.a. im Rahmen der National Coalition (Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskovention e.V.). Im Alltag vieler Kinder und Jugendlichen bleiben die Kinderrechte bisher unberücksichtigt. Artikel 2 besagt, dass die Gleichbehandlung „ausnahmslos für jedes Kind“ gilt. Bei „politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Entscheidungen sollen die Interessen und Belange der Kinder vorrangig berücksichtigt“ werden, das legt Artikel 3 fest. Darüber hinaus wird Kindern ein Beteiligungsrecht in Angelegenheiten, die sie betreffen, zugeschrieben. Das ist wichtig, denn dem Schutz und der Stärkung aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sollte in unserer Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit zuteil werden.

Kinderrechtsbildung ist gleichzeitig Demokratiebildung. Kinder lernen auf diese Weise nicht nur ihre eigenen, sondern auch die Rechte anderer Menschen kennen und achten. Das Demokratische JugendFORUM Brandenburg e.V. hat gemeinsam mit dem Verein Schlaglicht e.V. das Projekt „Meine Meinung. Deine Meinung – Gleiche Chancen für alle“ auf den Weg gebracht. Ziel des von der Stiftung geförderten Projekts ist es, schon im Grundschulalter präventiv gegen rechtsextremes Gedankengut vorzugehen. Anhand der Arbeit mit Filmen soll es den Kindern ermöglicht werden, sich eine eigene Meinung zum Sachverhalt Chancengleichheit zu bilden.

Wenn Kinder lernen, zu selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Menschen heranzuwachsen, können sie für die Gleichwertigkeit aller Menschen einstehen. Das wirkt sich langfristig positiv auf unser gesellschaftliches Zusammenleben aus. Die effektive Durchsetzung der Kinderrechte trägt somit auch zum Schutz der Demokratie vor Rechtspopulismus und Rechtsextremismus bei. Der Zustand der Demokratie bemisst sich immer daran, inwiefern das Grundgesetz umgesetzt wird. Wir alle müssen uns weiter dafür einsetzen.

 

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