Liebe Leserinnen und Leser,
als die Feierlichkeiten zur Deutschen Einheit vor 29 Jahren in Berlin begannen, gab es jede Menge vorzubereiten. Eine Bühne wurde vor dem Reichstag aufgebaut, das Gelände vor dem großen Feuerwerk und den Ansprachen von Helmut Kohl und Willy Brandt musste abgesichert werden, Straßen wurden gesperrt. Eben alles, was so zu tun ist, wenn ein Großereignis ansteht. Und dann noch dieses. Die meisten Menschen freuten sich über den rasch vollzogenen Schritt zur Vereinigung, viele fanden es nicht so gut – sie hätten gern mehr und länger in der DDR ihre Selbstwirksamkeit erfahren. Sie wollten nach der Diktatur mit eigener Kraft, eigenen Ideen und eigenen Erfahrungen ihr Leben in diese neue Epoche starten. Deshalb war die Stimmung an diesem Abend nicht ungebrochen gut.
Für uns, eine kleine Gruppe Engagierter, die nun dem offenen Rassismus in der Stadt entgegenzutreten hatten, war da nichts ungebrochen oder feierlich. Wir waren mit anderen Dingen beschäftigt. In den vorangegangenen Monaten war es immer wieder zu schweren rassistischen Übergriffen gekommen. Wir fürchteten, dass es durch die Nacht des Einheitstaumels hindurch zu weiteren Angriffen auf Migranten kommen würde. Also setzten wir uns mit den Polizeistationen in Kontakt, damit sie besonders gefährdete Gegenden im Auge behalten. Außerdem versuchten wir eine Telefonkette einzurichten, was sehr schwer war, weil es im Osten wenig Telefone gab und sie nicht mit dem Netz im Westen verbunden waren.
Wir haben rund um die Uhr in Schichten im Büro der Ausländerbeauftragten, das war ich in der Zeit, Wache gehalten mit einem riesigen Funktelefon, das beide Netze kannte. Das Feuerwerk und die Reden darüber, dass nun zusammenwächst, was zusammengehört, haben wir verpasst. Es bildete nur ein Hintergrundgeräusch vor der Wachsamkeit und Sorge. Tatsächlich konnten wir in dieser Nacht einigen Leuten helfen. Sie riefen an, wir verständigten die Polizei. Die Bilanz: viele Vorfälle, Beleidigungen, Rempeleien, einige Verletzte, niemand schwer, gottseidank.
Am nächsten Morgen war alles wie immer, aber Deutschland nun vereinigt. Die Deutschen mit den Deutschen. Sie hatten einander zugejubelt vor dem Reichstag. Allen anderen gab man zu verstehen, dass sie nicht dazugehören. Die ehemaligen Gastarbeiter West und die Vertragsarbeiter Ost haben das sehr schnell verstanden. So, wie die Juden aus der Sowjetunion. Der Volkskammerbeschluss, der ihre Flucht in die DDR ermöglichte, wurde nicht in den Einigungsvertrag aufgenommen. Keine Ausländer – das war die klare Botschaft. Egal warum und wie lange sie schon da waren.
Dies geschah lange vor der AfD, lange vor der Treuhand, der Arbeitslosigkeit, den Abgehängten. Es war die Nacht der Geburt einer neuen Nation.
Seitdem hat sich vieles verändert und manches ist gleichgeblieben. Jahrzehnte nach dieser denkwürdigen Nacht gibt es noch immer rassistische Angriffe, ja, sogar eine Partei, die damit Wählerstimmen gewinnt. Vieles aber ist auch besser geworden. So schlecht die Ausgangsbedingungen waren, wir sind jetzt mehr als der kleine Haufen, der damals im Büro saß und mit einem fetten Funktelefon versuchte, dem Notfall vorzubeugen.
Wer heute sagt, die Gesellschaft sei gespaltener als früher, hat damals nicht richtig hingesehen. Die Tatsache, dass wir mehr geworden sind, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren, führt zu stärkeren Diskussionen, weil auch unsere Stimmen kraftvoller sind. Klar, dass in dem auf diese Weise vereinten Deutschland mit seiner unverdauten Vergangenheit auch die Gegenstimmen heftig sind. Sie reagieren auf unser aller Erfolge in vielen Bereichen des Lebens. Wir haben viel geschafft seit der Nacht vor bald 30 Jahren. Dass die Rechtsextremen sich dagegen wehren, ist kein Wunder. Davon sollten wir uns weder abschrecken noch ablenken lassen. Sondern unerschrocken weitermachen.
Herzliche Grüße,
Ihre Anetta Kahane