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Hintergründe

Rechtsgutachten stärkt sächsischen Vereinen den Rücken: Auch wer staatliche Fördermittel erhält darf vor rechtsextremer Politik warnen

Welche Verpflichtungen erwachsen Organisationen der Demokratie- und Jugendarbeit als Empfängern von Fördermitteln? Welche Kompetenzen hat der sächsische Rechnungshof zur Beantwortung dieser Frage? Die Cellex Stiftung hat, unterstützt von der Freudenberg Stiftung, der Schöpflin Stiftung und der Amadeu Antonio Stiftung, ein Gutachten in Auftrag gegeben, das diesen Sachverhalt geprüft hat.

Ausgangslage und Hintergrund des Gutachtens

Zivilgesellschaftliche Organisationen werden von der öffentlichen Hand (Bund, Ländern, Gemeinden) auf vielfältige Weise unterstützt. Sei es durch die steuerliche Bevorzugung bei Gemeinnützigkeit, sei es durch die Ausreichung von Projektmitteln. Seit Jahren gibt es juristische Auseinandersetzungen darüber, welche Verpflichtungen die Organisationen über die genauen Bedingungen der Fördermittelvergabe hinaus haben. Sind sie dazu verpflichtet, ein sogenanntes Neutralitätsgebot einzuhalten? Ergibt sich daraus die Pflicht, alle gewählten Parteien gemäß ihrer Bedeutung annähernd gleich zu behandeln?

In Sachsen waren diese Fragen Gegenstand im 2. Untersuchungsausschuss („Mutmaßlich rechtswidrige Förderpraxis bei Asyl- und Integrationsmaßnahmen…“) des Sächsischen Landtags sowie im Sonderbericht des Landesrechnungshofes. Unter Verweis auf diesen 150-seitigen Bericht hat die Cellex Stiftung den renommierten Staats- und Verwaltungsrechtler Prof. Dr. Friedhelm Hufen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz a.D., um gutachterliche Stellungnahme gebeten.

Das Gutachten steht hier zum Download bereit.

Kernaussagen des Rechtsgutachtens

Zusammenfassend kommt Prof. Dr. Hufen zu folgenden Ergebnissen:

  1. Der Landesrechnungshof hat übergriffig gehandelt. Er ist vom Gesetzgeber nicht dazu befugt, Ausführungen zum Neutralitätsgebot und zur Chancengleichheit politischer Parteien zu verfassen. Gemäß Art. 100 der Verfassung des Freistaates Sachsen und § 88 SächsHO obliegt dem SRH die Prüfung der gesamten Haushalts- und Wirtschaftsführung des Freistaates. Gemäß § 91 SächsHO ist der SRH auch ermächtigt, bei Stellen außerhalb der Staatsverwaltung, z.B. Zuwendungsempfängern, zu prüfen. Die Prüfungen erstrecken sich grundsätzlich auf die bestimmungsgemäße und wirtschaftliche Verwaltung und Verwendung der Haushaltsmittel. Mit dem Sonderbericht hat der SRH seine Kompetenzen weit überschritten.
  2. Die politische Nähe eines schon im Titel auf Soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgerichteten Ministeriums zu auf dieselben Ziele gerichteten gesellschaftlichen Vereinigungen ist kein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot, sondern geradezu sachimmanent.
  3. Politische Bildung und Demokratiearbeit sind stets auf ethische Werte und Verfassungsziele gerichtet und deshalb nie „neutral“. Auch sind sie Ausdruck der streitbaren Demokratie und verpflichtende Staatsaufgabe, die auch und gerade durch private Organisationen wahrgenommen werden kann.
  4. Die Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses ist ein herausragendes Verfassungsprinzip. Sie darf nicht durch Neutralitätsgebot und Chancengleichheit der Parteien verkürzt werden. Beide Verfassungsgüter dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
  5. Die öffentliche Finanzierung privater Initiativen bedeutet nicht, dass deren Äußerungen zu solchen des Staates werden. Die privaten Träger sind weder Instrument noch „Sprachrohr“ des Ministeriums und auch nicht in gleichem Maße an ein – wie auch immer definiertes – Neutralitätsgebot und die Chancengleichheit der Parteien gebunden.
  6. Die Bildungsarbeit freier Träger darf Gefahren für die Menschenwürde, für die freiheitliche demokratische Grundordnung, für die Grundrechte und für Staatsziele wie den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen und europäische Einigung auch und gerade dann abwehren, wenn diese Gefahren von Programmen politischer Parteien ausgehen.
  7. Weder das Neutralitätsgebot noch die Chancengleichheit politischer Parteien verbieten die sachliche Auseinandersetzung mit diesen – auch wenn die entsprechende Partei oder führende Funktionäre konkret benannt werden.

Das Gutachten von Prof. Dr. Hufen klärt wichtige verfassungsrechtliche Streitpunkte und zeigt, dass das Neutralitätsgebot für Empfänger staatlicher Fördermittel genau definiert ist. Es stärkt zivilgesellschaftliche Organisationen bundesweit und erlaubt ihnen, sich auch kritisch gegen die AfD zu positionieren, ohne ihre Fördermittel zu gefährden. Gleichzeitig wird das Sondergutachten des sächsischen Rechnungshofs kritisiert, da es seine Kompetenzen überschritten und sich in Fragen eingemischt hat, die nicht in seinen eigentlichen Zuständigkeitsbereich fallen. Ministerien und zivilgesellschaftliche Organisationen haben unterschiedliche verfassungsrechtliche Rollen, und die Kontrolle staatlicher Förderung darf sich nicht auf die Inhalte der Meinungsäußerungen beziehen. Vereine können nicht gezwungen werden, politische Parteien in Veranstaltungen einzubeziehen, die nicht dem Zweck der Veranstaltung entsprechen. Das Gutachten stärkt damit vor allem die Position der Vereine und Stiftungen und empfiehlt der Bundesregierung, bei der Überarbeitung der gesetzlichen Vorgaben die Ausführungen zu berücksichtigen.

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