Der fünfjährige Ercan starb am 17. November 1990 bei einem Brandanschlag auf ein von türkischstämmigen Menschen bewohntes Haus in Kempten im Allgäu.
Die Tat
In der Nacht vom 17. November 1990 starb der fünfjährige Ercan bei einem Brandanschlag auf ein Wohnhaus in der bayerischen Stadt Kempten. Gegen 2:45 Uhr drangen Unbekannte in das Wohnhaus ein, verschütteten und entzündeten eine brennbare Flüssigkeit vor zwei Wohnungen im zweiten und dritten Stock. Die sechsköpfige Familie S. lebte damals mit anderen Menschen türkischer Herkunft in dem dreistöckigen Haus am Rande der Kemptener Innenstadt. Die Familie wurde durch das Feuer geweckt. Die Hausbewohner*innen konnten sich größtenteils durch Sprünge aus den Fenstern retten – einige verletzten sich dabei schwer. Ein Familienmitglied versuchte noch vergeblich, seinen fünfjährigen Bruder zu retten. Das jüngste Mitglied der Familie S. wurde von der Feuerwehr aus dem noch brennenden Haus gebracht und starb kurze Zeit später im Krankenhaus an den Folgen einer Rauchvergiftung.
Ignorierte Spuren: Behördliches Versagen und rassistische Motive
Kurz nach dem Brand bekam die Allgäuer Zeitung ein Schreiben zugeschickt, in dem sich eine selbsternannte „Anti Kanaken Front Kempten“ zu dem Brand bekannte. In dem Schreiben, das mit Runen und Hakenkreuzen verziert war, hieß es: Der „von uns verübte, sehr erfolgreiche Anschlag auf das von Türken bewohnte Haus in der Füssener Straße war erst der Anfang.“ Und weiter: „Wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist.“ Die Ermittlungsbehörden trafen eine folgenschwere Entscheidung: Sie stuften das explizit rassistische Bekennerschreiben der „Anti-Kanaken-Front Kempten“ seinerzeit als Tat eines Trittbrettfahrers ein und legten es beiseite.
Dieses Vorgehen wirft angesichts der gängigen Begründungsmuster der Behörden grundlegende Fragen auf: In unzähligen anderen Fällen wird das Fehlen eines solchen Hinweises – damals wie heute – oft geradezu mantramäßig als Beleg gegen ein rechtes Tatmotiv angeführt. Im Fall Kempten jedoch wurde die Existenz eines eindeutigen Bekennerschreibens zum Anlass genommen, die Spur zur rechten Szene zu ignorieren. Dieses Versagen bei der korrekten Einordnung des Motivs führte dazu, dass die Tat als ungelöstes Verbrechen in den Akten verschwand und Ercans Tod bis zum heutigen Tag, mehr als drei Jahrzehnte später, ungesühnt blieb.
Die Polizei nahm nach dem Brandanschlag die Ermittlungen auf – jedoch nicht wegen Mordes oder Totschlag, sondern nur wegen Brandstiftung. Trotz des Bekennerschreibens wurde von den Behörden im Wohnumfeld der Betroffenen ermittelt, da sie von einem Streit in der Nachbarschaft ausgingen – ein ähnliches Verhalten wie bei den Ermittlungen zu den NSU-Morden. Wenige Häuser vom Tatort entfernt wohnte damals ein bekannter Neonazi – auch er wurde durch die Staatsanwaltschaft nicht überprüft. Die Staatsanwaltschaft Kempten stellte das Ermittlungsverfahren bereits im August 1992 ergebnislos ein.
Ein langer Kampf um Gerechtigkeit: Von Hanau zur Wiederaufnahme und erneuten Stagnation
Es war der rassistische Anschlag von Hanau am 19. Februar 2020, der für Ercans Schwester einen Schlüsselmoment darstellte und sie dazu veranlasste, die Frage zu stellen, ob auch der Brand in Kempten ein rechtsmotiviertes Verbrechen gewesen sein könnte. Dieser neue Blick auf die Tat lenkte auch die Aufmerksamkeit auf die damalige gesellschaftliche Wahrnehmung und das Versagen der Behörden, rassistische Motive ernst zu nehmen. Nachdem der Tagesspiegel und Zeit Online den Fall Anfang Oktober 2020 in ihrer Langzeitrecherche zu Todesopfern rechter Gewalt genannt und zu dem Bekennerschreiben recherchiert hatten, nahm die Generalstaatsanwaltschaft München die Ermittlungen wieder auf. Es wurde eine Sonderkommission gebildet, der Tatvorwurf lautet nun nicht mehr Brandstiftung, sondern Mord. Auch steht das Bekennerschreiben nun im Fokus der Ermittlungen. Die Polizei wendete sich mit einem Zeug*innenaufruf an die Öffentlichkeit.
Doch auch diese neuerlichen Ermittlungen brachten keinen Durchbruch und wurden im April 2023 erneut eingestellt. Laut dem Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft war die damalige Einstufung der Tat falsch; hätte man sie als Mord eingestuft, wären heutige Ermittlungen wesentlich leichter gewesen.
Vernichtete Beweismittel und die bleibende Forderung nach Wahrheit
Die verfehlte Einstufung der Tat als Brandstiftung, und nicht als Mord, hatte verheerende Konsequenzen: Durch das Eintreten der Verjährung nach 20 Jahren wurden wichtige Beweismittel vernichtet. Unwiederbringlich verloren sind heute das Original-Bekennerschreiben und der darauf gesicherte einzige Fingerabdruck, dessen Abgleich – dank heutiger Technik – vielleicht Klarheit bringen könnte. Obwohl polizeiliche Profiler mittlerweile einen Hintergrund des Täters in der Neonazi-Szene für wahrscheinlich halten, kämpfen die Angehörigen Ercans weiterhin unermüdlich für eine konsequente und lückenlose Aufklärung. Ihre Forderung ist klar: Das rassistische Motiv des Anschlags muss anerkannt und der Mord an Ercan endlich als das benannt werden, was er war – eine rassistische Tat. Darüber hinaus erwarten sie eine offizielle Entschuldigung für die Versäumnisse bei den ursprünglichen Ermittlungen, die eine ergebnisoffenere Untersuchung von Anfang an verhindert haben.
Fehler, Verjährung, Widerstand: Der steinige Weg zur Wahrheit
Der Fall Ercan ist leider kein Einzelfall und zeigt Parallelen zu zahlreichen Cold Cases rassistischer Gewalt in Deutschland.
Das ungesühnte Schicksal Ercans reiht sich ein in eine lange Liste ungesühnter Verbrechen und Fälle, in denen das rassistische Motiv ignoriert wurde, darunter:
- 1992, Hörstel: Der Mord an Erich Bosse blieb ungesühnt.
- 1992, Lampertheim: Beim Brandanschlag starben die Familie Mulatta/Zeenai (drei Opfer). Hier wurden zwar Täter verurteilt, das rassistische Motiv wurde aber vom Gericht ignoriert.
- 1994, Köln: Beim Brandanschlag starben Jasminka Jovanović und Raina Jovanović. Die Ermittlungen wurden eingestellt, obwohl ein wegen Brandstiftung mehrfach vorbestrafter Verdächtiger bekannt war.
- 1994, Stuttgarter Geißstraße: Bei dem Brandanschlag starben 7 Menschen. Hier wurden zwar Täter verurteilt, das rassistische Motiv floss aber nicht in die Urteilsfindung ein.
- 1994, Paderborn: Beim Brandanschlag starb Alexandra Rousi. Der Täter wurde zwar verurteilt, das rassistische Motiv wurde jedoch ignoriert, trotz rassistischer Drohungen.
- 1996, Lübeck: Der Brandanschlag mit 10 Toten blieb ungesühnt.
Und dennoch bleibt die Hoffnung, dass diese Fälle doch noch aufgeklärt werden können. Diese Hoffnung ist oft der Zivilgesellschaft und investigativen Journalist*innen zu verdanken, die beharrlich Druck auf die Behörden aufbauen.
Ein wichtiger Beleg dafür ist die späte Aufklärung im Fall Samuel Yeboah: Der 27-jährige Ghanaer starb am 19. September 1991 in Saarlouis bei einem rassistischen Brandanschlag. Lokale zivilgesellschaftliche Akteure vor Ort, wie die Organisationen Aktion 3.Welt Saar und der Saarländische Flüchtlingsrat, widersprachen 30 Jahre lang der offiziellen Verweigerung der Anerkennung des rassistischen Mordes und hielten die Erinnerung wach. Dieser Druck trug maßgeblich dazu bei, dass sich 2019 eine Zeugin meldete und im Gegensatz zu den 1990er Jahren konsequente Ermittlungen eingeleitet wurden. Ein Täter wurde im Oktober 2023 zu sechs Jahren und zehn Monaten Jugendstrafe verurteilt.
Der politische Erfolg umfasste zudem die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, eines Opferentschädigungsfonds, die neue Stelle eines Anti-Rassismusbeauftragten und die öffentliche Ausstellung der Gedenktafel an Yeboah im Rathaus von Saarlouis. Trotz dieses Erfolges blieb die Aufklärung unvollständig, da der mutmaßliche Anführer der Neonazi-Szene freigesprochen wurde und der Anschlag bis heute nicht konsequent als rassistischer Fall geführt wird.
Diese Fälle zeigen, wie langwierig und mühsam der Weg zur Gerechtigkeit ist und dass eine konsequente und sensible Verfolgung rassistisch motivierter Taten von Anfang an über das Schicksal der Opfer und Angehörigen entscheidet. Zudem wird deutlich, wie wichtig die kontinuierliche Erinnerungsarbeit an diese Menschen durch lokale und überregionale Gedenkinitiativen ist.
Gemeinsam Erinnern
Angehörige und Menschen, die Ercan kannten, sind herzlich eingeladen, sich bei uns zu melden. Ihre Geschichten machen das Bild des Verstorbenen persönlich und sind für die Aufarbeitung und die Erinnerung von unschätzbarem Wert.
Weiterführende Infos
Einen detaillierten Podcast zu dem Fall, „Ercans Tod: Eine offene Wunde“, kann man hier nachhören. https://www.sueddeutsche.de/panorama/sz-podcast-das-thema-ercans-tod-eine-offene-wunde-1.5956386
Begründung: Verdachtsfall Todesopfer rechter Gewalt
Der tragische Tod des fünfjährigen Ercan S. beim Brandanschlag in Kempten am 17. November 1990 wird von der Amadeu Antonio Stiftung aufgrund der dokumentierten Umstände als Verdachtsfall Todesopfer rechter Gewalt geführt.
Das zentrale Versäumnis der ursprünglichen Ermittlungen lag in der vorschnellen und grob fehlerhaften Ignoranz des rassistischen Tatmotivs. Trotz des eindeutigen Bekennerschreibens der selbsternannten „Anti Kanaken Front Kempten“, das mit rassistischen Parolen und Symbolen verziert war, stufte die Staatsanwaltschaft den Fall als einfache Brandstiftung und das Schreiben als irrelevanten Trittbrettfahrer-Hinweis ein.
Diese eklatanten Ermittlungsfehler – darunter die fehlende Überprüfung bekannter Neonazis und die Nicht-Einstufung als Mord – verhinderten eine konsequente Aufklärung von Anfang an. Infolgedessen trat die Verjährung ein, was zur Vernichtung entscheidender Beweismittel führte, wie dem Original-Bekennerschreiben und dem darauf gesicherten Fingerabdruck. Da das rassistische Motiv somit nie ergebnisoffen untersucht wurde und heute selbst polizeiliche Profiler einen Hintergrund in der Neonazi-Szene für wahrscheinlich halten, kann ein rassistisches Motiv für Ercans Tod nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden.
Die Aufnahme des Falles auf die Verdachtsfallliste ist daher zwingend notwendig, um die rassistische Dimension der Tat gegen eine türkischstämmige Familie anzuerkennen, das Behördenversagen in einem von rechter Gewalt geprägten Jahrzehnt (analog zu Fällen wie den NSU-Morden) zu dokumentieren und Ercans Schicksal in den Kontext der Kontinuität ungesühnter rechter Gewalt in Deutschland einzuordnen. Die Angehörigen verdienen eine offizielle Entschuldigung für diese Versäumnisse und die Anerkennung, dass Ercans Tod eine rassistische Tat war.