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Was gelbe Säcke und Fledermauswanderungen mit Demokratie zu tun haben

Im ROWI-Stadtbüro können sich Bürger*innen über Kommunalpolitik informieren und bei Veranstaltungen austauschen.

Mit dem Sächsischen Förderpreis für Demokratie werden Projekte, Initiativen und Kommunen ausgezeichnet, die sich für die Stärkung der Demokratie und Menschenrechte in Sachsen engagieren und sich gegen Rassismus, Antisemitismus oder Rechtsextremismus einsetzen. Aus 50 eingegangenen Bewerbungen hat die Jury fünf Initiativen für den Projektpreis, ein Projekt für den Peter Henkenborg-Preis für Didaktik der politischen Bildung und ein Kommune nominiert. Wir stellen sie bis zur Preisverleihung am 6. November vor.

Gerüchte verbreiten sich schnell. Diese Erfahrung macht auch die Kommune Rodewisch. Vor zwei Jahren wird dort eine historische Weihnachtspyramide auf dem Marktplatz abgebaut, sie ist defekt. Eine vorbeispazierende Person ist um die Bewahrung der historischen Gegenstände in Rodewisch besorgt und erkundigt sich bei den Arbeitern. Diese machen einen Witz, sagen die Pyramide sei ins Nachbardorf verkauft. Aus dem harmlosen Witz wird ein Gerücht innerhalb der Stadtgesellschaft, dass sich über Jahre hinweg hält. Bis heute liegen auf dem Schreibtisch der Oberbürgermeisterin Kerstin Schöniger Anfragen der AfD-Fraktion im Stadtrat, die sich nach dem Verkauf der Pyramide erkundigen. Bürgermeisterin Kerstin Schöniger erzählt von diesem Beispiel um zu bekräftigen, was es ihrer Meinung nach in einer Demokratie braucht. Das seien vor allem offene Gespräche und eine den Bürger*innen nahe Verwaltung. Man müsse „Erklären, erklären, erklären“. Es ist diese Devise, aus dem die Bürgermeisterin und ihre Verwaltung einen besonderen Ort der Bürgerbeteiligung in Rodewisch schaffen.

Ein vielfältiges Angebot in der Rodewischer Innenstadt

Wie viele ländliche Gebiete Sachsens unterliegt die Kleinstadt Rodewisch im Nordosten des Vogtlands dem demografischen Wandel. Durch Abwanderungen steigt das Alter der Bevölkerung, viele Menschen drohen zu vereinsamen. Um dem entgegenzuwirken, entwickelt die Kommune das ROWI-Stadtbüro, eine Kombination aus einer Seniorenbeauftragten und einem Zentrums- und Veranstaltungsmanagement, das die Innenstadt wiederbeleben soll. Statt das Rathaus, das außerhalb gelegen und mit beschränkten Öffnungszeiten schwerer zugänglich ist, bekommen die Bürger*innen nun einen gut zu erreichenden Ort in der Innenstadt. Im ROWI-Stadtbüro stehen die Türen offen, Bürger*innen können ohne Termin vorbeikommen, können sich gelbe Säcke und Formulare abholen und sich ganz nebenbei über Veranstaltungen oder Fragen zu kommunalpolitischen Ereignissen informieren. Auch verschiedene Veranstaltungen werden hier umgesetzt.

Schon bald werden die Räumlichkeiten des Stadtbüros zu klein und die Stadt mietet auch die angrenzende Ladenfläche an. Hier entsteht das ROWI-Labor. Der Ort der Demokratie ist ein multifunktionaler Ort, der als offenes Vereinsheim, als Werkstatt, als Clubkino und als Workshopraum zur Verfügung steht, ein Ort der zur Beteiligung der Bevölkerung beitragen und motivieren soll. Das gelingt den Mitarbeiter*innen vor Ort außerordentlich gut, wie die Bürgermeisterin erzählt: „Keiner hat es vorher vermisst und jetzt ist es plötzlich nicht mehr wegzudenken.“ Das Geheimnis des Erfolgs ist die Vielfalt der Angebote, erzählt Kerstin Schöniger. Von Fledermauswanderungen über den Makramee-Workshop zu Vortrags- und Kochabenden mit neuen ukrainischen Mitbürger*innen, im ROWI-Labor ist für alle was dabei. Lediglich mehr der jungen Rodewischer*innen für die Angebote zu begeistern, ist noch eine Herausforderung für die Mitarbeiterinnen.

Mit dem Stadtbüro und dem ROWI-Labor gelingt es der Rodewischer Verwaltung einen Ort zu schaffen, an dem Bürger*innen Kommunalpolitik vermittelt wird, an dem sie niedrigschwellig Fragen stellen können und vor allem auch miteinander ins Gespräch kommen. Das soll Diskussionen, aber auch Akzeptanz für unterschiedliche Meinungen schaffen. Kerstin Schöniger ist mehr als zufrieden: „Ich bin stolz, dass es den Mitarbeiterinnen dort gelungen ist, sowas zu etablieren. Ich bin stolz, welchen Ruf wir uns dadurch erarbeitet haben und dass eine Nachbarstadt das jetzt auch noch macht. Meine Vision ist es, das zu erhalten.“

Eine engagierte Bürgermeisterin

Kerstin Schöniger (CDU) ist seit 2012 Bürgermeisterin der kleinen Kommune. Auch mit ihrem persönlichen Engagement trägt sie dazu bei, zwischen Kommunalpolitik und Bürgerschaft zu vermitteln. Dabei geht sie auf die Bürger*innen zu, kommt ins Gespräch und motiviert zum Mitmachen.
Wie erfolgreich sie dabei ist, zeigt sich an ihrem Herzensprojekt zur Beteiligung von Frauen an politischen Entscheidungsprozessen in Rodewisch. Schöniger beschreibt ihr Anliegen: „Die Frauen, die mehr als die Hälfte der Stadtgesellschaft sind, die ganz viel Care-Arbeit leisten, von der Kindererziehung bis dann später zur Betreuung von zu pflegenden Angehörigen, die fehlen mir in meinen Entscheidungsprozessen.“ Die Männer könnten die fehlenden Perspektiven nicht mitdenken. Deshalb sprach Schöniger die Rodewischer Frauen an und lud sie zu einem Brunch und weiteren Veranstaltungen ein. Und tatsächlich bildet sich auf diese Initiative hin die Liste „Gemeinsam für Rodewisch“, die ausschließlich aus Frauen besteht und von denen nach der Wahl sogar drei Frauen in den Stadtrat einziehen. Mittlerweile sind deshalb die Hälfte der Stadträt*innen Frauen, ganz zur Freude der Bürgermeisterin.

Kerstin Schöniger erzählt, dass sie immer wieder direkt auf Bürger*innen zugehen muss, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen: „Das gehört zu meinem Job dazu, das muss ich immer wieder tun. Immer wieder. Deswegen gehe ich auch auf Feste, in Vereine, zu Wettkämpfen und so, um die Leute zu treffen. Dieser übliche Bürgermeister-Sprechtalk, vergiss es, da kommt niemand in mein Rathaus. Ich muss zu den Leuten gehen.“
Das Gespräch sucht sie auch, als zu Pandemie-Zeiten Montagsspaziergänge stattfinden. Sie versucht Maßnahmen zu erklären, sich Kritik und Fragen zu stellen. Nur einmal, da verjagt sie eine Gruppe Spaziergänger*innen und einen stadtbekannten Rechtsextremen, der mit einer Box von den Stufen des Gymnasiums die Menge beschallt. Dafür wird sie im Anschluss stark kritisiert, doch der geschützte Abstand zum Gymnasium ist ihr wichtiger.

Was ist gute Kommunalpolitik?

Die Mitarbeiter*innen des ROWI-Labors und die Bürgermeisterin in Rodewisch machen vor, wie bürger*innennahe Kommunalpolitik funktioniert. In ihrer Arbeit setzen sie sich tagtäglich für Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen ein, durch die Vielfalt der Angebote sollen möglichst alle angesprochen werden. Gleichzeitig stellen sich Bürgermeisterin und Verwaltung den unterschiedlichen Meinungen, gehen in Diskussion und schaffen es in wichtigen Momenten, Grenzen zu setzen. Der Rodewischer Kommunalpolitik gelingt es dadurch, transparenter und zugänglicher zu werden, was sicherlich das Vertrauen der Bürger*innen von Rodewisch in ihre Verwaltungsorgane stärkt.

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Kommentar

Kommentar: Lohnt sich Demokratieförderung überhaupt?

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