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Gefördertes Projekt

„Wir sind hier, wir sind viele, wir sind stark, wir sind laut“

Laut, stark, sichtbar: Der Female Voice Choir in action. (Foto: Çigdem Özeren)

Stimmgewaltig gegen Rassismus und Sexismus: In Hamburg-Wilhelmsburg haben sich Frauen zu einem Chor zusammengefunden, um ihre Stimmen auf öffentlichen Veranstaltungen und Demos gegen Diskriminierung  zu erheben. Viele von ihnen sind selbst betroffen von Abschiebungen oder rassistischen Vorurteilen.

von Charlotte Sauerland

Filiz Gülsular hat den Female* Voices Choir, eine Percussion- und eine Tanzgruppe ins Leben gerufen. Sie hat ganz unterschiedliche Frauen* zusammengebracht, die sich miteinander austauschen, gemeinsam singen und auftreten – zum Beispiel am 8. März, dem internationalen Frauentag. Die 35-Jährige arbeitet für das Bürgerhaus Wilhelmsburg und macht musikbasierte Stadtteilarbeit. Wilhelmsburg ist ein ärmerer Stadtteil Hamburgs. Die Schwerpunkte von Filiz Gülsular sind Antirassismusarbeit und Musikpädagogik. Das passt für sie sehr gut zusammen: „Es geht darum, nicht im 500. Gesprächskreis Themen zu wälzen, sondern auch auf emotionaler Ebene etwas zu bewegen. Und es geht darum, kleine Momente der Utopie Realität werden zu lassen, in der die eigenen Rechte zählen und wir uns stark fühlen – und dadurch auch stark werden!“

Von Altersarmut, Kindererziehung zu Abschiebungen und Alltagsdiskriminierungen

Die Frauen*, die im Female* Voice Choir zusammenkommen, haben viele gemeinsame Themen. Die Sorge vor Altersarmut und der Wunsch nach finanzieller Sicherheit ist eins davon. Auch Carearbeit und die Erziehung von Söhnen zu einfühlsamen Wesen, die auch mit Puppen spielen dürfen, sind Themen, die viele der Frauen beschäftigen. „Meine innere To Do-Liste hört nie auf. Ich manage das Leben meiner Kinder, das Leben meines Mannes, den Haushalt, das Familienleben, mein Berufsleben, mein Privatleben. Das sind Jobs, das ist Arbeit! Wir fordern, dass Haus- und Fürsorgearbeit gleichberechtigt unter Männern und Frauen aufgeteilt wird!“  Nicht umsonst starteten sie in ihrem ersten gemeinsamen Treffen mit 40 unterschiedlichen Frauen mit der Frage „Was trage ich auf meinen Schultern?“.

Über die gemeinsamen Themen hinaus gibt es aber auch spezifische Erfahrungen, die zum Beispiel die jüngeren weißen Frauen nicht machen mussten. So berichten muslimische Frauen davon, wie schwierig es ist, mit Kopftuch einen Job zu finden. Und viele der Romn*ja sind mit drohenden Abschiebungen konfrontiert und leben seit Jahrzehnten mit dem Status der Duldung. Dementsprechend haben sie sehr eingeschränkte Rechte und Möglichkeiten zu arbeiten und an Wohnungen zu kommen. Vor einer Weile wurde eine Unterkunft abgerissen, in der viele Rom*nja lebten, unter ihnen auch die Gründerin des Romani Kafava. Das ist ein Verein, der von  Rom*nja gegründet wurde und auch der auch Teil des Chorprojektes ist. Sie bieten Beratung zur Berufsorientierung und zum ALG-II-Leistungsbezug an und setzen sich gegen Abschiebungen ein. Der Verein ist chronisch unterfinanziert, auch die engagierten Leiterinnen können nicht von ihrer Arbeit im Verein leben. Nichtsdestotrotz ist es ihnen wichtig, nach draußen zu gehen mit ihren Themen, sich zu vernetzen und laut zu werden. Bei ihren Performances stellen die Frauen des Female* Voice Choir deswegen auch ganz konkrete Forderungen, wie zum Beispiel den Gender Paygap zu schließen, Haus- und Fürsorgearbeit sichtbar zu machen, den öffentlichen Raum familienfreundlicher zu gestalten, Gewalt gegen Frauen entgegen zu treten und die Abwertung von Romn*ja zu stoppen.

“Nicht selbst definieren dürfen, was ich kann, sondern, dass andere mir das sagen: das stört mich extrem.”

Filiz Gülsular kommt aus Hessen und lebt seit elf Jahren in Hamburg. Diskriminierung und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten sind ihr auch in ihrer eigenen Biografie begegnet. Als „Othering“ beschreibt sie die Erfahrung. „Dadurch dass ich selber aus einer deutsch-türkischen Familie komme, habe ich selbst erlebt, dass ich nicht immer selbst entscheiden durfte, wer ich bin oder wie ich dargestellt werde. Nicht selbst definieren dürfen, was ich kann, sondern, dass andere mir das sagen: das stört mich extrem.“ Auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrung ist es ihr wichtig, bei der Begegnung mit marginalisierten Personen nicht zu bevormunden. „Die Frauen*, die sich hier zu diesem Projekt vereint haben, leisten unfassbar viel für sich, ihre Familien und den Stadtteil und trotzdem stoßen sie an so viele Grenzen, die sie nicht selbst gesetzt haben. Das gemeinsam sichtbar zu machen, sich zu feiern, zu vernetzen und gegenseitige Unterstützung zu spüren, das ist mein Motor für dieses Projekt.“

„Wir sind hier, wir sind viele, wir sind stark, wir sind laut“

Die verschiedenen Frauen*gruppen, die beim Female Voice Choir mitmachen, kennt Filiz Gülsular aus der Stadtteilarbeit. Darunter sind Gruppen wie Romani Kafava, die Inselmütter oder „STOP“ (Stadtteil ohne Partnergewalt). „Die Frauen unterstützen Menschen mit ähnlichen Lebensrealitäten. Und sie sind gut organisiert, aber sie kannten sich nicht so gut untereinander.“ Auf Demos sind viele der Frauen* nicht sichtbar. Filiz Gülsular erzählt: „Einige Frauen sagen, dass es sich dort aggressiv anfühlt und sie dort nicht mit ihren Kindern hingehen wollen.“ Oder dass es sich so anfühlt, dass diese Demos für andere Leute sind, aber nicht für sie. Eine Spanierin, die beim Chor dabei ist, beschrieb, dass sie zum ersten Mal am 8. März in Deutschland kein Heimweh hatte. Stattdessen hatte sie das Gefühl „Das ist unser Tag“ – ein Gefühl von Verbundenheit, Kampf und Freude durch Musik und Tanz. Filiz Gülsular erklärt: „Es ist das Eine, auf einer Demonstration zu laufen und zwischendurch etwas zu rufen, was nicht alle verstehen können und das Andere, Forderungen emotional sichtbar zu machen. 50 unterschiedlichste Frauen* haben „Wir sind hier, wir sind viele sind stark, wir sind laut“ gerufen, besungen und betanzt. Das war überwältigend.” Im Chor singen mittlerweile 25 Frauen* und sie sind gefragt: Es gibt Anfragen für Auftritte bei anderen Festen, zum Beispiel die Feminale der Hochschule für Musik- und Theater oder das Fest 48 Stunden Wilhelmsburg. Die Auftritte und der Zuspruch motivieren und zeigen: gemeinsam werden die Frauen* stärker und sichtbarer.

 

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