Liebe Leser:innen,
wie tödlich Rassismus ist und was für ein ungeheuer starker ideologischer Antrieb er für Gewalttaten ist, mussten wir erneut am 14. Mai bei einem der verheerendsten rassistischen Massaker der vergangenen Jahre in den USA erleben. Was der 18-jährige Rechtsextreme, der zu einem Supermarkt in Buffalo, New York fuhr und dort 13 Menschen erschoss, umsetzte, konnte in Deutschland, in Essen, durch die Zivilcourage eines achtsamen Mitschülers in letzter Minute verhindert werden.
Hier plante ein 16-jähriger Gymnasiast offenbar Bombenanschläge auf zwei Schulen. Seine menschenfeindlichen Motive hielt er in einem Brief mit rassistischen und antisemitischen Inhalten fest, den er mit "SS-Runen" versah. Mitschüler:innen berichten, dass der Jugendliche dafür bekannt war, immer wieder rechtsextreme Ansichten und Weltbilder zu teilen. Trotzdem ist in der Presse von einem geplanten Amoklauf die Rede. In beiden Fällen haben wir es mit einer expliziten und niedergeschrieben politischen Motivation zu tun: Es handelt sich um Rechtsterrorismus.
In den deutschen Medien wurde jedoch kaum ein Zusammenhang zwischen beiden Fällen hergestellt, auch nicht zum rechtsextrem motivierten Anschlag in München von 2016, bei dem ein 18-jähriger neun Menschen tötete und sieben weitere verletzte. Auch er wollte gezielt Jugendliche, die er als Migrant:innen und damit als "nicht zugehörig" wahrnahm, ermorden. Dabei gleichen sich die Taten und die Radikalisierungsverläufe sehr. Immerhin hat die Generalbundesanwaltschaft das mittlerweile erkannt, anders als in München übernehmen sie in Essen wegen "besonderer Bedeutung der Tat" direkt die Ermittlungen.
Genauso wie beim Attentäter in Halle findet die Radikalisierung junger weißer Männer weiterhin im digitalen Raum statt. Gaming-Plattformen und Imageboards werden benutzt, um Menschenfeindlichkeit zu verbreiten: Sie animieren sich gegenseitig zur Tat, schreiben wirre Texte, die sie "Manifeste" nennen - und wollen ihre Taten im Livestream auf beliebten Gaming-Plattformen wie Twitch verbreiten. Die Welt soll zusehen.
Dass die rechtsterroristischen Anschläge in Essen verhindert werden konnten, haben wir übrigens einem Jugendlichen zu verdanken, der aufmerksam zuhörte, ernst nahm was er hörte und die Polizei informierte. Es sind diese vermeintlich "kleinen" Dinge, die den Unterschied ums Ganze machen können. Was für ein Glück, dass dieser junge Mensch handelte, statt wegzuhören oder zu relativieren, sondern tatsächliche Verantwortung übernahm. Er hat damit verhindert, dass die erschreckend lange Reihe von rechtsterroristischen Anschlägen um zwei weitere blutige Tatorte anwächst. Danke dafür!
Folie für all diese Täter ist die rechtsextreme Verschwörungserzählung vom sogenannten "großen Austausch", die nach wie vor die große ideologische Klammer für die internationale Rechtsaußenszene, von Buffalo bis Essen, bildet. In der Szene werden sie als "Helden" gefeiert, die sich in Notwehr gegen den imaginierten Genozid an "den Weißen" wehren.
Sie können sich denken, liebe Leser:innen, wer an all dem Schuld ist: Die Juden organisieren angeblich die "Massenmigration". Und hier können wir dieser Tage wieder beobachten, wie erfolgreich Täter-Opfer-Umkehr - ein wesentliches Moment des Antisemitismus - als Kitt in allen Teilen der Gesellschaft fungiert: Denn nicht nur die Rechtsterroristen sehen sich als Opfer und handeln damit in vermeintlicher Notwehr. Auch die "Querdenker"-Demonstrant:innen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung nahmen und nehmen dies für sich in Anspruch, ebenso wie Präsident Putin: Ginge es doch in diesem Krieg um die Entnazifizierung der Ukraine, eine Erzählung, die im russischen Staatsfernsehen schon lange vor Beginn des Angriffskriegs propagiert wurde. Russland müsse sich eben wehren, gegen die Nazis und gegen die NATO. Wer selbst Opfer ist, steht auf der vermeintlich richtigen Seite.
Dass große Teile der verschwörungsideologischen Szene in Deutschland mindestens Verständnis für den russischen Angriffskrieg und die daran geknüpften Forderungen des russischen Präsidenten Putin zeigen, wundert daher nicht. Auch nicht, dass die "Querdenker"-Szene sich sicher ist, dass hinter der freiheitsberaubenden Pandemie-Bekämpfung - die nur ein Deckmantel sei - dieselben Kräfte steckten, die nun aggressiv gegen China und Russland vorgehen würden.
Doch auch jenseits dieses Milieus ist das Bedürfnis nach Entlastung ungebrochen. NS-Relativierungen und antisemitische Karikaturen finden wir in der deutschen Presse zu Hauf: Ob im Spiegel, der Zeit oder in "Die Rheinpfalz", die sogar titelte "Putin ist ein zweiter Hitler". Und die Süddeutsche Zeitung präsentierte mal wieder eine antisemitische Karikatur, in der klar wird: Es ist der Präsident der Ukraine, Selenskyi, der das Weltwirtschaftsforum fest in seiner Hand hat.
Lassen Sie uns daher gemeinsam daran arbeiten, dass Fake News und Desinformation nicht dazu führen, dass wir die Geschichte umschreiben, dass wir Opfer nachträglich zu Tätern machen und damit letztlich die Realität aus dem Blick verlieren: Hinter Putins Angriffskrieg steht ein Geschichtsrevisionismus, aus dem er nie einen Hehl gemacht hat, den wir alle hätten sehen können und viele gesehen haben. Bombardiert werden in der Ukraine auch Gedenkstätten wie Babyn Jar, eine Schlucht in Kiew, in der die deutsche Wehrmacht 1941, innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 Jüdinnen:Juden ermordete.
Holocaust- Überlebende, Juden:Jüdinnen und Romn:ja und Sinti:zze, fliehen gleichermaßen aus der Ukraine und sind auf Schutz angewiesen. Auch wenn die generelle Hilfsbereitschaft überwiegt, gibt Deutschland gerade in Bezug auf die Überlebenden des Porajmos leider ein verstörendes Bild ab.
Herzliche Grüße
Tahera Ameer