Liebe Leser:innen,
normalerweise heißt es zum Jahresanfang immer: neues Jahr – neues Glück! Und das sollte auch für 2022 gelten. Doch etwas ist in diesem Jahr anders. Es scheint, als wäre ein Appell angebrachter, der dazu Mut macht, durchzuhalten. Die Pandemie scheint sich festgebissen zu haben in unserem Leben. Allen Beteuerungen und aller Hysterie zum Trotz wird sie irgendwann überwunden sein, auch wenn wir uns das gerade schwer vorstellen können. Es scheint ja in Deutschland immer wieder schwer zu sein, vorausschauend zu denken und zu planen. Expert:innen zufolge ist jede einzelne Phase der Pandemie vorhersehbar gewesen, aber Warnungen verhallten meist ungehört. Erst wenn es ganz schlimm ist, wird irgendwie gehandelt. Und das nicht immer im Sinne einer Mehrheit, oder dem neuesten Stand der Erkenntnis entsprechend, sondern mehr oder weniger, nicht ganz, nicht halb. Vielleicht wird aus der Pandemie irgendwann eine Endemie. Die Frage ist dann aber, was übrigbleibt, wenn es vorbei ist – auch gesellschaftlich.
Mich erinnert das Ganze schon an die Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland nach der Wiedervereinigung: Man hat sie ignoriert und unterschätzt. Expert:innen warnten und wurden nicht gehört. Und als alles ganz schlimm war, wurde irgendwie gehandelt. Nicht halb, nicht ganz. Und das Ergebnis ist, dass sich in jeder Krisensituation der Rechtsextremismus mobilisieren lässt und sich immer weiter ausbreitet. Menschen, die Fragen und Konflikte haben, Menschen, die unter Druck geraten, die wütend sind, lassen sich instrumentalisieren von Rassist:innen und Antisemit:innen. Es ist nicht nötig, nochmal über Verschwörungsideologien zu reden und wie viel Aggression darin steckt. Heute müssen wir über die Aggression reden, die auf der Straße zu sehen ist und die im Internet kursiert. Hass und Morddrohungen, Angriffe und wüste Beschimpfungen vergiften das Klima. Die Pandemie ist dafür ein Vehikel, nicht die Ursache. Wir werden ja sehen, was damit wird, wenn Corona vorbei ist. Aber ich wage zu prophezeien, dass die Aggressionen und toxisches Verhalten nicht aufhören werden. Darauf müssen wir uns auch vorbereiten. Und zwar nicht erst, wenn es direkt vor der Tür steht oder sich bereits spürbar und heftig verbreitet hat in der Luft, die wir täglich atmen.
Deswegen ist es nicht einfach so dahergesagt, dass wir weitermachen, dass wir durchhalten, dass wir uns neue Schritte überlegen müssen. Es ist einfach notwendig. Wir beginnen gerade erst wahrzunehmen, wie ausdifferenziert und divers unsere Gesellschaft ist und wie groß der Widerstand dagegen. Wissenschaftsfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Geschwurbel, Umsturzträume – das alles ist der Ausdruck dafür, wie dieser Widerstand aussieht. Leute, die so denken und handeln, sind nicht von Vernunft getrieben, sondern beseelt davon, einen einfachen Grund für alles ausmachen zu wollen. Den gibt es aber nicht. Nicht für unsere komplexe globale Welt, die uns immer näher rückt, weil wir mehr von ihr wissen, als jemals zuvor.
Wir werden 2022 weiter versuchen, Konflikte zu benennen und Diskurse zu führen. Wir werden Ideen zu Projekten machen und manche heißen Eisen anfassen. Wir werden engagierte Menschen motivieren und dem Hass und der Unvernunft entgegentreten. Wir werden Geld sammeln und Initiativen fördern, die sich dann vor Ort um Vernunft und Respekt bemühen. Ich bin davon überzeugt, dass die Basis, die wir dafür brauchen, stärker ist, als die des Hasses. Diese Menschen zu erreichen und zu ermutigen, ist unser wichtigstes Ziel auch in diesem Jahr.
Wir wünschen Ihnen ein gesundes, hoffnungsvolles und kraftvolles neues Jahr.
Herzliche Grüße
Ihre Anetta Kahane