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Die Lücke in Thüringen schließt sich: Der Erfolg externer Untersuchungen von Todesopfern rechter Gewalt

Die Gruppe Dissens Erfurt hat 2022 am Todestag von Heinz Mädel die Futterstraße, in der Nähe des Tatortes, symbolisch in die „Heinz-Mädel-Straße“ umbenannt. Foto: Dissens Erfurt.

Ein neues Gutachten belegt, dass erheblich mehr Menschen in Thüringen in Folge rechter Gewalt ums Leben kamen, als bisher staatlich anerkannt. Am 20. November übergab Innenminister Georg Maier dem Landtag den Abschlussbericht der Untersuchung. Insgesamt zehn Todesfälle werden von den Wissenschaftler*innen als politisch rechts motiviert eingestuft und ihre staatliche Anerkennung als solche empfohlen.

Bislang hatte das Land Thüringen lediglich ein Todesopfer rechter Gewalt, den 1993 von fünf Neonazis in Arnstadt getöteten Karl Sidon, offiziell anerkannt. Zivilgesellschaftliche Initiativen und Journalist*innen wiesen seit Jahren auf diese eklatante Lücke hin. Der Thüringer Landtag beschloss die Erstellung des Gutachtens bereits 2018, sieben Jahre später liegen die Ergebnisse nun vor. Dafür haben Forschende der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin in Kooperation mit dem Moses-Mendelssohn-Zentrum an der Universität Potsdam ein Jahr lang Gerichtsurteile, Verfahrensakten und weitere Quellen ausgewertet. Eingebunden waren in die Bewertung der Fälle neben behördlichen Perspektiven auch zivilgesellschaftliche Vertreter*innen von der Opferberatung Ezra und der Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus Mobit.

Thüringen ist damit bei der Aufarbeitung von Todesopfern rechter Gewalt den gleichen Weg gegangen wie das Land Brandenburg. Die Brandenburger Studie des Moses Mendelssohn Zentrums aus dem Jahr 2015 war wegweisend und zeigte als erste, wie eklatant die Diskrepanz zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Opferzahlen war. Glaubwürdig war die Neubewertung der Altfälle vor allem auch deshalb, weil mit der Beteiligung der Beratung gegen Rechtsextremismus demos, der Amadeu Stiftung, dem Aktionsbündnis Brandenburg und der Beratungsstelle Opferperspektive eine starke zivilgesellschaftliche Perspektive eingebunden wurde. Die Methodik wird bundesweit von Initiativen und Wissenschaftler*innen hochgelobt. Doch während einige Länder dem Beispiel folgten, scheuen andere die notwendige Verantwortung und den Willen zur Transparenz.

Interne Kontrollen liefern nur geringe Ergebnisse

Dort, wo Landesregierungen auf interne, behördliche Überprüfungen setzten und die zivilgesellschaftliche Expertise weitgehend ausschlossen wurde, fielen die Ergebnisse ernüchternd aus – und die Glaubwürdigkeit der Überprüfungen blieb gering. So setzten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen auf interne Arbeitsgruppen der Polizei oder des LKA. Das Ergebnis: Die Zahl der nachträglichen Anerkennungen in diesen Bundesländern war im Verhältnis zur zivilgesellschaftlichen Dokumentation deutlich geringer. In NRW, Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden die internen Prozesse von den Opferberatungsstellen scharf kritisiert und die Ergebnisse als unzureichende Aufarbeitung abgelehnt. Die Angst, eigene Fehler erklären zu müssen, scheint hier die Aufklärungsbereitschaft der Behörden zu überschatten.

Diese geringe Zahl an Nachmeldungen gilt als Beleg dafür, dass eine rein behördeninterne Perspektive nicht geeignet ist, rechtsextreme Tatmotive zu erkennen, die über Jahre hinweg in polizeilichen Akten als persönliche oder kriminelle Milieu-Konflikte abgetan wurden.

Externe Überprüfung als Schlüssel zur Gerechtigkeit

Im Gegensatz dazu führte die Einbeziehung unabhängiger Forschung und der Expertise von zivilgesellschaftlichen Organisationen zu einer historischen Korrektur. Wie eingangs erwähnt, gilt Brandenburg hier als Vorreiter. Vor der unabhängigen Untersuchung zählte das Land lediglich neun Todesopfer rechter Gewalt. Nach dem Forschungsprojekt verdoppelte sich die Zahl. 2018 folgte Berlin, was zu einer nachträglichen Anerkennung von sieben Todesopfern führte. Nun zog Thüringen nach und erhielt mit dem Abschluss dieser unabhängigen Neuüberprüfung die Empfehlung, neun Todesopfer nachträglich anzuerkennen.

Das Gutachten empfiehlt die Anerkennung folgender Personen:

Trotz der fehlenden Anerkennungsempfehlung für den 1993 in Schlotheim getöteten Mario Jödecke ist dieses Gutachten ein bedeutender Schritt in der Aufarbeitung der tödlichen Dimension von Rassismus und menschenfeindlicher Ideologie im Freistaat Thüringen.

Die unverzichtbare Beteiligung der Zivilgesellschaft

Der Erfolg in Brandenburg und Thüringen ist untrennbar mit der Einrichtung eines Projektbeirats verbunden, der Wissenschaftler*innen und staatliche Akteure mit der Zivilgesellschaft zusammenbrachte. Dieses Gremium ist von unschätzbarem Wert, da es Vertrauen zu Hinterbliebenen und Zeug*innen herstellt und so den Zugang zu unabhängigen Informationen ermöglicht, die den Behörden oft fehlen. Die zivilgesellschaftlichen Stimmen bieten einen kritischen, außenstehenden Blick auf die Akten und gewährleisten, dass die Gutachten die Perspektive der Betroffenen berücksichtigen, anstatt sich nur auf rein polizeiinterne Kriterien zu stützen. Der Beirat ist somit der Garant für die Glaubwürdigkeit der gesamten Untersuchung.

„Als konkreten nächsten Schritt fordern wir die staatliche Anerkennung der eingeordneten Todesfälle bis Ende des Jahres 2025“, erklärt Franziska Schestak-Haase, Beraterin bei ezra – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen. Denn die staatliche Anerkennung ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit für die Angehörigen – sie bedeutet die Rückgewinnung der Deutungshoheit und ermöglicht den Hinterbliebenen Zugang zu Härteleistungen.

„Das Vorgehen in Thüringen zeigt: Wir brauchen einen ehrlichen, gemeinsamen Blick von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Behörden auf diese Taten. Nur so können wir endlich das tödliche Ausmaß rechter Gewalt von offizieller Stelle lückenlos und wahrhaftig abbilden. Das sind wir den Opfern schuldig“, fasst Timo Reinfrank, Vorstand der Amadeu Antonio Stiftung abschließend zusammen.

Angesichts der klaren Ergebnisse aus Brandenburg, Berlin und Thüringen ist das Zögern in anderen Bundesländern nicht mehr hinnehmbar. Trotz der Beratung im niedersächsischen Landtag fehlt in den meisten Ländern der politische Mut, die Fehler der Vergangenheit umfassend aufzuarbeiten.

Thüringen zeigt erneut, dass der „Brandenburger Weg“ zum bundesweiten Standard für alle Altfälle der Todesopfer rechter Gewalt werden muss. Nur die unabhängige Überprüfung kann das Vertrauen in die staatlichen Institutionen zurückgewinnen und dem vollen Ausmaß der rechten Gewalt in Deutschland endlich Rechnung tragen.

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