Mit 150 Veranstaltungen in allen Bundesländern und digital sowie einer bundesweiten Plakat- und Online-Kampagne machen die Aktionswochen in den kommenden Wochen auf den alltäglichen Antisemitismus aufmerksam und machen deutlich: Es reicht! Es muss sich gehörig was ändern!
Seit 2003 und auch in diesem Jahr machen die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus mit einer bundesweiten Kampagne und zahlreichen Veranstaltungen den antisemitischen Alltag in Deutschland sichtbar, zeigen Möglichkeiten auf, was dagegen zu tun ist und unterstützen die Zivilgesellschaft in ihrem tagtäglichen Kampf gegen Antisemitismus.
Aber nach den Anschlägen in Halle und Hanau, nach den massiven antisemitischen Ausschreitungen der letzten Jahre im Mai 2021 unter dem Deckmantel der “Israelkritik” und auch nach zahlreichen Versuchen, die Errungenschaften der Anti-Antisemitismusbekämpfung rückgängig zu machen und einen Schlussstrich zu ziehen, lautet die Botschaft in diesem Jahr: machen und einen Schlussstrich zu ziehen, lautet die Botschaft in diesem Jahr: Ja, wir machen endlich Schluss. Schluss mit Antisemitismus und Schluss mit Shalom Deutschland: mit den Phrasendrescher:innen, die große Sonntagsreden schwingen und sich bei konkreten Handlungen zurückhalten, Schluss mit Goysplainer:innen, die Jüdinnen:Juden erklären, was Antisemitismus ist und auch Schluss mit den Israelkritiker:innen, die angeblich nichts gegen Juden haben, aber Israel von der Landkarte tilgen wollen.
Und das alles im Jahr 2021, eigentlich einem Festjahr: Gefeiert werden 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Die Stimmung wird aber getrübt. 2021 ist ein Festjahr mit Beigeschmack. Gleichzeitig waren aber auch die 1699 Jahre jüdisches Leben in Deutschland vor der Corona-Pandemie – gelinde gesagt – nicht einfach. Denn Antisemitismus hat eine lange Geschichte, Verfolgungen, Vertreibungen, Morde prägen die deutsch-jüdische Geschichte.
Vielleicht ist das Festjahr aber auch gerade durch die aktuelle Gleichzeitigkeit von alltäglichem Antisemitismus und resilientem jüdischem Leben repräsentativ für die letzten 1700 Jahre: Ja, es gibt jüdisches Leben in Deutschland, es gibt jüdische Perspektiven und es gibt auch Verbündete, die sich gegen Antisemitismus engagieren, trotz alledem. Deshalb senden die Aktionswochen gleichzeitig ein <3 Shalom Deutschland <3 an diejenigen, die tagtäglich gegen diesen Antisemitismus kämpfen. Wir brauchen Standhafte und Verbündete, – wie euch – mit denen wir Schulter an Schulter gegen Antisemitismus stehen und ohne die wir unsere Arbeit nicht machen könnten.
Aus Gesprächen mit v.a. jüdischen Netzwerk- und Kooperationspartner:innen wurde diese Stimmung deutlich und floss in die Kampagnengestaltung mit ein. “Es reicht, es muss sich gehörig was ändern!“, erläutert der Projektleiter der Aktionswochen Nikolas Lelle. “Nach Hanau, nach Halle, nach antisemitischen Ausschreitungen darf sich niemand ausruhen und denken, wir hätten Antisemitismus im Griff. Es muss mehr passieren. Die jüdische Community findet sich zwischen Lobhudelei und Ignoranz wieder.” Das Ziel der Aktionswochen ist es also weiterhin den jüdischen Perspektiven Sichtbarkeit zu verschaffen. “Wo Anschläge wie Halle erst Monate her sind, kann Harmonie auf Knopfdruck keine Realität sein. Stattdessen blicken wir auf die Praktiken jüdischer Widerständigkeit, die jüdisches Leben in diesem Land überhaupt erst ermöglicht haben”, erläutert Lelle.
Diese Haltung spiegelt sich nicht nur in der Plakat- und Online-Kampagne, sondern auch in zahlreichen Kooperationsveranstaltungen, die im Rahmen der diesjährigen Aktionswochen stattfinden:
Projektionen antisemitischer Vorfälle an öffentlichen Gebäuden in Kiel, Berlin und Leverkusen
Veranstaltung zum Thema jüdische Rache – Nakam und jewish brigade am 25.10. – 18 Uhr in Hannover
Eine Übersicht der weiteren Veranstaltungen, Hintergrundtexte zu den Plakaten, und erschienenen Publikationen im Rahmen der diesjährigen Aktionswochen finden Sie hier: www.shalom-deutschland.de
Die Schwarze Aktivistin und vierfache Mutter Jasmina Kuhnke setzt sich unter dem Social Media Synonym Quattromilf seit Jahren unentwegt und entschlossen gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit ein. Nun wurde ihre Adresse mit den Worten „Massakriert Jasmina Kuhnke“ veröffentlicht. Dies zwang sie und Ihre Familie aus der eigenen Wohnung zu fliehen und unterzutauchen.
Aktivist*innen, Politiker*innen und Organisationen, die offen die Zivilgesellschaft und demokratische Werte verteidigen, waren schon immer Ziel und Opfer von rechten Hetzkampagnen. Doch seit einigen Jahren müssen wir beobachten, wie sich menschenfeindliche Sprache im Netz derart etabliert, dass Menschen von Rassist*innen und der extremen Rechten offen bedroht und sogar körperlich angegriffen werden.
Die Verteidigung von Menschenrechten und Aktionen, sind schon Anlass für Hass und Hetze. Dabei werden Menschen, nach dem Geist des Grundgesetzes, die für die Demokratie und das Gleichwertigkeitsprinzip einstehen, zum Feindbild gemacht.
Insbesondere Frauen werden besonders häufig attackiert und gelten den Angreifer*innen als Dorn im Auge: Das Frauenbild der extremen Rechten reagiert besonders hasserfüllt auf Frauen, die sich für emanzipatorische Werte engagieren.
Ein aktuelles und besonders brutales Beispiel ist die Markierung der Frau und Mutter Jasmina Kuhnke als Zielscheibe. Nach dem jahre langem Engagement der Schwarzen Aktivistin, wurde sie nicht nur rassistisch und antifeminitsich attackiert, ihre Adresse wurde veröffentlicht und schließlich erhielt sie Morddrohungen mit dem Aufruf „Massakriert Jasmina Kuhnke“. Daraufhin musste sie mit ihrer sechsköpfigen Familie fluchtartig ihre Wohnung verlassen und schließlich umziehen. Dabei musste sie nicht nur die gesamten Kosten des Unttertauchens zahlen, sondern ebenso die Anwält*innen zur Verfolgung der Straftaten und zur Durchsetzung des Polizeischutzes.
Als seien die Anfeindungen der extremen Rechten nicht genug, kamen im Falle von Jasmina Kuhnke auch noch rechtskonservative Medien hinzu, die durch Behauptungen wie „der Kampf gegen Rassismus sei für Betroffene und Unterstützer*innen zum lukrativen ‚Geschäftsmodell‘ geworden“, die Wut und Gewaltphantasien jener Personen befeuerten, die nur allzu bereit waren Worten auch Taten folgen zu lassen.
Besonders skandalös ist, dass die Polizei die Bedrohung nicht ernst genommen und Hilfe abgelehnt hat. Es kann nicht sein, dass engagierte Personen wie Jasmina Kuhnke vom Staat nicht beschützt werden. Es sollte nach den Fällen von Hanau, Halle und dem Mord an Walter Lübcke auch der Polizei bekannt sein, dass Rechtsextremist*innen durchaus dazu in der Lage sind, Menschen zu töten. Diese unterlassene Hilfeleistung ist sowohl ein Skandal gegenüber Jasmina, aber auch gegenüber allen, die sich gegen Rechtsextremismus exponieren.
Doch Aktivist*innen wie Jasmina Kuhnke sind keine Opfer, sie sind Held*innen. Auch weil sie und viele andere aktivistische Mütter nicht nur sich selbst schützen müssen, sondern ebenso die Sicherheit ihrer Familien verantworten, ist der Schutz dieser tapferen Frauen auch unsere Verantwortung.
Deshalb unterstützen wir den Spendenaufruf unter dem Motto „SHEROES Fund“, die Aktivist*innen wie Jasmina Kuhnke unterstützen soll, die durch das fluchtartige Untertauchen, die Finanzierung von Anwält*innen und den zeitgleichen Umzug Kosten von 50.000€ tragen musste. Nachdem das Fundraising-Ziel von 50.000 € für die Unterstützung von Jasmina Kuhnke erreicht ist, soll der “Sheroes Fund” ebenso andere Sheroes unterstützen.
Sie und viele andere Sheroes werden nicht die Letzten sein, die im Kampf gegen Menschenfeindlichkeit Bedrohungen erfahren werden und keine von ihnen sollte allein gelassen werden. Deshalb rufen wir jede Person dazu auf, den Aufruf mitzutragen und zu spenden!
Unter dem Link finden Sie den Spendenaufruf und die Beschreibung zu Jasmina Kuhnkes Situation.
Verschwörungsideologien in Sozialen Netzwerken mobilisieren Menschen. Der “Sturm auf das Kapitol” in den USA und ein halbes Jahr davor der „Sturm auf den Reichstag“ hier in Berlin haben das gezeigt. Online-Hetze, Desinformation und Radikalisierung kann sehr reale und tödliche Folgen haben. In Christchurch, Neuseeland, tötete im Januar 2019 ein online radikalisierter Täter 51 Menschen und streamte die Tat live in Sozialen Netzwerken. Und es gab Folgetaten: die Attentate von Halle im Oktober 2019 und Hanau im Februar 2020 sind Beispiele dafür.
Neben Facebook, Youtube und Co. ist besonders Telegram ein Hotspot für die Verbreitung von Verschwörungsmythen und die Markierung von politischen Feind*innen. Was dieses hybride Medium besonders macht: Es gibt so gut wie kein Handeln der Betreiber*innen – keine Moderation, keine Sperrungen, keine Löschungen. In Kanälen mit zum Teil mehr als 100.000 Abonnent*innen, verbreiten Akteur*innen der extremen Rechten und Verschwörungsideolog*innen die Adressen von politischen Gegner*innen oder ihre Dienstanschriften. Wir wissen, dass sich Berliner Jüdinnen und Juden von den Inhalten in Atilla Hildmanns Telegram-Kanal mit rund 114.000 Abonnent*innen bedroht fühlen.
Was macht digitale Gewalt mit den betroffenen Organisationen und Einzelpersonen?
Menschen, die von solchen Anfeindungen betroffen sind, ziehen sich zurück, äußern sich weniger in Sozialen Netzwerken. So sind engagierte Frauen besonders häufig von misogynen Attacken betroffen. Die Täter veröffentlichen Telefonnummern, Mailadressen und private Anschriften – wir sprechen hier von „Doxing“. Viele Betroffene lassen sich dazu drängen, ihre Social Media-Profile zu schließen oder geben beispielsweise ihren Beruf auf. So ein Rückzug bedeutet: Den Betroffenen wird ein Teil ihres Lebens- und Informationsraums genommen. Die Folgen können wie bei anderen Gewalterfahrungen traumatisch sein. Sie reichen von Stress, Angst, Unruhe bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken. Doch auch erzwungene Umzüge oder Arbeitsplatzverluste sind sehr konkrete, schwerwiegende Lebensveränderungen – selbst wenn es nicht zu offline-Gewalt kommt.
Was sind die Auswirkungen für unsere Gesellschaft als Ganze?
In einer Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft von 2019 haben 44% der Berliner Befragten angegeben, dass sie wegen drohender und tatsächlicher Hasskommentare seltener ihre politische Meinung bei Diskussionen im Internet einbringen. Auf Organisationsebene ist es übrigens so, dass zum Beispiel ganze Medienhäuser ihre Kommentarfunktion auf Plattformen oder ihrer Website abschalten. Hassrede ist somit eine Einschränkung der Meinungsvielfalt: Denn die Stimmen von marginalisierten und diskriminierten Gruppen fehlen zunehmend. So verschieben sich auch gefühlte Mehrheiten im Land. Denn wenn sich ganze Gruppen von besonders häufig angefeindeten Menschen aus Angst von Diskussionen zurückziehen, fehlt ihre Perspektive. Das ist für die Meinungsvielfalt besonders deshalb problematisch, weil die Stimmen marginalisierter Gruppen schon per Definition im Diskurs unterrepräsentiert sind. Wir müssen daher gegensteuern.
Was können Zivilgesellschaft, Politik und Strafverfolgung tun?
Aus Sicht der Betroffenen ist bei strafbaren Inhalten ein schneller zuverlässiger Schutz und effiziente Strafverfolgung am Wichtigsten. Wir empfehlen deshalb, Ansprechpersonen zum Thema Digitale Gewalt bei Polizei und Staatsanwaltschaft zu benennen. An sie könnten sich Betroffene und Zivilgesellschaft wenden. Sinnvoll ist ebenso, wenn das Land Berlin eine Ansprechperson zu digitaler Gewalt benennt. Diese könnte eine Brückenfunktion zwischen Politik, Verwaltung, Strafverfolgung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft bilden.
Wir empfehlen, dass die Polizei proaktiv entsprechenden Kanäle, z.B. bei Telegram in Form von Online-Streifen in den Blick nimmt, auch um mögliche zukünftige Anschläge zu verhindern. Das wird aber nicht reichen: Online-Communities mit radikalisierenden Dynamiken gibt es im Internet überall. Es gibt aber auch überall Menschen, denen solche Aktivitäten auffallen. Bitte nehmen sie deren Warnungen ernst. Dafür ist aus unserer Sicht wichtig, dass Mitarbeitende aller Polizeidienststellen für das Thema digitale Gewalt sensibilisiert werden.
Transparenz und Wirksamkeit von Meldewegen verbessern: Viele Menschen wissen nicht, dass sie Online Anzeigen erstatten oder hetzerische Kommentare melden können. Hier benötigt es weitere Aufklärung. Zur Verbesserung der Prozesse empfehlen wir eine wissenschaftliche Evaluation.
Gegen Diskriminierung in digitalen Räumen hilft am Effektivsten zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit und Bildung. Deshalb bietet unser Projekt Workshops zu Gegenrede und Moderation an. Darüber hinaus braucht es aus unserer Sicht Digital Streetwork, also die 1-zu-1-Ansprache von radikalisierungsgefährdeten Personen.
Digitale Räume dürfen nicht als etwas betrachtet werden, das getrennt von der Offline-Welt funktioniert. Für Täter*innen wie Betroffene sind digitale Räume ein ganz normaler Lebensraum, der sich mit dem Offline-Bereich verschränkt. Menschenfeindlichkeit im digitalen Raum hat Auswirkungen auf die offline-Welt und andersherum. Betroffene von digitaler Gewalt verdienen die gleiche Anerkennung, Schutz und Unterstützung wie andere Gewaltopfer.
Das Internet muss endlich ein Ort werden, an dem sich alle Menschen sicher fühlen!
Unser Mitarbeiter Oliver Saal vom Projekt „Civic.net – Aktiv gegen Hass im Netz“ war am 20. Januar 2021 als Sachverständiger zur öffentlichen Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz beim Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Dies ist die gekürzte und redigierte Version seiner Rede.
Seit 2004 findet jährlich im Februar der internationale Safer Internet Day (SID) statt. Über die Jahre hat sich der Aktionstag als wichtiger Bestandteil im Kalender all derjenigen etabliert, die sich für Online-Sicherheit und ein besseres Internet engagieren.
In diesem Interview spricht Duygu mit Léa vom Projekt „Berlin steht an der Seite Betroffener rechter Gewalt“ über ihren Alltag in der Berliner U-Bahn, über Unsicherheit, Alltagsrassismus und das ständige Abwägen zwischen Freiheit und Vorsicht. Sie erzählt, warum sie heute anders fährt als früher, welche Strategien ihr helfen – und was sich ändern müsste, damit sich alle Menschen in der Stadt sicher bewegen können.
Zwischen Alltagsroutine und Unsicherheit Léa: Liebe Duygu, vielen Dank, dass du uns von deinen Erfahrungen erzählst. Ich würde dich gerne als erstes fragen: Was sind denn deine Erfahrungen in der Berliner U-Bahn?
Duygu: Ich nutze verschiedene U-Bahn-Linien in Berlin. Es gibt Strecken, die für mich okay sind, und andere, die in für mich unbekannte Ecken oder in Ost-Bezirke führen. Dort fühle ich mich etwas unsicherer – auch, weil sich das Profil der Fahrgäste verändert. Dann weiß ich nicht, wie eine Situation eskalieren könnte, wenn es zu einem Angriff kommt. Und ich bin mir oft unsicher, wie ich mich in der U-Bahn schützen kann oder ob Fahrer*innen überhaupt eingreifen könnten.
Léa: Wenn sich Orte verändern, verändert sich dein Gefühl von Sicherheit?
Duygu: Ja, und das ist über die Jahre schlimmer geworden. Als migrantische Frau fühle ich mich besonders abends, in leeren U-Bahnen oder an bestimmten Stationen nicht wirklich wohl. Ich versuche dann, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. In der aktuellen politischen Lage spreche ich nicht laut Türkisch – also nicht in meiner Muttersprache – wenn ich telefoniere. Und ich lese auch keine türkischen Bücher in der Bahn, sondern eher englische oder deutsche. Ich versuche, jede mögliche Angriffsfläche, sei es für verbale Attacken oder unangenehme Blicke, zu vermeiden.
Léa: War es früher einfacher für dich nachts unterwegs zu sein?
Duygu: Früher war es ein bisschen besser. Vielleicht lag es daran, dass ich jünger war oder dass die politische Lage damals nicht so angespannt war. Ich bin früher noch um vier Uhr morgens mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Als migrantische Frau mit schwarzen Haaren konnte ich nach dem Clubbing einfach die U-Bahn nehmen – heute habe ich das Gefühl, dass das so nicht mehr geht.
Léa: Das heißt, du veränderst schon auch deine Routinen? Also du würdest jetzt, wenn du dich nicht sicher fühlst, nachts nicht mehr mit der U-Bahn nach Hause fahren?
Duygu: Genau. Oder ich brauche eine Begleitung.
Léa: Und wie gehst du damit um? Also gehst du dann nicht mehr weg oder suchst du dir dann andere Möglichkeiten nach Hause zu kommen? Und was bedeutet das für deinen Alltag oder deine Wege, die du gerne zurücklegen würdest?
Duygu: Ich nutze weiterhin die U-Bahn, weil ich kein Auto fahren kann. Wenn ich fahren könnte, wäre die Situation für mich vermutlich eine andere. Und die Strecke, die ich zurücklege, kann ich auch nicht mit dem Fahrrad bewältigen – das spielt gerade für viele migrantische Menschen eine Rolle, die nicht mit dem Fahrrad sozialisiert wurden. Die U-Bahn ist daher für mich eine der wichtigsten Mobilitätsmöglichkeiten. Ich versuche, volle Wagen zu wählen; wenn es leer ist, steige ich nicht ein oder laufe schnell zu einem anderen. Musik höre ich dann nicht – ich nehme die Kopfhörer raus, um den Überblick zu behalten. Und ich halte Ausschau nach freundlichen Gesichtern oder Menschen mit ähnlichen Geschlechtermerkmalen. Falls etwas passiert, kann ich so zumindest schnell eine Art Allianz aufbauen.
Léa: Du bist in der U-Bahn also immer auf der Hut?
Duygu: Kann man so sagen. Leider habe ich keine wirkliche Alternative. Kürzere Strecken würde ich gern zu Fuß gehen, aber die längeren – gerade im Winter – eher nicht. Und wenn du mich fragst, S-Bahn oder U-Bahn: Ich würde immer versuchen, die S-Bahn zu nehmen. Die Wagen sind größer und man hat mehr Raum. Vor allem die alten U-Bahn-Modelle finde ich schwierig, weil man nicht einfach durchgehen kann. Die neuen U-Bahnen sind etwas offener, da kann man sich nach rechts und links frei bewegen.
Sicherheit ist mehr als Notfallknöpfe Léa: Das heißt auch, du planst bei jeder Fahrt schon aktiv mit, dass dir was passieren könnte und überlegst, wer dir im Zweifel helfen kann, wer dir wohlgesonnen sein könnte?
Duygu: Genau. Ich brauche allein eine Stunde mit der U-Bahn zur Arbeit – also zwei Stunden am Tag hin und zurück. Besonders abends oder wenn eine Station voll mit männlichen Jugendlichen ist, mache ich mir vorher Gedanken und überlege: Wie gehe ich damit um? Was mache ich, wenn etwas passiert?
In der U-Bahn gibt es diese Notfallknöpfe, aber sie sind eigentlich für akute medizinische Notfälle gedacht – etwa wenn jemand ohnmächtig wird. Was ich mich frage: Wenn mich jemand verbal angreift oder rassistisch oder sexistisch beleidigt, darf ich den Knopf dann auch drücken und Hilfe holen? Das weiß ich nicht. Mir ist völlig unklar, wie U-Bahn-Fahrer*innen in solchen Situationen reagieren würden.
Léa: Ich habe jetzt gerade schon gehört, es hilft dir auf jeden Fall, dich sicherer zu fühlen, wenn du Menschen identifizierst, denen du erstmal zuschreiben würdest, dass sie dir helfen. Gibt es etwas, was dir sonst noch das Gefühl geben würde, dass du sicherer bist, ganz konkret?
Duygu: Ganz konkret. Ja, das ist ein bisschen schwierig. Ich glaube, das hat nicht direkt mit der BVG oder der U-Bahn zu tun. Aber natürlich könnten sie sich stärker mit dem Thema Sicherheit auseinandersetzen – insbesondere mit der Sicherheit von Frauen und von migrantischen Personen.
Wir hören immer wieder, dass auch Fahrer*innen oder Ticketkontrolleur*innen vereinzelt rassistische oder sexistische Bemerkungen machen oder Vorurteile äußern. Das erschwert Betroffenen den Zugang zu Hilfe enorm – sie fragen sich: Kann ich mich an diese Personen überhaupt wenden? Daher wäre es wichtig, dass die BVG stärker in Trainings investiert und Mitarbeitende beschäftigt, die diversitätssensibel geschult sind und wissen, wie sie in solchen Situationen angemessen reagieren.
Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass männlicher Chauvinismus, nationalistisches Denken und Angriffe auf Frauen, feministische Werte und LGBTQ-Personen in der Gesellschaft zunehmend normalisiert werden. Deshalb braucht es unbedingt mehr politische Bildung und Aufklärungsarbeit – und keine weiteren Kürzungen! Wir müssen mehr Räume schaffen, in denen Menschen für diese Themen sensibilisiert werden können.
Die BVG allein kann natürlich nicht alle Nutzer*innen erreichen, aber wenn wir durch politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit dazu beitragen, gesellschaftliche Haltungen zu verändern, schafft das auch mehr Sicherheit für viele Menschen.
Sicherheit ist nie nur eine Frage der Infrastruktur. Duygu: In der U-Bahn gibt es nie einen zu 100 % sicheren Ort, aber man kann daran arbeiten, sie sicherer zu machen. Angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage sowie der Kürzungen verschärft sich die Situation jedoch. Und es kann noch schlimmer werden.
Léa: Also braucht es einmal konkrete Maßnahmen, um betroffene Personen zu schützen, und dann welche, um überhaupt zu verhindern, dass diese Einstellung existiert.
Duygu: Genau. Das ist natürlich nicht nur Aufgabe eines einzelnen Unternehmens, sondern eine gesellschaftliche und politische Verantwortung, an der wir alle gemeinsam arbeiten müssen.
Léa: Ja, auf jeden Fall. Wir arbeiten alle zusammen daran, dass sich die Situation verbessert. Ich danke dir sehr, dass du uns von deinen Erfahrungen erzählt hast. Alles Gute dir!
Was ist wahr und was gefälscht? Diese Unterscheidung ist für unsere Demokratie zentral – und Künstliche Intelligenz macht die Antwort zunehmend schwerer. Wie sollen sich demokratische Organisationen zu einer Technologie verhalten, die als nützliches Tool den Arbeitsalltag erleichtern kann, aber gleichzeitig antidemokratischen Akteur*innen die Manipulation unserer Gesellschaft ermöglicht? Die Amadeu Antonio Stiftung hat gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen der Zivilgesellschaft eine freiwillige Selbstverpflichtung erarbeitet, die der Zivilgesellschaft Orientierung bieten soll und wichtige Grundprinzipien beschreibt.
Von Oliver Saal
Laut einer Befragung aus dem Jahr 2024 haben nur 14 Prozent der deutschen Nichtregierungsorganisationen eine Leitlinie für den Umgang mit KI. Dabei ist anzunehmen, dass die große Mehrheit der Beschäftigten die Technologie verwendet – nur eben weitgehend unreguliert. Doch menschenfeindliche Akteur*innen nutzen generative KI bereits mit der gleichen Selbstverständlichkeit für ihre Propaganda, mit der sie auch schon zu den Erstnutzenden vergangener technischer Neuerungen gehörten. Höchste Zeit also, dass die Zivilgesellschaft die Potentiale der Technologie für emanzipatorische Anliegen ermittelt, testet und praktisch anwendet. Wie das gelingen kann, ohne auf dieselbe manipulative schiefe Ebene zu geraten, die wir antidemokratischen Akteur*innen zu Recht vorwerfen, war bis dato eine Leerstelle.
Der Code of Conduct Demokratische KI ist eine Selbstverpflichtung und Orientierungshilfe für den informierten, reflektierten und verantwortungsbewussten Einsatz von KI. Er wurde in einem einjährigen, partizipativen Prozess von 48 Organisationen der Zivilgesellschaft entwickelt, der von D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt koordiniert wurde. Damit entsteht zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum aus Sicht der Zivilgesellschaft ein gemeinsamer Handlungsrahmen und praktisch handhabbare Prinzipien für die tägliche Praxis, die die Ethik-Leitlinien der UNESCO sowie die den gesetzlich-regulatorischen Rahmen des AI-Acts der EU ergänzen.
Oliver Saal, Referent Digitales bei Civic.net
Im Zentrum des Verhaltenskodex stehen acht Grundprinzipien, zu deren Einhaltung sich die unterzeichnenden Organisationen verpflichten:
Abwägung der Nutzung
Menschenzentrierung
Transparenz
Teilhabe & Partizipation
Diskriminierungskritische Haltung
Verantwortung & Verantwortlichkeit
Kompetenzen
Ökologische Nachhaltigkeit
Acht Grundprinzipien, Foto: Screenshot Website D64
Die Prinzipien stehen gleichberechtigt nebeneinander. Sie beanspruchen Gültigkeit sowohl für Organisationen, die öffentlich zugängliche generative KI-Anwendungen für ihre Arbeit oder das Engagement nutzen, zum Beispiel zur Erstellung von Bildern und Texten. Sie sind ebenso praktisch anwendbar für Projekte, die bereits jetzt oder in Zukunft eigene KI-Lösungen programmieren und anwenden. Der Code of Conduct ist auch offen für alle, die sich bewusst dafür entscheiden, keine Künstliche Intelligenz zu verwenden – denn das ist ein Grundgedanke hinter der Erklärung: KI ist kein Selbstzweck. Als unterzeichnende Organisation verpflichten wir uns, die neue Technologie so einzusetzen, dass demokratische Teilhabe erleichtert, Diskriminierung reduziert und gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt wird. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Technologie auch von denjenigen akzeptiert wird, die beispielsweise von einem neuen Produkt „mit KI“, einer neuen Form KI-gestützter Datenerfassung oder Pflegerobotern betroffen sind. Konkret bedeutet das für die Arbeit der Amadeu Antonio Stiftung, dass wir beispielsweise:
in unserem Kollegium systematisch Kompetenzen zum Einsatz von KI-Systemen aufbauen, etwa durch Fortbildungen;
Inhalte, die überwiegend oder vollständig mit KI entstanden sind, transparent kennzeichnen, insbesondere Bild-, Ton- und Videoerzeugnisse, weil sie ein großes Manipulationspotential haben sowie Übersetzungen;
Beteiligungsmöglichkeiten bei der Auswahl von KI-Systemen in der Belegschaft schaffen;
nachhaltige und datensparsame Lösungen bevorzugen;
Verantwortung für die Ergebnisse von KI-Systemen in unserer Organisation übernehmen.
Für uns steht fest: Technischer Fortschritt ist nur dann ein echter Fortschritt, wenn eine Technologie gesellschaftliche Teilhabe stärkt und Autonomie fördert, zum Beispiel von Menschen mit Behinderung oder eingeschränktem Zugang zu Bildung. Wenn sie Nutzende befähigt, ihre individuellen Potenziale voll auszuschöpfen. Wenn sie Hürden abbaut, Abläufe verbessert und Probleme löst, die vorher nicht oder nur mit erheblichem Ressourcenaufwand lösbar waren. Wenn sie in der Summe also das Leben nicht nur für einige wenige besser macht, sondern das Zusammenleben aller Menschen verbessert und die Zugänge zu Wissen und Möglichkeiten demokratisiert.
Der Antrag „Staatliche Finanzierung der Amadeu Antonio Stiftung aus Bundesmitteln beenden“, den die AfD-Fraktion im Bundestag eingebracht hat, ist inhaltlich schwach, abgeschrieben aus dem Transparenzregister des Bundestages und keine besondere investigative Leistung der AfD – aber dennoch politisch brandgefährlich.
Die AfD will der Stiftung finanziell die Grundlage entziehen – um uns zum Schweigen zu bringen und vor allem um unsere Arbeit zu verhindern. Dazu bringt sie einige altbekannte Vorwürfe gegen die Stiftung ins Feld, die jeder Grundlage entbehren. Wir erklären, warum sie an den Haaren herbeigezogen sind:
Vorwurf Nr. 1: Angeblich „fehlende parteipolitische Neutralität“
Das Gemeinnützigkeitsrecht verlangt nicht Neutralität gegenüber verfassungsfeindlichen Bestrebungen, sondern die Förderung demokratischer Strukturen. Die kritische Auseinandersetzung mit Tendenzen, die unsere freiheitlich demokratische Grundordnung gefährden, ist daher nicht nur rechtlich zulässig. Sie ist sogar notwendig für die Erfüllung des Stiftungszwecks, insbesondere zur Prävention von Rechtsextremismus und Antisemitismus.
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist die Basis für alle gemeinnützigen Initiativen – das gilt auch für die Amadeu Antonio Stiftung. Wir arbeiten im Einklang mit demokratischen Werten: Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Gewaltenteilung, Volkssouveränität und einem starken Mehrparteiensystem.
Ein solches Neutralitätsgebot für die Zivilgesellschaft existiert juristisch nicht. Das Grundgesetz ist nicht neutral gegenüber den Feinden der Demokratie. Und wer es verteidigt, kann und darf es auch nicht sein.
AfD-Lüge Nr. 2: „Mögliche Zweckentfremdung von Mitteln“
Die staatlichen Zuwendungen der Amadeu Antonio Stiftung fließen in bundesweit wirksame Präventions- und Bildungsarbeit. Der Antrag der AfD listet akribisch alle Projektmaßnahmen auf, für die die Stiftung zweckgebundene Zuwendungen der öffentlichen Hand erhält. All diese Informationen sind im Transparenzregister des Bundestags öffentlich einsehbar und alles andere als ein Geheimnis, das die AfD enttarnt.
Die Stiftung bewirbt sich, wie andere Träger auch, mit pädagogischen Konzepten auf Ausschreibungen im Rahmen von Förderprogrammen. Die Anträge werden von Expert*innen nach einem standardisierten Verfahren begutachtet. Der Projektverlauf wird durch wissenschaftliche Einrichtungen evaluiert und die Projekte dabei nach wissenschaftlichen Kriterien und Verfahrensweisen bewertet.
Auch die sachgerechte Verwendung der Mittel wird gründlich geprüft: von den Mittelgeber*innen genauso wie vom Finanzamt. Nachdem die AfD bereits vor zwei Jahren versucht hat, uns die Gemeinnützigkeit aberkennen zu lassen, hat das Finanzamt Berlin uns nach eingehender Prüfung anstandslos bestätigt, dass die Arbeit der Amadeu Antonio Stiftung den Anforderungen der Gemeinnützigkeit entspricht.
Weil die AfD auf diesem Weg gescheitert ist, bringt sie die „Causa Rammstein“ ins Spiel: Dabei geht es um eine Spendenaktion der Amadeu Antonio Stiftung: Sie sammelte auf eine Initiative Prominenter Spenden für Kosten von Anwält*innen- und Therapiekosten von Frauen, die sich im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen den Sänger der Band als Betroffene gemeldet hatten. Dank der überwältigenden Unterstützung konnte die Stiftung die Einrichtung des Fonds Tilda zur Unterstützung von Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt ermöglichen. Die Stiftung informierte darüber völlig transparent sowohl die Öffentlichkeit als auch alle Spender*innen – die die Möglichkeit hatten, ihre Spende zurückzufordern, wenn sie mit der Verwendung nicht einverstanden waren.
Egal ob Spenden oder staatliche Zuwendungen: Die Mittelverwendung der Amadeu Antonio Stiftung ist transparent und wird unabhängig geprüft.
Aber erinnert ihr euch noch an die Spendenskandale der AfD, bei denen es immer wieder um illegale Parteispenden ging?
Tatsachenverdrehung Nr. 3: „Kritische Haltung gegenüber den Grundwerten unserer Gesellschaft“
Die Amadeu Antonio Stiftung steht für die Verteidigung der Grundwerte unserer Gesellschaft: Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet, dass wir Missstände offen benennen, auf gesellschaftliche Gefahren hinweisen und Menschen stärken, die sich aktiv für eine offene Gesellschaft einsetzen.
Wenn die AfD dies als „kritische Haltung gegenüber den Grundwerten“ darstellt, verkennt sie nicht nur unsere Arbeit, sondern offenbart gleichzeitig ihre eigene Agenda: Wer die Verteidigung demokratischer Prinzipien als Problem ansieht, hat selbst die Grundwerte unserer Gesellschaft nicht verinnerlicht.
Eine Demokratie lebt von kritischen Stimmen, von Debatte, von Aufklärung und freier Meinungsbildung. Wer kritische Stimmen mundtot machen will, wie es die AfD mit ihrem Antrag gegen die Stiftung beabsichtigt, will die Meinungsfreiheit einschränken und die Demokratie in ihren Grundfesten angreifen. Welche Grundwerte die AfD vertritt, lässt sich im Gutachten des Verfassungsschutzes zur Einstufung als „gesichert rechtsextremistisch“ nachlesen.
Verleumdung Nr. 4: „Verbindungen in ein politisch extremes Umfeld“
Die AfD wirft der Stiftung „Verbindungen in ein politisch extremes Umfeld“ vor – und das ist vor allem eine Aussage über die Rechtsextremen selbst. Die Stiftung ist extrem demokratisch und vernetzt in eine bundesweite Landschaft des Engagements gegen Rechtsextremismus und für Demokratie.
Es wundert nicht, dass das die AfD stört, ist sie doch selbst der parlamentarische Arm eines gewaltbereiten Rechtsextremismus, mit Verbindungen ins Reichsbürger-Milieu bis hin zum Rechtsterrorismus. Im März 2024 ergaben Recherchen des Bayerischen Rundfunks, dass die Partei im Bundestag mehr als 100 Personen aus Steuermitteln beschäftigt, die von deutschen Verfassungsschutzämtern als rechtsextrem eingestuft werden.
Die regelmäßige Diffamierung und Verleumdung der Amadeu Antonio Stiftung durch Rechtsextreme hat konkrete Folgen: Die Stiftung und ihre Mitarbeiter*innen sind seit Jahren regelmäßig Ziel von Hass und Bedrohungen bis hin zu Morddrohungen, wie BKA und LKA bestätigen. Die Stiftung und die langjährige Vorsitzende Anetta Kahane standen auf rechtsextremen Feindeslisten; der rechtsextreme Bundeswehroffizier Franco A. hatte die Büros der Stiftung ausgespäht und als potenzielles Anschlagsziel ins Auge gefasst.
Pseudo-Skandal Nr. 5: „Staatliche Alimentierung von Denunziantentum“
In ihrem Antrag bringt die AfD die Meldestelle Antifeminismus ins Spiel, die im Rahmen einer staatlichen Förderung ins Leben gerufen wurde. Die Anlaufstelle verfolgt das Ziel, Betroffenen Unterstützungsangebote zu vermitteln und Erfahrungen und Perspektiven sichtbar zu machen. Alle Meldungen und Daten werden anonymisiert. Damit kommt die zivilgesellschaftliche Erhebung einem Bedarf nach, den bereits 2021 die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Bekämpfung von geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichteten Straftaten“ formulierte. Denn antifeministische Vorfälle wurden bisher nicht systematisch erfasst. Die Meldestelle unterstützt so Rechtsstaat und Politik, verbessert den Opferschutz und trägt dazu bei, dass Bedrohungen und Gewalt gegen Frauen, queere Personen und geschlechtliche Minderheiten auf empirischer Basis ernst genommen werden. Seit 2025 ist die Meldestelle bei einem neuen Träger mit einer weiterentwickelten Konzeption aufgehangen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die AfD gegen ein angebliches „Denunziantentum“ wettert, während sie selbst mit ihrem Portal „Neutrale Schule“ zum Melden von Lehrkräften aufruft, die vermeintlich gegen das Neutralitätsgebot verstießen, sowie das „Meldeportal – Gewalt an Schulen“.
Skandalisierung Nr. 6: Die Vergangenheit von Anetta Kahane
Unter den „Skandalen“, die die AfD der Stiftung zuschreibt, listen die Rechtsextremen auch die Vergangenheit der Stiftungsgründerin Anetta Kahane auf. Ihre frühere – und längst aufgearbeitete – Tätigkeit für die Staatssicherheit der DDR mache sie und die von ihr gegründete Amadeu Antonio Stiftung unglaubwürdig im Einsatz für Demokratie und Menschenrechte. Kahane wurde als Jugendliche in der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit erpresst, eine Zusammenarbeit einzugehen, die sie aus eigenem Entschluss mehrere Jahre vor dem Ende der DDR beendete – mit erheblichen persönlichen und beruflichen Konsequenzen. Seither setzt sich Kahane unermüdlich für Demokratie, Minderheitenschutz und jüdisches Leben in Deutschland ein. Als Jüdin und Vorkämpferin gegen Rechtsextremismus wurde sie unter Rechtsextremen zur Projektionsfläche, zum Feindbild Nummer 1. schlechthin und wird bis heute systematisch angefeindet, auch als Symbolfigur einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“, einer zutiefst antisemitischen Erzählung. Nach 1989 hat sie ihre Geschichte offen aufgearbeitet und ein unabhängiges Gutachten über ihre Stasi-Akte veröffentlichen lassen. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass aus der Stasi-Tätigkeit Anetta Kahanes niemandem persönliche Nachteile entstanden sind.
Anetta Kahane hat den Vorsitz der Stiftung 2022 abgegeben. Bis heute wird sie genau wie die Stiftung mit der Stasi-Vergangenheit konfrontiert, obwohl diese vollumfänglich aufgearbeitet wurde.
Es ist schon verwunderlich, dass gerade die AfD eine Stasi-Vergangenheit so sehr in den Fokus rückt. Denn die AfD hat selbst mehrere hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter in den eigenen Reihen und sogar in Landesparlamente und den Bundestag gesetzt. Und das, obwohl sie diese Tätigkeit teils bis zum Ende der DDR ausgeübt und nie aufgearbeitet haben.
Maßlose Übertreibung Nr. 7. „Stiftung ist immer wieder in Skandale verwickelt“
All die oben genannten Vorwürfe lässt die AfD in ihrem Antrag in ein pauschales Urteil über die Stiftung münden: Die Amadeu Antonio Stiftung sei „immer wieder in Skandale verwickelt, die eine Förderung aus Bundesmitteln für die Zukunft ausschließen“. Inwiefern die leicht zu entkräftenden Tatsachenverdrehungen der Rechtsextremen einen solchen Ausschluss begründen, lassen sie offen.
Die vermeintlichen Skandale inszeniert im Wesentlichen die AfD selbst. Unterstützt werden die parlamentarischen Angriffe von einem Netzwerk rechts-alternativer Medien, die Fakten verzerren und irreführende Informationen verbreiten.
Trotz der Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ fließen weiterhin gewaltige Summen staatlicher Gelder an die Partei und ihre Kader. Mehr als 120 Millionen an Steuermitteln zahlt der Bund Jahr für Jahr an eine Partei, deren Verfassungsmäßigkeit in Frage steht, die Grundsätze des Rechtsstaats und Menschenrechte in Frage stellt und die Demokratie angreift – und das nur für ihre Wahlerfolge auf Bundesebene. Eine gewaltige Finanzspritze für die rechtsextreme Landnahme und die Finanzierung ihres Vorfelds.
Das Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover hat zum Ziel, Forschungs- und Transferaktivitäten auf den Feldern von Politischer Bildung und Demokratiepädagogik, Geschichte und Erinnerungskultur sowie den sozialen Herausforderungen der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu bündeln und zu profilieren. Wir haben eine der leitenden wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen interviewt:
Liebe Frau Dr. Elisaveta Firsova-Eckert, was sind Ihrer Meinung nach Gründe, weshalb Menschen an Verschwörungserzählungen glauben?
Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen an Verschwörungstheorien glauben. Aktuelle Forschungsbefunde und theoretische Auseinandersetzungen verweisen dabei auf verschiedene Faktoren. Psychologisch spielen Bedürfnisse nach Sicherheit und Kontrolle in unsicheren Zeiten eine wichtige Rolle. Auf sozialer Ebene kann der Glaube an Verschwörungen eine positive Selbstwahrnehmung stützen, etwa durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich als „wissender“ oder „kritischer“ gegenüber den vermeintlich naiven Eliten oder der Mehrheitsgesellschaft versteht. Hinzu kommen identitäts- und sinnstiftende Motive sowie existenzielle Gründe – etwa der Wunsch, sich in einer komplexen, unsicheren und mehrdeutigen Welt an Klarheit und Eindeutigkeit festhalten zu können.
Darüber hinaus geht man heute davon aus, dass es eine Art Verschwörungsmentalität gibt – eine relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft, die mit einer kognitiven Offenheit für die Idee verbunden ist, dass „hinter allem“ eine Verschwörung steckt. Wer an eine Verschwörungstheorie glaubt, ist daher häufig auch für weitere anfällig, selbst wenn diese sich inhaltlich widersprechen.
Gleichzeitig dürfen diese Erklärungsansätze nicht darüber hinwegtäuschen, dass sicherlich noch viele psychologische Prädispositionen und Einstellungen, die den Glauben an Verschwörungstheorien beeinflussen, bislang nicht hinreichend erforscht sind. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf. Hinzu kommt, dass wir aktuell in gesellschaftlich und politisch instabilen Zeiten leben, die zudem stark digital geprägt sind. Diese Konstellation wirkt wie ein Brennglas: Sie fördert die Verbreitung von Verschwörungstheorien und trägt zugleich dazu bei, dass diese gesellschaftlich bereitwilliger akzeptiert werden.
Sie haben sich wissenschaftlich mit dem Wirken von Demokratiebildung an niedersächsischen Schulen befasst. Wie kann Bildungsarbeit Verschwörungsdenken an Schulen begegnen?
Bei der Studie „DebiS“: Die DemokratibildungsStudie Niedersachsen haben wir uns angeschaut, inwieweit der Demokratiebildungserlass aus dem Jahr 2021 dazu geführt hat, dass Lehrkräfte sich bestätigt gefühlt haben, Demokratiebildung aktiv zu betreiben, und auch ihre generellen Einstellungen und Vorstellungen zu zentralen Demokratiebildungsaspekten erfasst. Auch bei Verschwörungstheorien kann man natürlich mit Steuerungselementen wie Erlassen, z. B. zur Förderung der digitalen Medienkompetenz, vorgehen. Ich denke aber, dass das nur die Oberfläche berühren würde und auch viele Lehrpersonen überfordern könnte, sich auf einmal – als Querschnittsaufgabe – in ein doch sehr spezifisches Feld einzuarbeiten.
Zentral ist im Umgang mit Verschwörungstheorien deshalb das Thema Prävention. Studien zeigen, dass Interventionen nur begrenzt wirksam sind. Prävention bedeutet hingegen, Lernende frühzeitig in die Lage zu versetzen, Muster von Verschwörungsdenken zu erkennen, deren Attraktivität kritisch zu reflektieren und alternative Deutungen zu entwickeln. Hierbei könnten mehrere Ansatzpunkte eine Rolle einnehmen, wie z. B.:
Kritisches Denken und Argumentationsfähigkeit: Schülerinnen und Schüler sollten üben, Informationen zu hinterfragen, Widersprüche zu erkennen und eigene Positionen argumentativ abzusichern.
Medien- und Informationskompetenz: Gerade die Rolle sozialer Medien als Resonanzraum für Verschwörungserzählungen muss stärker in den Blick genommen werden – wie funktionieren Algorithmen, Desinformationskampagnen, wie vermitteln verschwörungstheoretische Influencer und was sind klassische verschwörungstheoretische Codes?
Demokratiepädagogische Erfahrungen: Demokratiebildung bleibt nicht bei der Wissensvermittlung stehen, sondern eröffnet Erfahrungsräume, in denen Schülerinnen und Schüler Selbstwirksamkeit erleben, Teilhabe praktizieren und demokratische Aushandlungsprozesse nachvollziehen können. Das stärkt Resilienz gegenüber einfachen, verschwörungsideologischen Erklärungsmustern.
Was wünschen Sie sich als Wissenschaftlerin für die Fortentwicklung des Präventionsfelds im Bereich Verschwörungsdenken und Verschwörungserzählungen?
Zum einen halte ich eine stärkere Wirkungsforschung für notwendig. Zwar gibt es bereits viele gute und spannende Initiativen und Maßnahmen zur Bekämpfung von Verschwörungstheorien, doch wissen wir bislang nur wenig darüber, ob sie tatsächlich die intendierte Wirkung entfalten und wie nachhaltig ihre Effekte sind. Eine systematische Begleitforschung, die Maßnahmen und ihre Zielgruppen über einen längeren Zeitraum in den Blick nimmt, könnte hier wichtige Erkenntnisse liefern und bislang wenig erschlossene Bereiche erhellen.
Ein zweiter Punkt betrifft die Finanzierung. Viele Initiativen existieren nur so lange, wie es die jeweilige Förderung erlaubt. Verschwörungstheorien hingegen sind robust und dauerhaft präsent – dieses Missverhältnis schwächt den präventiven Ansatz. Maßnahmen sollten daher so finanziell abgesichert sein, dass Bildungsinitiativen und Präventionsprojekte die nötige Zeit und Reichweite haben, um wirklich in der Breite anzukommen. Andernfalls profitieren lediglich einzelne Jahrgänge von den Angeboten, während nachfolgende Klassen wieder neu nach Alternativen suchen müssen. Eine verlässliche Finanzierung könnte zudem nachhaltige Kooperationen zwischen Anbietern und Schulen sichern.
Abschließend möchte ich als Forscherin mit einem Fokus auf Antisemitismus betonen, dass Präventionsmaßnahmen die enge Verbindung von Verschwörungstheorien und Antisemitismus noch stärker berücksichtigen sollten. Nahezu jede Verschwörungserzählung weist einen antisemitischen Kern auf. Dennoch werden zentrale Codes und Chiffren von vielen (Pädagog*innen als auch Lernenden) oft nicht erkannt. Eine Sensibilisierung für diese Verbindung ist besonders in der aktuellen Situation dringend geboten, in der Antisemitismus in Deutschland wieder vehementer und entgrenzter zutage tritt.
In jedem Newsletter testen wir ein anderes Tool im Internet, das über Verschwörungserzählungen aufklärt oder Nutzer*innen dabei hilft, mit diesen im Alltag zurecht zu kommen. In dieser Ausgabe stellen wir ein Quiz der EU-Initiative Klicksafe.de vor.
Auf der Webseite Klicksafe.de gibt es verschiedene Informationen, Tools oder Hilfen für Kinder, Jugendliche und Fachkräfte rund um das Internet und Social Media. Seit 2020 gehört hierzu auch ein kurzes Quiz über Verschwörungserzählungen. Das Quiz besteht aus zehn Fragen, durch die sich die Nutzer*innen klicken können. Insgesamt stehen mehr als zehn Fragen zur Verfügung, das heißt, wer das Quiz mehrfach hintereinander ausprobiert, kann sich über jeweils zufällig zusammen gestellte Fragen freuen. Das Quiz besteht einerseits aus Wissensfragen zum Thema. Zum Beispiel wird gefragt, seit wann es Verschwörungserzählungen gibt oder wie die Definition einer realen Verschwörung lautet. Andererseits werden auch Fragen zu konkreten Verschwörungserzählungen gestellt, so dass beispielsweise Narrative zur Thematik Covid-19 benannt werden müssen. Ein dritter Komplex von Fragen widmet sich dem Thema Medienkompetenz. So müssen Nutzer*innen die Merkmale von Falsch-Informationen, wie beispielsweise reißerische Überschriften, welche die Wahrheit verkünden, identifizieren. An einer Stelle können die Nutzer*innen auch ein Video der Sozialpsychologin Pia Lamberty anschauen, um hieraus Wissen zu generieren.
Insgesamt erscheint das Quiz modern, abwechslungsreich und nutzer*innenfreundlich. Positiv fällt auf, dass nach jeder Frage die richtige Antwort eingeblendet wird und dass die Nutzer*innen noch eine zusätzliche Information erhalten. Auch die Idee, am Ende ein klares, verständliches Ergebnis samt Zertifikat zu erhalten, dürfte die Attraktion des Tools steigern. Das Quiz eignet sich sowohl für die individuelle Anwendung, als auch für die Integration in den Unterricht oder die Projektarbeit von Fachkräften. Auf der Webseite Klicksafe.de können noch weitere passende Quiz besucht und genutzt werden, so zum Beispiel eines zum Thema Falschinformation.
Etwas stört die zentrale Bedeutung der Thematik Covid-19, welche auf das Ursprungsjahr des Tools hinweist. Hier wäre es wünschenswert, dass die Produzent*innen eine neue Version anbieten, die aktuellere Beispiele für Verschwörungserzählungen enthält. Um noch mehr Klarheit in Bezug auf die Begriffe und Phänomene Verschwörungserzählung und reale Verschwörung herzustellen, könnten weitere Fragen gestellt werden. Beispielsweise wäre es spannend, wenn den Nutzer*innen verschiedene Ereignisse genannt werden, wobei dann jeweils zu realer Verschwörung oder Verschwörungserzählung zugeordnet werden muss. Hierbei könnte auch nochmal auf die zentralen Unterschiede (z.B. Aufklärung realer Verschwörungen durch Journalismus oder Geschichtswissenschaft) hingewiesen werden. Eine weitere Idee wäre noch mehr Fokus auf das Erkennen von Verschwörungserzählungen zu legen. So könnten Nutzer*innen die zentralen Merkmale einer Verschwörungserzählung aufzählen müssen.
Ähnlich wie bei anderen Tool-Tests müssen wir auch hier darauf hinweisen, dass das Quiz wohl nicht Menschen erreichen wird, die bereits über ein ausgeprägtes Verschwörungsdenken verfügen. Es setzt vielmehr auf eine interessierte, neugierige und offene Zielgruppe, die sich allein oder in der Gruppe zum Thema informieren möchte. Wir empfehlen das Quiz auch für die Arbeit im Politik-Unterricht der Schulen oder für die Politische Bildungsarbeit.
In der dritten Förderperiode des Bundesprogramms Demokratie leben! sind 2025 sieben Innovationsprojekte im Themenbereich „Verschwörungsdenken und weitere demokratiefeindliche Phänomene“ gestartet. Wir stellen Sie Ihnen in diesem und dem nächsten Newsletter vor.
„Wir als Spielball von denen da oben!?“ ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Humanistischen Jugendwerk Cottbus e.V. und BildungsBausteine e.V. und richtet sich an pädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte, Jugendliche, junge Erwachsene sowie engagierte Akteur*innen der Zivilgesellschaft. Ziel ist es, Handlungssicherheit im Umgang mit Verschwörungserzählungen zu fördern, Medienkompetenz zu stärken und demokratische Werte zu verteidigen. Durch Fortbildungen, Workshops und interaktive Methoden unterstützt das Projekt dabei, Wissen zu vermitteln, Haltung zu reflektieren und vielfältige Reaktionsmöglichkeiten im pädagogischen Alltag zu entwickeln. Im Verlauf des Projektes sollen Fortbildungen auch in Sachsen angeboten werden und am Ende auch eine Methodenveröffentlichung entstehen, die einen Schwerpunkt auf den Umgang mit Verschwörungserzählungen in Sozialen Medien legt.
„Ökonomische Mythen und Projektion – Präventive Bildungsarbeit gegen wirtschaftlich begründeten Antisemitismus“ ist ein Projekt von HATiKVA e.V. – Die Hoffnung, Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen. Kernzielgruppe sind Fachkräfte in der Jugendarbeit. Zunächst wird eine Situations- und Bedarfsanalyse vorgenommen, um passende Methoden und Hilfestellungen zu entwickeln, zu erproben, zu publizieren und in Regelstrukturen zu transferieren. Die Fachkräfte sollen antisemitische und verkürzte Kapitalismuskritik im beruflichen Kontext erkennen und handlungssicher damit umgehen.
„TRUST HUB – Hybrid. Vertrauen. Bilden“ ist ein Projekt von Drudel 11 e.V. in Jena mit der Hauptzielgruppe Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Weil zunehmend krisenhafte Vertrauensbeziehungen die Anfälligkeit für Verschwörungsdenken begünstigen, braucht es Konzepte zum Thema Vertrauen in der Bildungsarbeit. An die jeweiligen Bedarfe anpassbare Workshopeinheiten zur Stärkung von Vertrauen als Selbst- und Sozialkompetenz und zur Irritation von Verschwörungsdenken werden entwickelt und umgesetzt.
KI oder Künstliche Intelligenz breitet sich in unserer heutigen Arbeits- und Freizeitwelt immer mehr aus. Während noch für fünf Jahren die meisten eine Information über eine Suchmaschineneingabe oder das Nachlesen bei Wikipedia abgerufen haben, dürften heute schon viele Menschen KI-Chatbots wie beispielsweise ChatGPT von der Firma OpenAI aus Kalifornien verwenden. Auch bei der Datenanalyse hilft KI, so dass es beispielsweise möglich wird, das millionenfache Nutzer*innenverhalten im Internet binnen Sekunden live auszuwerten. Helfen uns diese Entwicklungen, um neue Strategien oder Ansätze zu bilden, mit Verschwörungserzählungen besser zurecht zu kommen? Oder birgt das KI-Zeitalter sogar mehr Gefahren?
Wer schon einmal den Selbstversuch mit ChatGPT gestartet hat, den KI-Chatbot nach der Wahrheit beziehungsweise Plausibilität einer beliebigen Verschwörungserzählung zu fragen, wird vielleicht von zwei Dingen überrascht gewesen sein: Zum einen, fällt auf, mit welcher empathischen und sachorientierten Gesprächsform die KI auf unsere Verschwörungserzählung reagiert. Wenn man an die Wahrheit dieser glaubt, wird man von der KI ernst genommen, die eigenen Sichtweisen oder Argumente werden bewusst in die Gegenrede der KI eingebaut. Somit verliert sich das Gefühl, dass man selbst nicht zum Nachdenken beziehungsweise kritischen Denken befähigt ist. Zum anderen, kann die KI mit einem sehr großen Fundus an Wissen über die Verschwörungserzählung überzeugen. Selbst Nachfragen zu Sachverhalten, die eigentlich nur in der Szene von Verschwörungsüberzeugten bekannt sind, werden von der KI reflektiert und konsequent beantwortet. Zudem werden immer wieder spannende Hintergrundartikel wie Studien, englischsprachige Zeitungsartikel oder TV-Dokumentationen erwähnt und verlinkt. Es besteht also wirklich eine Chance, dass KI-Chatbots Menschen dabei helfen können, die Echtheit einer Verschwörungserzählung zu überprüfen. Generierte Inhalte durch ChatGPT können allerdings auch Fehler enthalten oder unvollständig sein. Eine Nutzung sollte immer mit kritischem Sachverstand erfolgen.
Mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit, dass Nutzer*innen durch ChatGPT in eine kritische Distanz zu Verschwörungstheorien gebracht werden, bleibt anzumerken: Einerseits ist es unwahrscheinlich, dass eine sehr überzeugte Person bewusst nach Gegenerzählungen sucht, da sie eine tiefe intrinsische Motivation besitzt, der eigenen Erzählung zu glauben. Andererseits ist der Grund, weshalb ChatGPT so auf uns reagiert, schlicht in der Art der Programmierung zu finden. Sowohl der Stil der KI als auch ihr generiertes Wissen basieren auf den Programmiervorgaben der Produzent*innen. Und hier gilt: Je mehr ein Produzent ein Problembewusstsein für Falsch- und Desinformation besitzt, desto wahrscheinlicher ist eine kritische Datenverwendung. Die Firma OpenAI achtet bewusst darauf, dass ChatGPT nicht dafür verwendet wird, um KI-erstellte Texte oder Bilder für staatliche oder nicht-staatliche Desinformationskampagnen zu nutzen. Im Frühjahr 2025 berichteten verschiedene Medien, u.a. das Handelsblatt, dass OpenAI entsprechende Kampagnen aus Russland oder dem Iran gestoppt habe.
Dass es auch anders ginge, zeigt das Beispiel der relativ neuen KI aus dem Hause Elon Musk. Grok von der Firma xAI wird derzeit sowohl via X (ehemals twitter) als auch in Form einer Smartphone-App oder Webseite angeboten. Der Selbstversuch des Autors mit Grok und der Überprüfung einiger bekannter Verschwörungserzählungen ergab, dass auch hier die KI sehr freundlich und sachbezogen antwortet. Zugleich werden hier durchaus auch Argumente der Verschwörungsüberzeugten dargestellt und nicht sofort verworfen. Wer die Antworten von Grok mit einer grundsätzlich offenen Haltung liest, kommt am Ende dennoch wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass die Echtheit vieler bekannter Verschwörungserzählungen in Zweifel zu ziehen ist. Wer aber mit einer gewissen Neigung zu Verschwörungserzählungen mit Grok spricht, kann hier auch Bestätigung für sein Denken finden. Grok erwies sich im Selbstversuch nicht unbedingt gefährlicher als ChatGPT, zeigte aber, dass das Antwortverhalten der KI durchaus veränderbar ist. Anders als OpenAI besitzt Grok eine direkte Schnittstelle zur Plattform X und integriert Millionen von Postings auf X bei der Generierung von Antworten. Seit der Übernahme von twitter durch Elon Musk und die Umbenennung der Plattform in X stieg die Anzahl extremistischer Inhalte laut Verfassungsschutz Baden-Württemberg enorm an.
Ein Artikel des Schweizer Fernsehens vom 20. Mai 2025 befasst sich mit dem Vorwurf, dass Inhalte von Grok direkt durch Mitarbeitende der Musk-Firma xAI beeinflusst werden. Konkret ging es um das Thema eines angeblichen Suizids an weißen Farmern in Südafrika sowie um Kritik an der neuen Trump-Regierung in den USA. Musk und xAI bestritten dies und machten das individuelle, aber nicht systematische Fehlverhalten von Mitarbeitenden der Firma verantwortlich. Aber auch gegenüber ChatGPT von OpenAI gibt es Kritik. Die Tagesschau berichtete am 24. März 2025 über massenhafte Versuche, das Antwortverhalten von ChatGPT durch russische Desinformation zu beeinflussen. Dabei wird offenbar ausgenutzt, dass ChatGPT seine Antworten durch das Scannen und Analysieren von Webseiten-Inhalten generiert. Der Vorwurf lautete, dass das russische Pravda-Netzwerk extra Webseiten-Inhalte so erstellt, dass diese weniger von echten Nutzer*innen, dafür aber von KI-Chatbots wahrgenommen werden. Beide Beispiele machen deutlich: KI ist fehleranfällig und kann manipuliert werden.
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass gemäß einer Umfrage des Allensbach Instituts bereits 25% der Deutschen KI-Systeme wie ChatGPT nutzen, sollte die Bildungs- und Beratungsarbeit sowohl Chancen als auch Risiken in der Nutzung von KI im Kontext Verschwörungsdenken sehen. Vorstellbar wäre zum Beispiel, gemeinsam mit einem Klienten oder mit Teilnehmenden mit Hilfe von KI das Antwortverhalten zu Verschwörungserzählungen zu betrachten und auszuwerten. Dass KI durchaus hilfreich sein kann, zeigt aktuell das Tool www.debunkbot.com. Hier haben Wissenschaftler*innen amerikanischer Universitäten einen extra Chat-Bot geschaffen, der zum Dialog über die Wahrheit von Verschwörungserzählungen einlädt. Wenn man in der Dateneingabe beim Start angibt, dass man das Tool zu Testgründen nutzt, lässt sich ebenso ein Selbstversuch machen. Kleiner Tipp: Geben Sie dabei an, dass Sie Ihre Antwort in deutscher Sprache benötigen.
Die AfD hat im Bundestag einen Antrag gestellt, der die staatliche Förderung der Amadeu Antonio Stiftung beenden soll. Die Konsequenzen wären weitreichend: Vor allem vier Projekte der Stiftung, die unmittelbar demokratisches Engagement, politische Bildung und den Schutz von Betroffenen stärken, stünden auf der Kippe.
Die Arbeit der Stiftung ist vielfältig: Sie fördert und begleitet Initiativen vor Ort, stärkt Engagierte, berät Schulen, Kommunen und Jugendgruppen, führt Workshops und Fachveranstaltungen durch und erstellt wissenschaftlich fundierte Publikationen. Auf diese Weise schafft die Stiftung Strukturen, die Demokratie, Toleranz und Menschenrechte stärken.
Die Stiftung ist anerkannter und geprüfter Träger der politischen Bildung, bewirbt sich mit pädagogischen Konzepten auf Ausschreibungen und wird regelmäßig wissenschaftlich evaluiert. Der Abschlussbericht 2020–2024 des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ bestätigt die erfolgreiche Förderung demokratischer Strukturen, die Erhöhung der Resilienz gegen extremistische Tendenzen, die Gestaltung von Vielfalt und die Förderung von Innovationen. Kurz gesagt: Die Arbeit der staatlich geförderten Projekte ist wirksam. Genau deshalb sind sie den Rechtsextremen ein Dorn im Auge.
Wir stellen die vier Projekte der Stiftung vor, die in erster Linie von einem Entzug der Fördermittel betroffen wären:
Wie begegnet man wachsendem Hass, rechtsextremer Propaganda und Desinformation im Alltag? Genau hier setzt der Kooperationsverbund Rechtsextremismusprävention (KompRex) an. Unter der Koordination der Amadeu Antonio Stiftung arbeiten sechs bundesweit erfahrene Organisationen zusammen, um Politik, Schulen, Medien und Verwaltung zu beraten, fortzubilden und handlungsfähig zu machen – überall dort, wo rechtsextreme Strukturen und Ideologien sichtbar werden.
Der Kooperationsverbund sorgt dafür, dass Menschen wissen, wie sie rechtsextremen Einfluss erkennen und ihm wirksam entgegentreten können. Dazu gehören regelmäßige Sicherheitssprechstunden für bedrohte Initiativen, Beratung für Schulen und Kommunen, die mit rechtsextremen Jugendgruppen konfrontiert sind, und die Entwicklung praxisnaher Konzepte für den Umgang mit aktuellen Herausforderungen.
Als Russland 2022 die Ukraine überfiel, war der Verbund eine der ersten Stellen, die auf Desinformationskampagnen und pro-russische Narrative hinwies, die auch von deutschen Rechtsextremen verbreitet wurden. Heute – wo bekannt wird, dass rechtsextreme Akteur*innen gezielt versuchen, parlamentarische Prozesse zu missbrauchen – zeigt sich, wie wichtig diese Arbeit ist: Frühzeitige Aufklärung schützt unsere Demokratie.
Der Kooperationsverbund Rechtsextremismusprävention (KompRex) wird Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ durch das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) gefördert.
Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus – der bundesweit größte Zusammenschluss gegen Judenhass
Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus sind das bundesweit größte Bündnis für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Judenhass. Seit 2003 setzt die Stiftung gemeinsam mit dem Anne Frank Zentrum ein starkes Zeichen für Aufklärung, Empathie und Zusammenhalt. Seit dem Beschluss des Kabinettausschusses gegen Rechtsextremismus und Rassismus im Jahr 2021 sind die Aktionswochen fest im Bundeshaushalt verankert – als dauerhaftes Signal staatlicher Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus. Jedes Jahr vernetzt das Projekt hunderte Initiativen, jüdische Gemeinden und Organisationen in ganz Deutschland. 2025 werden über 200 Veranstaltungen in 60 Städten sowie eine bundesweite Plakatkampagne an über 1.000 Standorten stattfinden. Angesichts des Anstiegs antisemitischer Vorfälle seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel ist diese Arbeit wichtiger denn je. Die Aktionswochen leisten bundesweit Aufklärung, Prävention und Vernetzung – und sind heute ein zentraler Pfeiler der Antisemitismusbekämpfung in Deutschland.
Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus werden gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, der im Bundesministerium des Innern (BMI) angesiedelt ist.
Good Gaming Support – Bildungs- und Beratungsarbeit in digitalen Spielräumen
Digitale Spielräume sind längst ein zentraler Teil unserer Alltagskultur – Millionen Menschen begegnen sich dort täglich. Doch auch hier breiten sich Hass, Rassismus und Antisemitismus aus. Das Projekt Good Gaming Support der Amadeu Antonio Stiftung setzt genau hier an: Es stärkt demokratische Werte im Gaming, unterstützt engagierte Spieler*innen, Streamer*innen und Entwickler*innen – und schützt sie vor Anfeindungen.
Das Team berät, bildet fort und sensibilisiert – damit Gaming-Communities zu sicheren, offenen und respektvollen Räumen werden. In Kooperation mit großen Partnern wie der Gamescom, dem Deutschen Computerspielpreis oder Magazinen wie PC Games und GameStar bringt das Projekt demokratische Haltung und gesellschaftliche Verantwortung sichtbar in die Branche.
Zugleich qualifiziert Good Gaming Support Multiplikator*innen, Politiker*innen und Behörden darin, das demokratische Potenzial von Games zu erkennen und digitalem Hass entschieden entgegenzutreten. Auch im digitalen Raum braucht Demokratie starke Verbündete – und genau das leistet dieses Projekt jeden Tag.
Das Projekt Good Gaming Support wird Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ durch das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) gefördert.
Entschwörung lokal – Verschwörungsdenken erkennen, Handlungsspielräume erweitern
Verschwörungserzählungen sind längst mitten in unserer Gesellschaft angekommen. Sie spalten Familien, säen Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen – und schaffen den Nährboden für Hass und Ausgrenzung. Besonders Erwachsene sind anfällig, denn wo Meinungen gefestigt sind, ist es oft schwer, neue Perspektiven zu eröffnen.
Genau hier setzt Entschwörung lokal an. Das Projekt stärkt Vereine und Verbände – also genau jene Orte, an denen Menschen sich begegnen, engagieren und miteinander im Gespräch bleiben. Sie sind entscheidend, wenn es darum geht, Desinformation und Verschwörungsglaube im Alltag etwas entgegenzusetzen.
Entschwörung lokal bietet praxisorientierte Workshops, Trainings und Beratungen für Haupt- und Ehrenamtliche, die vor Ort Verantwortung übernehmen. Ob in Sportvereinen, Freiwilligendiensten oder Kommunalprojekten: Das Team unterstützt Engagierte dabei, Verschwörungsnarrative zu erkennen, zu entschlüsseln und selbstbewusst darauf zu reagieren.
Das Projekt hilft, demokratische Resilienz zu stärken, Handlungssicherheit zu gewinnen und in hitzigen Debatten ruhig und klar zu bleiben – gerade in Zeiten, in denen Fakten oft in Frage gestellt werden. Demokratie braucht Menschen, die einander zuhören, aufklären und Brücken bauen – genau das leistet Entschwörung lokal.
Das Projekt Entschwörung lokal wird gefördert durch das Bundesministerium des Innern (BMI) im Rahmen des Bundesprogramms „Zusammenhalt durch Teilhabe“.
Es geht um mehr als nur Projekte
Die Beendigung der staatlichen Finanzierung würde nicht nur ein einzelnes Projekt betreffen, sondern die Systemrelevanz der Demokratieförderung insgesamt. Die geförderten Projekte, die der Demokratieförderung dienen, stehen den antipluralistischen und antidemokratischen Vorstellungen der Rechtsextremen diametral entgegen. Sie beraten, bilden, schützen, helfen – und tragen so unsere Demokratie.
Umso wichtiger ist es deshalb jetzt, Anträge und Redebeiträge, die zivilgesellschaftliche Organisationen diffamieren oder delegitimieren, entschieden zurückzuweisen. Politik muss verlässliche Rahmenbedingungen für dieses Engagement schaffen – sie muss es schützen und als unverzichtbare Säule der Demokratie anerkennen. Demokratiearbeit ist kein Luxus,
Seit Wochen sind die Amadeu Antonio Stiftung und ihre Projekte wieder einmal Ziel rechtsextremer Kampagnen. Die AfD hat im Bundestag beantragt, die Förderung der Stiftung durch Bundesmittel zu stoppen. Gleichzeitig hetzen rechtsalternative Medien wie Nius oder Apollo News gegen die Stiftung. Dabei geht es nicht um einzelne Kritikpunkte, sondern um eine politische Strategie: Rechtsaußen will die demokratische Zivilgesellschaft schwächen, indem Akteur*innen der Antisemitismusbekämpfung diskreditiert werden. Sie schaffen eine Atmosphäre des Misstrauens – und das trifft nun auch die „Aktionswochen gegen Antisemitismus“.
Von Stefan Lauer
Ein Gespräch mit Dr. Nikolas Lelle, Leiter der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung, über eine Kampagne von Rechtsaußen, Gegenwind bei der Antisemitismusbekämpfung und die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements.
Nikolas Lelle leitet seit 2020 die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus bei der Amadeu Antonio Stiftung. Er beschäftigt sich vornehmlich mit Antisemitismuskritik, Erinnerungskultur und Gesellschaftstheorie. Er hat in Frankfurt am Main und Mainz Philosophie und Soziologie studiert und an der HU Berlin promoviert. Zuletzt erschien von Lelle „,Arbeit macht frei’. Annäherungen an eine NS-Devise“. 2026 kommt „Antisemitismus definieren. Eine Anleitung zum Abgrenzen“ zusammen mit Tom Uhlig.
Immer mehr Desinformation, Antisemitismus in allen politischen Lagern: Unter welchen Eindrücken finden die Aktionswochen im Herbst 2025 statt? Was ist der aktuelle Stand in Sachen Antisemitismus in Deutschland? Nikolas Lelle: Wir haben die Aktionswochen gegen Antisemitismus dieses Jahr am 7. Oktober eröffnet. Das heißt, genau zwei Jahre nach dem islamistischen Massaker der Hamas in Israel. Man hat an diesem Jahrestag einerseits gespürt, dass zwei Jahre antisemitische und antiisraelische Mobilisierung in Deutschland verheerende Folgen hatten: Im öffentlichen Raum sieht man sehr viele antisemitische Graffitis, an den Hochschulen findet man israelfeindliche Flyer, Schmierereien und aggressiven Aktivismus, Jüdinnen und Juden mussten sich in die Unsichtbarkeit zurückziehen. Und antisemitismuskritisches Engagement findet oft nur noch unter großen Sicherheitsrisiken statt.
Gleichzeitig sind wenige Tage nach der Eröffnung der Aktionswochen die israelischen Geiseln freigekommen, die noch in Gaza und am Leben waren. Es gab einen Waffenstillstand. Das heißt, es war auch eine Zeit, die Hoffnung gemacht hat. Seitdem kann man ein bisschen Aufatmen spüren.
Die Aktionswochen 2025 vereinen beides. Sie fokussieren sich auf die antisemitische Mobilisierung da draußen, erklären, warum diese so gut funktioniert, und geben gleichzeitig Hoffnung. Denn sie zeigen, dass es durchaus auch sehr viele Leute in Deutschland gibt, die etwas gegen Antisemitismus tun wollen. Die Aktionswochen sind der größte zivilgesellschaftliche Zusammenschluss, um genau denen ein Dach zu geben.
Nun geraten die Aktionswochen selbst ins Visier. Was passiert da genau? Nikolas Lelle: Wir erleben, dass rechtsalternative und zum Teil rechtsextreme Kampagnenportale immer wirkmächtiger werden, und die Aktionswochen geraten dabei auch unter die Räder. Nius oder Apollo News blasen seit etlichen Wochen, wenn nicht seit Monaten, aktiv gegen die demokratische Zivilgesellschaft. Das Ziel ist, Engagement für eine offene Gesellschaft in ein fragwürdiges Licht zu rücken, es dann zu diffamieren und letztlich zu attackieren. Die Amadeu Antonio Stiftung war dabei immer im Blickfeld. Im Rahmen der aktuellen Kampagnen gegen die Stiftung geraten jetzt aber auch die Aktionswochen gegen Antisemitismus unter Beschuss von Rechtsaußen. Die Kampagne diskreditiert die Arbeit der Stiftung. Das Ziel: die Förderung von staatlichen Geldern in Frage stellen.
Bemerkenswert ist das auch deswegen, weil es sich um Leute handelt, die angeblich etwas gegen Antisemitismus und Judenhass tun wollen? Nikolas Lelle: Genau. Und man muss ja sehen: Die Aktionswochen sind ein gemeinsames Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und des Anne Frank Zentrums, und das seit zehn Jahren. Sie vereinen auch das Engagement von sehr vielen jüdischen Gemeinden, Vereinen und Organisationen. Allein 2025 haben die Gemeinden aus Baden-Baden, Saarbrücken, Flensburg und Freiburg mitgemacht. Sie konnten ihr antisemitismuskritisches Engagement vor Ort realisieren, weil sie mit uns kooperiert und gemeinsam Veranstaltungen und Konzerte auf die Beine gestellt haben.
In der Kampagne wird ein anderes Bild der Amadeu Antonio Stiftung gezeichnet. Nikolas Lelle: Ein falsches! Es wird geraunt, es handele sich um ein „linksextremes Netzwerk“. Das ist gefährlicher Unfug, wie man an den Aktionswochen gut sehen kann. Aber es schafft eine eigentlich interessante Irritation. Wir stellen ja gerade seit dem 7. Oktober fest, dass in vielen linken Kreisen Antisemitismus und Antizionismus als eine Art politischer, kultureller Code in Mode gekommen ist. Angesichts dessen freuen wir uns über Initiativen aus einem eher linken Milieu, die sich gegen Antisemitismus engagieren, die gemeinsam mit bürgerlichen oder konservativen Menschen dem Judenhass in diesem Land etwas entgegensetzen. Auch den in ihrem Milieu.
Ist denn diese Kampagne erfolgreich? Fallen konservative Politiker*innen darauf rein? Nikolas Lelle: Noch sehe ich das nicht. Das sind Angriffe von Rechtsaußen, und die muss man auch genau so bezeichnen. Ähnlich wie man Anträge der AfD grundsätzlich ablehnen muss, weil sie von einer rechtsextremen Partei kommen, würde ich mit diesen rechtsalternativen Portalen und ihren Kampagnen verfahren: Allein, weil es aus dieser Richtung kommt, sollte man es nicht allzu ernst nehmen. Es sind ja gerade diejenigen, die sonst lautstark behaupten, sie stünden an der Seite Israels, die hier die Antisemitismusbekämpfung erschweren.
Ob diese Kampagne verfängt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Konservative Politiker*innen sind in der Pflicht zu zeigen, dass sie sich von diesem Druck von Rechtsaußen nicht beeinflussen lassen. Zuletzt gab es in dieser Frage auch hoffnungsvolle Signale.
Was sind denn die Aktionswochen gegen Antisemitismus und wo kommt die Idee dafür her? Nikolas Lelle: Die Aktionswochen sind ein bewährtes Projekt mit einer langen Geschichte. Die Amadeu Antonio Stiftung wurde 1998 gegründet. Im Ausgang der Baseballschlägerjahre waren zwar Rechtsextremismus und Rassismus Themen, aber die Stiftung stellte fest, dass über den Antisemitismus dieser Rechtsextremen wenig nachgedacht wurde. 2003 organisierte die Stiftung das erste große Vernetzungstreffen mit lokalen Initiativen, jüdischen Gemeinden und bundesweiten Organisationen. Das Ergebnis war eine gemeinsame Entscheidung, die bis heute trägt: Rund um den 9. November wird eine koordinierte, bundesweite Veranstaltungsreihe auf die Beine gestellt, die den Blick auf den Antisemitismus heute richtet. Das waren die ersten Aktionswochen. Zum damaligen Hintergrund gehörten auch die Terroranschläge des 11. September 2001 und die antisemitischen Mobilisierungen, die seitdem auf deutschen Straßen stattfanden.
Seitdem finden bundesweit Veranstaltungen im Rahmen der Aktionswochen statt – mittlerweile nicht nur rund um den 9. November, sondern jetzt auch um den 7. Oktober, dem Jahrestag des Massakers in Israel, und den 9. Oktober, den Jahrestag des Anschlags in Halle. Seit fast zehn Jahren wird das Projekt aus Bundesmitteln gefördert und ist eine Kooperation von Amadeu Antonio Stiftung und Anne Frank Zentrum. Und wir tun ja noch viel mehr: Wir schreiben zivilgesellschaftliche Lagebilder zu Antisemitismus, veröffentlichen Faltblätter wie das neueste zur Frage wie man Antisemitismus definieren kann, halten Vorträge, geben Workshops und veröffentlichen jedes Jahr eine Plakatkampagne, die über aktuelle Formen des Antisemitismus aufklärt.
Wie hat sich das bis heute entwickelt? Nikolas Lelle: Die Aktionswochen sind heute größer denn je: Über 200 Veranstaltungen fanden 2025 in 60 Städten statt. Die Plakatkampagne rückte dieses Jahr das Engagement gegen Antisemitismus ins Blickfeld und betont: Wir können alle etwas tun. Sich gegen Antisemitismus zu engagieren, ist gar nicht so schwierig. Diese Plakatkampagne, gerichtet gegen Schmierereien an den Wänden, gegen Hass und Hetze im Internet, aber auch gegen Anfeindungen im Bus oder auf der Straße, hing an über 1000 Standorten in 36 Städten. Unser Trailer lief bundesweit in Kinos.
Es steht also viel auf dem Spiel? Nikolas Lelle: Das alles ist ohne Förderung nicht möglich. Unsere Rolle, also die des Anne Frank Zentrums und der Amadeu Antonio Stiftung, besteht darin, Bildungsmaterialien zu entwerfen, Workshops zu geben, die Kampagne zu organisieren, aber eben auch zu koordinieren und Kooperationen zu vermitteln, damit diese bundesweite Veranstaltungsreihe stattfinden kann. Ohne Fördermittel des Bundes wäre das nicht mehr möglich. Es wäre an sehr vielen Orten das Ende der Aktionswochen. Und es würde bedeuten, dass zahlreiche antisemitismuskritische Initiativen und Akteure, auch viele jüdische, ihre Arbeit nicht mehr verrichten könnten wie bisher.
Gibt es konkrete Beispiele von Veranstaltungen der Aktionswochen, die zeigen, was da eigentlich gerade attackiert wird? Nikolas Lelle: Das Besondere ist die Vielfältigkeit. Wir vereinen ganz verschiedene Formate. In Flensburg klärt die Jüdische Gemeinde in einem Vortrag über die jüdische Geschichte der Stadt auf. In Baden-Baden organisierte die Israelitische Kultusgemeinde ein Konzert gegen Antisemitismus. An der HU Berlin fand eine Führung zur Geschichte des Antisemitismus an der Uni statt. Wir haben jüdisches Puppentheater für Kinder und Jugendliche im Programm, Theaterstücke, Konzerte, kleine Festivals, Stolpersteinverlegungen, Vorträge und Workshops. Was ich sagen will: Die Formate sind vielfältig und beantworten lokale Fragen. Genau dort, wo vor Ort der Schuh drückt, wo es brennt, wo interveniert werden muss oder wo eine Leerstelle erkannt wird – all das bearbeiten die Aktionswochen.
Wie gehen wir mit Einsamkeit und Stress um? Wie können wir gut zusammenleben, obwohl wir orientierungslos, depressiv und belastet sind? Das Dienstagabendselbsthilfetheaterkollektiv sucht nicht nur auf den Bühnen von Gera, Leipzig und Chemnitz nach Antworten.
Von Vera Ohlendorf
An einem grauen Oktoberabend zwängen sich im Leipziger soziokulturellen Zentrum Mühlstraße 14 e.V. knapp 40 Menschen in einen kleinen, stickigen Raum, um die neueste Produktion des postmigrantischen Dienstagabendselbsthilfetheaterkollektiv (DASHTK) zu sehen. Der Theatersaal des Vereins kann aus Brandschutzgründen aktuell nicht genutzt werden.
Die Gruppe ist vor etwas mehr als zwei Jahren entstanden. Ihr mittlerweile drittes Stück „Vom Fallen und Fallen Lassen“ haben die zwölf Mitglieder selbst geschrieben und entwickelt. Aufführungen finden, gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung, auch in Gera und Chemnitz statt.
Ein unheimlicher, lachender Harlekin mit schwarz-grünem Gesicht tritt auf, vor sich einen großen Bauchladen tragend: „Wer will zur kranken Gesellschaft gehören? Schlagen Sie heute und hier zu! Verpackte Toxizitäten, extra toxische Verhaltensweisen, Persönlichkeitsstörungen und super toxische Beziehungsdynamiken. Zum besten Preis nur heute! Kinder, kommt vor! Nicht schüchtern sein! Wir wollen die Jugend von morgen stärken.“
In elf Episoden, die locker miteinander verbunden sind, begegnen wir unglücklichen Paaren, einsamen Menschen, autoritären und verzweifelten Müttern, manipulativen Frauen und Männern, die lieber schreien, als über ihre Gefühle zu sprechen. Sie alle suchen nach Liebe.
Der Programmtext beschreibt es so:
einige Szenen über uns
und das, was wir hassen
und das, was uns wütend macht
und auch über das, was wir LIEBEN
und über Reue und Hoffnung
und über die Vergangenheit
und über die Gegenwart
aber auch über die Zukunft
und auch über das Toxische
– das Toxische in und außerhalb von uns –
und wie wir es (vielleicht)
besiegen
und was uns trotz allem
verbindet
und über unsere allumfassende Verwirrung
und über ganz viele andere Dinge auch
Aufführungen sind nicht das primäre Ziel
„Wir sind eine offene Gruppe zwischen 20 und 50 Jahren“, sagt Eva, die seit einem Jahr zum Kollektiv gehört „Wir sind alle sehr unterschiedlich und haben zu unseren persönlichen Geschichten und Problemen mit toxischen Verhaltensweisen gemeinsam Texte entwickelt und Ideen improvisiert. Es geht zum Beispiel um die negativen Seiten von Social Media oder das Gefühl, in Zwängen oder Routinen festzustecken.“ Als Eva dazukam, suchte sie einen Ausgleich neben dem Studium und fand so neue Freund*innen „außerhalb der Studierendenbubble“, wie sie sagt.
Was genau macht das Kollektiv zu einer postmigrantischen Gruppe? „Wir haben von Anfang an einen Schwerpunkt auf antirassistisches Arbeiten gelegt, machen das aber auf der Bühne nicht explizit zum Thema“, erklärt Chris, der das Kollektiv leitet. „Viele in der Gruppe sind marginalisiert, haben eine Migrationsgeschichte, einen Krieg überlebt oder sind von Einsamkeit, Isolation oder psychischen Problemen betroffen. Das Theater ist Mittel und Grund, weshalb die Leute hier zusammenkommen, aber eigentlich geht es uns vor allem darum, was die Gruppe selbst braucht. Aufführungen sind gar nicht das größte Ziel.“
Zusammenhalt und Kreativität gegen Einsamkeit
Dennoch ist es das Schauspielen, das viele Mitglieder motiviert, ihre Ideen einzubringen. Ali, der toxische Bauchladen-Harlekin, stammt aus Afghanistan und ist vor zwei Jahren aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet. „Ich liebe das Theater und habe in meiner Heimat ein paar Kurse besucht. Als ich nach Deutschland kam, habe ich in der Nähe der Mühlstraße in einer Gemeinschaftsunterkunft gelebt und eine Möglichkeit gesucht, um Theater zu spielen und mein Deutsch zu verbessern.“ Ali schätzt die Freundschaften, die in der Gruppe entstanden sind. „Ich möchte tief über Dinge nachdenken und wirklich mit anderen in Kontakt kommen. Nicht nur oberflächlich und allgemein reden, wie man es zum Beispiel mit ChatGPT macht. Ich möchte kreativ und im Austausch mit anderen sein.“ Er spielt in weiteren Theatergruppen in Leipzig mit und nutzt Angebote wie das Beratungscafé des Mühlstraße 14 e.V., um Hilfe im Alltag zu finden.
„Hört ihr mich? Ich rufe aus der Zukunft an. Deswegen seht ihr mich nicht. Ich war aber gerade bei euch. Mit einer speziellen App. Ich dachte, wenn ich ein paar Sachen verändere, dass es nicht so kommen wird, wie es dann kam. Also, wie es jetzt ist. Aber es hat nicht funktioniert. Hier ist alles wie immer. Dunkel. Ich kann nicht mehr. Ich bin so müde. Ich will keinen Krieg. Ich will keinen Hass. Ich will nur Liebe. Was soll ich tun? Soll ich wiederkommen? Es nochmal versuchen? Wollt ihr mir helfen? Wir könnten doch alles anders machen. Wollen wir uns nicht ändern? Denkt ihr, wir können es schaffen?“
Der Theaterabend hinterlässt eine gedrückte Stimmung und die Erkenntnis, dass Frust, Einsamkeit, Depression und Konflikte ganz alltägliche Erfahrungen sind, die viele Menschen über alle gesellschaftlichen Gruppen und Milieus hinweg teilen. Manche finden dafür ein Ventil in Wut, Hass und Radikalisierung. Die Mitglieder des DASHTK gehen andere Wege: Sie suchen Kontakte bei ihren Mitmenschen und finden Lösungen durch gegenseitige Unterstützung und Zusammenhalt. Und sie stellen Fragen, die wehtun.
In Berlin Kreuzberg erinnert der Verein Pek Koach e.V. mit Stadtspaziergängen an jüdische und kurdische Frauen, deren Engagement und Geschichten im Stadtteil kaum sichtbar sind. Die Tour führt zu Orten des Erinnerns an Opfer rechtsextremer, antisemitischer und patriarchaler Gewalt und macht das Wirken jüdischer und kurdischer Frauen in Geschichte und Gegenwart sichtbar.
Von Luisa Gerdsmeyer
„Pêk“ bedeutet im Kurdischen „zusammen, vereint“. „Koach“ ist das hebräische Wort für „Kraft“ – oder „Widerstandskraft“. Zusammen ergeben die beiden Wörter den Namen des kurdisch-jüdischen Frauenvereins Pek Koach e.V. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, solidarische Allianzen aufzubauen und zu stärken – gegen Antisemitismus, antikurdischen und antislawischen Rassismus, gegen Sexismus, Queerfeindlichkeit, Islamismus und andere Ideologien der Ungleichheit. Mit Workshops, Diskussions- und Bildungsveranstaltungen machen die Engagierten die Geschichten jüdischer und kurdischer Frauen sichtbar – Geschichten von Mut, Widerstand und Zusammenhalt.
Eines der Projekte von Pek Koach e.V. sind geführte Spaziergänge unter dem Titel „Diaspora und Dasein“ durch Berlin-Kreuzberg. Die Amadeu Antonio Stiftung unterstützte den Verein mit einer Förderung. Die Stadtführungen erzählen die Lebensgeschichten jüdischer und kurdischer Menschen, die den Stadtteil geprägt haben – Menschen, deren Spuren im Stadtbild heute oft unsichtbar sind. „Wir haben die Biografien verschiedener Menschen aus Kreuzberg recherchiert und Geschichten von Menschen kennengelernt, die die Communities hier in Berlin bereichert haben, oder dies bis heute tun“, erzählt Maria, die die Spaziergänge gemeinsam mit ihrer Vereinskollegin Fatma entwickelt hat und durchführt. Der Spaziergang führt zu fünf Stationen. Die ersten drei widmen sich dem Erinnern: Welche Geschichten werden im Stadtteil weitergegeben und im Stadtbild sichtbar – und welche fehlen? Die beiden letzten Stationen richten den Blick auf die Gegenwart und erzählen vom gesellschaftlichen Engagement jüdischer und kurdischer Communities in Kreuzberg heute.
Die erste Rabbinerin weltweit: Regina Jonas und ihr Wirken in Kreuzberg
Die erste Station des Spaziergangs führt zur Synagoge am Fraenkelufer. Hier erinnert der Spaziergang an Regina Jonas. Sie wurde 1902 im Scheunenviertel in Berlin-Mitte geboren. Schon als Schülerin fasste sie den Plan, Rabbinerin zu werden – zu einer Zeit, in der dieses Amt ausschließlich von Männern ausgeführt wurde. 1924 begann sie ihr Studium an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und schloss es 1930 mit ihrer Abschlussarbeit zu der Frage „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ ab. Mit religiösen Argumenten legt sie dar, warum die Antwort auf diese Frage aus ihrer Sicht „ja“ lautet. Gegen Widerstände erhielt sie 1935 ihr Rabbinatsdiplom – als erste Frau weltweit. In den folgenden Jahren hielt Jonas Vorträge über die Rolle von Frauen im Judentum, betreute Gemeindemitglieder seelsorgerisch und arbeitete unter anderem in der Synagoge am Fraenkelufer als Rabbinerin. Im Laufe der zunehmenden Verfolgung von Rabbinern durch die Nationalsozialisten übernahm sie auch die Vertretung geflohener und deportierter Rabbiner in anderen Städten. 1942 wurde Regina Jonas nach Theresienstadt deportiert. Auch hier versuchte sie, ihr Amt weiter auszuüben, bot Seelsorge an und hielt Vorträge. 1944 wurde Regina Jonas in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort im Alter von 42 Jahren ermordet.
Trotz ihres Pionierinnenweges blieben Jonas’ Geschichte und ihr Wirken lange Zeit unbekannt. Erst in den 1990er-Jahren wurde ihr Nachlass wiederentdeckt. Im Jahr 2023 beschloss das Bezirksparlament Friedrichshain-Kreuzberg, eine Straße nach ihr zu benennen. Die Umbenennung war für den 19. September dieses Jahres geplant, wurde jedoch vorerst durch den Protest von Anwohner*innen gestoppt.
Erinnerung an die Opfer von politischer Gewalt und Femiziden am Kottbusser Tor
Weiter führt der Spaziergang zum Kottbusser Tor. Hier erzählt Fatma von kurdischen Menschen, die Opfer von politischer Gewalt und Femiziden wurden.
Eine Gedenkstele und -tafel am Platz zwischen Kottbusser Straße und Skalitzer Straße erinnern seit 1991 an Celalettin Kesim. 1973 war er aus der Türkei nach West-Berlin ausgewandert, arbeitete zunächst in einem Maschinenbauunternehmen, später als Berufsschullehrer, und engagierte sich als Gewerkschafter und Mitglied der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP). Am 5. Januar 1980 verteilte er gemeinsam mit einigen Genoss*innen am Kottbusser Tor Flyer, um über die Gefahr eines drohenden Militärputsches in der Türkei zu informieren, als eine bewaffnete Gruppe der Grauen Wölfe ihn und seine Mitstreiter*innen gewaltsam angriff. Die Grauen Wölfe sind eine rechtsextreme antikurdische und antisemitische türkische Gruppierung, die in der Türkei, aber auch im Ausland aktiv ist. Celalettin Kesim wurde bei dem Angriff so schwer verletzt, dass er kurz nach dem Angriff im Krankenhaus im Alter von 36 Jahren verstarb.
Vier Jahre nach dem Mord an Celalettin Kesim wurde die Kurdin Fatma E. Opfer eines misogynen und rechtsextremen Anschlags. Sie besuchte als Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt eine Beratungsstelle, als ein Mann in die Räumlichkeiten eindrang und auf sie und auf Seyran Ateş, die sich während ihres Jura-Studiums in der Beratungsstelle engagierte, schoss. Fatma E. wurde getötet, Seyran Ateş überlebte schwer verletzt. Bis heute ist kaum etwas über Fatma E. bekannt, im Berliner Stadtbild erinnert nichts an den misogynen Anschlag. Zudem wurde der Anschlag juristisch nie aufgeklärt. Zwar wurde auf Grundlage von übereinstimmenden Zeug*innenaussagen ein Mann festgenommen, dem Verbindungen zu den rechtsextremen Grauen Wölfen nachgewiesen werden konnten. Dennoch wurde der mutmaßliche Täter im Gerichtsverfahren freigesprochen.
Auch an den Mord an Semanur S. wird hier erinnert. 2012 wurde die 30-jährige Mutter von sechs Kindern von ihrem Ehemann getötet. Die Tat löste in der türkischen und kurdischen Community in Kreuzberg große Betroffenheit aus. Frauen organisierten Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen, forderten besseren Schutz für Betroffene von häuslicher Gewalt sowie mehr Präventionsmaßnahmen und ermutigten andere, nicht alleine zu bleiben, sondern Unterstützung zu suchen. „Wir wollen das Gedenken wachhalten und an die Opfer von misogyner und faschistischer Ideologie erinnern, gerade dann, wenn sie öffentlich in Vergessenheit geraten sind“, so Fatma. „Die Erinnerung ist zugleich eine Mahnung: Bis heute fehlen vielerorts ausreichende Unterstützungsangebote für Betroffene.“
Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus: die Gruppe um Eva Mamlok
Der nächste Halt findet beim Friedrichshain-Kreuzberg Museum statt. Die Station widmet sich der Erinnerung an jüdische Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus – Geschichten, die bis heute häufig unbekannt bleiben. Eine dieser Frauen ist Eva Mamlok, die in Berlin-Kreuzberg aufwuchs. Mit 14 Jahren kletterte sie 1932 auf das Dach eines großen Kreuzberger Kaufhauses und schrieb mit weißer Farbe „Nieder mit Hitler!“. Sie wurde verhaftet und später wieder freigelassen, da sie noch strafunmündig war. Zwei Jahre später geriet sie erneut in Haft, als sie Blumen auf den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht niederlegte. Ab 1940 musste Eva Mamlok Zwangsarbeit in einer Schraubenfabrik leisten. Hier lernte sie ihre Mitstreiterin Inge Berner kennen. Gemeinsam mit weiteren Frauen bildeten sie eine Widerstandsgruppe, verteilten Flugblätter, verliehen verbotene Bücher und schrieben antifaschistische Parolen an Hauswände. 1942 wurde Eva Mamlok in das Ghetto von Riga deportiert, wo sie weiter im Widerstand tätig war, etwa durch heimliche Fotografien, die die unmenschlichen Bedingungen im Ghetto dokumentierten. 1944 wurde sie in das KZ Stutthof deportiert, wo sie noch im selben Jahr starb. Die einzige Überlebende der Gruppe war Inge Berner, die nach dem Krieg als Zeitzeugin von Eva Mamloks mutigem Engagement berichtete.
Heutiges Engagement kurdischer und jüdischer Frauen in Berlin
Die letzten beiden Stationen des Spaziergangs zeigen heutiges Engagement jüdischer und kurdischer Frauen. Zunächst besucht die Gruppe das Interkulturelle Mehrsprachige Familienzentrum Rengîn des Vereins Yekmal e.V. Der Verein wurde 1993 von kurdischen Eltern, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen in Berlin gegründet und betreibt mittlerweile mehrere Standorte in Deutschland. In Berlin unterstützt Yekmal Familien, Geflüchtete, Jugendliche und Betroffene von Gewalt, Diskriminierung oder patriarchaler Unterdrückung. Ein wichtiger Teil der Arbeit ist außerdem die Sprachförderung, etwa durch Sprach- und Alphabetisierungskurse sowie zwei bilinguale Kitas. Die Pflege der kurdischen Sprache ist von besonderer Bedeutung, da sie in der Türkei lange Zeit unterdrückt wurde. Hier erzählt Maria von Günay Darici, der Geschäftsführerin des Vereins. 1997 wanderte sie aus der Türkei nach Berlin aus, auch aufgrund der Repressionen des türkischen Staates, die sie als Kurdin erlebte. „Darici setzt sich nicht nur für die kurdische Community in Berlin ein, sondern engagiert sich auch besonders für Solidarität zwischen unterschiedlichen migrantischen Communities“, berichtet Maria.
Den Abschluss des Spaziergangs bildet ein Bericht über Maya Wolffberg, eine Israelin, die 2017 nach Berlin kam und hier die Israeli Community Europe (ICE) mit aufbaute. In der Gruppe „Zusammen Berlin“ treffen sich Israelis, die in Berlin leben, und schaffen über verschiedenste Veranstaltungen wie Shabbat-Feiern, gemeinsame Mahlzeiten zu jüdischen Feiertagen, Konzerte oder Filmvorstellungen einen Raum für Austausch und Zusammengehörigkeitsgefühl. Maria erzählt von Wolffbergs Familiengeschichte und ihren Wurzeln in Berlin: Mayas Großvater hatte in Berlin-Kreuzberg ein Fotogeschäft. In einem Versteck in Buckow überlebten Großvater und Vater den Krieg und die Shoah. Die Familie wanderte danach zuerst nach Chile und später nach Israel aus. In ihrer Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte entschied Maya 2017, nach Berlin zu ziehen. „Erst durch die Erfahrung von Diaspora und dem Antisemitismus in Deutschland entstand für sie ein neuer Zugang zu ihrer jüdischen Identität und der Suche nach einer Community,“ so Maria.
Großes Interesse an den Spaziergängen von Pek Koach
Der Verein Pek Koach setzt sich weiterhin für die Sichtbarkeit, Rechte und Sicherheit jüdischer und kurdischer Communities ein und bildet solidarische Allianzen. Dabei werden insbesondere mehrfach marginalisierte Perspektiven sichtbar – etwa die von Frauen und queeren Menschen. Maria erzählt: „Das Interesse an unseren Spaziergängen ist so groß, dass alle bisherigen Termine ausgebucht waren. Bei zukünftigen Führungen werden wir Kopfhörer an die Teilnehmenden verteilen, über die jede*r uns gut hören kann, sodass wir die Gruppen vergrößern können. So können noch mehr Menschen die Geschichten kennenlernen, die sonst im Stadtteil häufig übersehen werden.“
Im Jahr 2025 fanden in Deutschland so viele Christopher Street Days (CSDs) statt wie noch nie zuvor – insgesamt 245 Veranstaltungen. Gleichzeitig erreichte auch die Zahl rechtsextremer Übergriffe auf diese Events einen traurigen Höchststand. Die Amadeu Antonio Stiftung veröffentlicht nun erstmalig den Sicherheitsreport „Queerfeindlichkeit sichtbar machen“, der die organisierte rechtsextreme Mobilisierung gegen die CSDs im Jahr 2025 dokumentiert und analysiert.
Monitoring der Angriffe
Während der diesjährigen CSD-Saison kam es bundesweit bei nahezu jedem zweiten CSD zu Angriffen oder Störungen, von denen fast die Hälfte rechtsextremen Täter*innen zugeordnet werden konnte. Die insgesamt 111 dokumentierten Vorfälle reichten von rechtsextremen Gegendemonstrationen mit teils mehreren Hundert Teilnehmenden über Verhinderungsversuche durch rechtsextreme Kommunalpolitiker*innen bis hin zu körperlicher Gewalt, Hatespeech, Online-Hetze und Sachbeschädigungen. Die rechtsextreme Mobilisierung hat dabei ein neues Niveau an Professionalität erreicht: Queerfeindlichkeit ist zentraler Bestandteil ihrer Strategie gegen Demokratie und Vielfalt.
Sicherheitsreport zu rechtsextremen Angriffen auf CSDs
Der Sicherheitsreport der Amadeu Antonio Stiftungdokumentiert erstmalig systematisch diese rechtsextremen Angriffe auf Christopher Street Days (CSDs) als zentrale Orte demokratischer Sichtbarkeit, Solidarität und Empowerment. Der Report liefert Daten, Fallbeispiele, Betroffenenstimmen und analysiert Strategien der extremen rechten Mobilisierung. Er beleuchtet diese Strategien und liefert konkrete Gegenmaßnahmen und Handlungsempfehlungen für Politik, Behörden und Zivilgesellschaft für mehr Schutz, Solidarität und entschlossenes Handeln gegen Queerfeindlichkeit. Gleichzeitig macht der Sicherheitsreport sichtbar, wie CSDs – insbesondere in ländlichen Regionen – zur Stärkung der Zivilgesellschaft beitragen.
Schutz der CSDs
Da die Behörden beim Schutz der CSDs oft versagen und die Bedrohungslage unterschätzen, hat die Amadeu Antonio Stiftung in Zusammenarbeit mit der Kampagnen-Organisation Campact den Regenbogenschutzfonds ins Leben gerufen. Mit 100.000 Euro wurden dadurch fast 50 CSDs gezielt gefördert. Die Mittel flossen in Sicherheitsmaßnahmen wie professionelle Sicherheitsdienste, Security-Schulungen oder kontrollierte Einlassregelungen. Dadurch konnte die akute Bedrohungslage verringert und manche CSDs überhaupt erst ermöglicht werden. So wurden die Veranstaltungen wieder zu sicheren Orten, an denen sich Teilnehmende angstfrei bewegen konnten.
Friedrich Merz hat mit seiner jüngsten Einordnung zum „Stadtbild“ die zuvor ausgelösten Bilder nicht korrigiert, sondern verfestigt.
Von Lars Repp, Vorstand der Amadeu Antonio Stiftung
Mit seiner ursprünglichen Aussage hatte er tagelang offengelassen, wer für ihn das „Problem im Stadtbild“ sei. Nun benennt er explizit Menschen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht und Arbeit, die sich nicht an „unsere Regeln“ hielten.
Unter dem Vorwand der „illegalen Migration“ zieht er eine Trennung zwischen „guten“ und „schlechten“ Einwander*innen.
In Verbindung mit seinen Bezügen zu Angst und Sicherheit im öffentlichen Raum entstehen Assoziationen, die das Narrativ nähren, Migration sei vor allem eine Gefahr für Ordnung und Sicherheit. Wenn er Bahnhöfe, Parks oder ganze Stadtteile zu unsicheren Orten erklärt, verzerrt er gesellschaftliche Realität und verengt den Blick auf Migration als Ursache sozialer Spannungen.
Eine solche Rhetorik schürt rassistische Ressentiments.
Sprechen sollten wir aber sachlich, differenziert und tatsachenbasiert über Probleme im Kontext von Migration, Integration und innerer Sicherheit, die demokratische Werte gefährden, wie beispielsweise:
Innermigrantischer Rassismus: Auch in migrantisch geprägten Communities existieren Formen von Rassismus und rechtsextremen Ideologien. Gruppen wie Kurd*innen, Alevit*innen, Ezid*innen oder Armenier*innen erleben in Deutschland auch von dort Hassgewalt als Minderheit in der Minderheit.
Islamismus: Viele Institutionen und Akteur*innen, wie zuletzt TU Berlin-Präsidentin Rauch im Umgang mit der Veranstaltung „Speak Now: Stimmen gegen Islamismus“, sind nicht willens sich der Gefahr und Realitäten, die mit Islamismus einhergehen, zu stellen. Wer jede Auseinandersetzung mit islamistischem Denken als „rassistisch“ abtut, verkennt, dass auch innerhalb migrantischer Communities Unterdrückung, Hass und Gewalt existieren. Über Islamismus müssen wir sprechen – ohne dass das Gespräch sofort moralisch delegitimiert wird. Wer diese Realität ignoriert, schützt Betroffene nicht vor Gewalt und Bedrohung.
Allianzen, die Gewalt und Terror verherrlichen: In islamistischen Netzwerke wie Hamas- und Hisbollah-nahen Strukturen wird Gewalt religiös legitimiert und Antisemitismus offen propagiert. Seit dem 7. Oktober sehen wir auch einen Schulterschluss mit antirassistischen Initiativen und linken Gruppen.
Politik, die gestalten will, benennt Probleme klar, liefert Lösungen und schafft keine pauschalierenden rassistischen Feindbilder.
Denn die Gleichwertigkeit aller Menschen ist kein politisches Stilmittel, sondern Grundlage unserer Demokratie, festgeschrieben in Artikel 3 des Grundgesetzes.
In den letzten Wochen sieht sich die Amadeu Antonio Stiftung wieder einmal einer Kampagne ausgesetzt, die darauf abzielt, ihre Arbeit zu diskreditieren und die gesellschaftliche Debatte zu verschieben. Rechts-alternative Medien, angeführt von Apollo News, versuchen, aus einer kritischen Auseinandersetzung mit eben jenem Presseorgan bei einer öffentlichen Veranstaltung, bei der eine Mitarbeiterin der Amadeu Antonio Stiftung als externe Referentin geladen war, einen Skandal zu konstruieren. Dabei wird bewusst ein Narrativ der Bedrohung der Pressefreiheit erzeugt – ein Vorgehen, das weder den Tatsachen entspricht noch dem demokratischen Diskurs dient.
Eine Einordnung von Christine Hohmann-Dennhardt, Vorsitzende des Stiftungsrats der Amadeu Antonio Stiftung
Unsere Verfassung stellt in Artikel 5 Absatz 1 GG die Meinungs- und Pressefreiheit als wesentliche Säulen des demokratischen Willensbildungsprozesses unter besonderen Schutz – wie das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen dazu immer wieder hervorgehoben hat. Dazu gehört der freie Austausch von Meinungen, auch und gerade, wenn diese Meinungen kontrovers sind. Der freien Presse kommt bei einem solchen Austausch eine besondere Bedeutung zu.
Insofern deckt die Meinungsfreiheit keine gewaltsamen Aktionen, die sich gegen Presseorgane richten. Verbale Kritik über die Art und die Inhalte von deren Berichterstattung ist jedoch möglich und gehört zur Meinungsfreiheit. Diese endet dort, wo falsche Tatsachenbehauptungen aufgestellt und Hass und Hetze verbreitet werden. Solches Tun auch öffentlich zu kritisieren, steht deshalb durchaus in Einklang mit dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung.
Rechts-alternative Medien werfen der Amadeu Antonio Stiftung vor, dass die Amadeu Antonio-Stiftung sich in ihrer Stellungnahme auf ihrer Homepage zu den Auseinandersetzungen über eine Veranstaltung der Linken, auf der eine Mitarbeiterin der Stiftung als externe Referentin aufgetreten ist, nicht von dieser Veranstaltung distanziert hat. Hierzu ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Stiftung nicht Veranstalterin war, nicht zu dieser Veranstaltung eingeladen hat und dass man über die Wahl des Titels dieser Veranstaltung sicher kontroverser Ansicht sein kann, er aber unter Berücksichtigung auch der Vorgaben, die das BVerfG bei der Beurteilung von Aussagen zur Anwendung bringt, nicht als Gewaltaufruf interpretiert werden kann, der sich gegen Apollo News als Presseorgan und seine Mitarbeiter richtet. Es gibt für mich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Mitarbeiterin der Amadeu Antonio-Stiftung in ihrem auf der Veranstaltung gehaltenen Referat etwas ausgeführt hat, das Apollo News in der Ausübung seiner Pressefreiheit beeinträchtigen könnte.
Die Mitarbeiterin hat über Entwicklung und Hintergründe rechts-alternativer Medien, sowie über Art und Inhalte der Berichterstattung von Apollo News informiert und dies einer kritischen Betrachtung unterzogen. Dass Apollo News und andere Medien danach mit vielfältigen Beiträgen auf die Veranstaltung öffentlich reagiert hat, ist geradezu ein Zeichen dafür, dass dieses Presseorgan weiterhin uneingeschränkt seine Pressefreiheit ausüben kann – bedauerlicherweise mit der schwer erträglichen Begleiterscheinung einer Verunglimpfung und Bedrohung der Stiftung und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den sozialen Medien.
Die Amadeu Antonio-Stiftung setzt sich nunmehr seit über zwanzig Jahren engagiert für ein friedliches Miteinander und Gleichberechtigung, gegen Diskriminierungen jeglicher Art und Antisemitismus ein, klärt in diesem Zusammenhang über Faktenlagen und gesellschaftliche Entwicklungen auf, unterstützt örtliche Initiativen in der Zivilgesellschaft, die ebenfalls für diese, von unserer Verfassung vorgegebenen Handlungsmaxime eintreten, und leistet hiermit durchaus erfolgreiche Arbeit, auch wenn solchem Engagement derzeit der rechte Wind arg entgegenschlägt. Die Amadeu Antonie-Stiftung mitsamt ihrem Vorstand und Stiftungsrat wird ihr Engagement im Sinne ihrer Bestimmung auch weiterhin nach Kräften fortsetzen.
Was 2018 als Schülerblog begann, ist heute ein zentraler Akteur im rechts-alternativen Medienaktivismus. Apollo News inszeniert sich als seriöses Nachrichtenangebot, betreibt aber gezielte politische Einflussnahme auf die öffentliche Meinung. Es leistet journalistische Vorfeldarbeit für den Sturz der Brandmauer und die Normalisierung der AfD.
Apollo News ist heute eine feste Größe im rechts-alternativen Medienaktivismus. Was 2018 als Schülerblog begann, hat sich in wenigen Jahren zu einem professionellen Projekt mit rund 19 festen Mitarbeiter*innen entwickelt. Seit 2024 schreibt das Projekt schwarze Zahlen, nach eigenen Angaben vorwiegend finanziert durch Spenden. Gegründet wurde sie von dem damals noch jugendlichen Medienaktivisten Max Mannhart, der bis heute als prägende Figur gilt.
Rechts-alternative Deutungshoheit als Mission
Apollo News nimmt heute eine wichtige Rolle im Kampf um die politische Deutungshoheit in Deutschland ein. Die Redaktion richtet sich gegen Migration, Gender, Feminismus, queere Lebensrealitäten, Linke, Islam, Muslime und die demokratische Zivilgesellschaft insgesamt. Die Beiträge und Kommentare zielen häufig auf Themen, die Wut, Angst oder Neid ansprechen, und verschieben damit den Ton öffentlicher Debatten. Chefredakteur Mannhart sagt in einem Interview, seine Kernfrage sei, wie man zum Westen stehe. Er behauptet, die „westliche bürgerliche Lebensweise“ sei anderen „überlegen“ – ist kultureller Rassismus, der augenscheinlich universalistische Werte, der Aufklärung und Gleichheit gegen Migration und Vielfalt ausspielt.
Das System Apollo News
Mittlerweile ist das Apollo-Team laut Mannharts Angaben 19‑köpfig. In ihren Redaktionsräumen verfügt das Team über ein Studio, in dem Podcasts und Videos aufgezeichnet werden, und einen offenen Newsroom. Allein die Personaldichte ermöglicht es dem Team, in kurzen Abständen zahlreiche Texte zu veröffentlichen. Genau das hat System, mit vielen oftmals eng getakteten Artikeln Dringlichkeit und Wichtigkeit zu evozieren.
Immer wieder sind prominente Stimmen des rechtspopulistischen und rechtsextremen Milieus zu Gast bei Apollo. So etwa verschiedene Nius- oder Rome-Media-Autor*innen, Henryk M. Broder, Welt-Kolumnist Don Alphonso, Polizeigewerkschaftler Manuel Ostermann, CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Joana Cotar und Thilo Sarrazin. Letzterer spricht etwa in einem professionell erscheinenden Videoformat über Geburtenraten von Menschen mit Migrationsbiografien und nährt damit die Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“.
Die Themenauswahl von Apollo ist eng gesteckt, man orientiert sich am Kulturkampf-Playbook der US-amerikanischen Rechten. Im Fokus stehen immer wieder klassische Kulturkampf-Themen wie Klimawandel, eine vermeintlich unfähige Regierung und immer wieder angebliche Fehltritte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es sind genau die Themen und Spins, die auch die AfD immer wieder aufgreift und mit denen sie Stimmung macht: Migration, Geflüchtete und Kriminalität.
(Quelle: Screenshot Apollo News)
Immer wieder werden Zitate aus dem Kontext gerissen und falsch dargestellt, rechtsextreme Kampagnen werden als rechtskonservativ bagatellisiert. Auf Apollo News finden sich Aussagen wie :„Hier sorgen Scharia und islamische Friedensrichter für ein Zusammenleben nach Regeln – nicht Staat und Polizei. Sie [die Muslime] wollen sich nicht integrieren und auch nicht integriert werden.“
Vorfeld-Journalismus
Ulrich Siegmund, AfD-Spitzenkandidat des vom Verfassungsschutz des Landes als gesichert rechtsextrem eingestuften Landesverbands Sachsen-Anhalt, bezeichnet in einem Video über Apollo News jene Medien treffenderweise als „Vorfeldjournalisten“. Das Wichtigste, was die AfD in den nächsten Jahren benötige, sei eine „alternative Informationskultur“, gegen das „Monopol hier des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“. „Wenn wir dieses Informationsmonopol durchbrechen, wenn die Menschen sich einen eigenen Eindruck machen, dann schaffen wir die politische Wende in diesem Land“, erklärt Siegmund. Und hier spielt Apollo News eine zentrale Rolle.
Dabei tritt Apollo News mit einem Anspruch auf Seriosität auf: Layout, Sprache und Themenauswahl erinnern an etablierte Medienmarken. Mannhart sagt gegenüber dem medium magazin: „Unter den klassischen Printmedien ist uns die ‚Welt‘ wohl am nächsten.“
Vom Schülerblog zu Rome Media und zurück
Die Geschichte des Projekts führt durch mehrere Stationen der rechtspopulistischen Medienlandschaft: 2018 gründete Mannhart mit Mitschüler*innen wie Max Roland, heute Apollo-Politikchef, „Apollo“. Mannhart war damals noch minderjährig. Zu der Zeit begann er unter dem Pseudonym Air Tuerkis für den Blog Achse des Guten von Henryk M. Broder zu schreiben.
Weitere Apollo-Autoren wechseln zum Broder-Medium. Nach seinem Abitur arbeitet Mannhart ab 2020 bei Tichys Einblick, während der Blog Apollo parallel weiterläuft. Drei Jahre nach Gründung des Schüler-Blogs, 2021, wechseln große Teile des Apollo-Personals zu Tichys Einblick. Laut dem medium magazin seien es 20 Autor*innen zwischen 15 und 26 Jahren gewesen. Das Team behauptet, durch eine Recherche zum Berliner Wahldesaster von 2021 den Anstoß für die Neuwahlen gegeben zu haben.
2022 verlässt das Apollo-Team die Redaktion von Roland Tichy und wechselt zu Rome Media, dem Kampagnendach des ehemaligen Bild-Chefs Julian Reichelt. Dort war Mannhart Mitglied der Chefredaktion, gemeinsam mit Autor*innen, die später bei Pleiteticker und schließlich bei Nius tätig waren. 2023 verlässt das Apollo-Team die Reichelt-Redaktion. Die Apollo Medien GmbH wird gegründet. Laut eigenen Angaben von Mannhart schreibe Apollo mittlerweile schwarze Zahlen.
Wie haben die Aktivist*innen es innerhalb weniger Jahre von einem Schülerblog zu einer zentralen Größe im rechten Medienaktivismus geschafft?
Die Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft
Noch einmal zu den Anfängen: Laut einer Recherche von Veronika Völlinger und Frederik von Castell im medium magazin, fanden die Apollo-Autor*innen ab 2019 Input, Kontakte und auch Know-how in dem rechtslibertären Netzwerk der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. Eine ursprünglich einmal liberale Vereinigung, „die über die Jahre immer weiter nach rechts gerutscht ist“, wie der Spiegel bereits 2020 schrieb: „Wie leicht in deren Umfeld inzwischen die Errungenschaften des demokratischen Staats verächtlich gemacht werden, machen etwa die Auftritte von Vera Lengsfeld klar. Die frühere Bürgerrechtlerin beschreibt die Bundesrepublik als Diktatur, eine Art neue DDR, und erntet viel Applaus bei Hayek-Runden.“
Bereits 2015 kam es zu zahlreichen prominenten Austritten aus der einst liberalen Hayek-Gesellschaft, unter ihnen etwa der damalige FDP-Chef Christian Lindner. Die damalige Vorsitzende, die Wirtschaftspublizistin und einstige F.A.Z.-Kolumnistin Karen Horn, hatte zuvor vor einer Unterwanderung der liberalen Szene durch „Reaktionäre“ gewarnt und eine Abgrenzung von der „rechten Flanke“ gefordert, die Vorurteile etwa gegen „Multikulti“ hege und sich mit dem rassistischen Autor Thilo Sarrazin verbünde.
2017 folgen weitere Austritte. Zwei der Ausgetretenen, ein Ökonom und ein Publizist, schrieben damals, die Hayek-Gesellschaft sei zu einem „Mistbeet der AfD“ verkommen. Das Vermächtnis des Namensgebers, des Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich August von Hayek, werde „in einen nationalistisch-völkischen Sumpf gezogen“, zitiert sie die Süddeutsche Zeitung 2017. Zu den prominenten Mitgliedern zählen heute etwa die AfD-Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch und Peter Boehringer, der „Crash-Prophet“ Markus Krall, die extrem rechte Publizistin Vera Lengsfeld und der ehemalige Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen.
Der Nachwuchs wird gezielt in Workshops und Akademien geschult
„Aus der ursprünglichen liberalen Staatsskepsis ist schleichend Staatshass geworden“, seziert der Spiegel die Entwicklung der einst liberalen Gesellschaft. Und dennoch nähern sich die Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und das Apollo-Personal immer weiter an.
Das heutige Mitglied der Apollo-Chefredaktion Larissa Fußer war etwa seit 2016 aktiv in der Jugendarbeit der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. Sie gab vor einigen Jahren an, durch dieses Netzwerk politisiert worden zu sein. Möglich, dass sie maßgeblich für die Rekrutierung eines jungen Publikums für die Hayek-Gesellschaft verantwortlich ist.
Laut dem medium magazin richtet die Hayek-Gesellschaft ab 2019 gemeinsam mit Apollo und der Achse des Guten Nachwuchs-Journalisten-Workshops aus. Diese richten sich an Teilnehmer*innen zwischen 15 bis 35 Jahren. Die Teilnehmenden werden hier in Argumentationstrainings und Rhetorik-Übungen geschult. Referent*innen waren bisher etwa der Jurist Dr. Ulrich Vosgerau, der am Potsdamer Geheimtreffen teilnahm, und die neurechte Publizistin Vera Lengsfeld.
Mittlerweile hat sich um Apollo News herum eine gemeinnützige Unternehmensgesellschaft gegründet, die Apollo Seminare gUG, die nun die rechten Nachwuchs-Journalisten schult. Laut eigenen Angaben waren hier bisher unter anderem die Journalisten Henryk M. Broder, Roland Tichy, Julian Reichelt und Ralf Schuler Gäste. Noch bis 2023 fanden die Seminare der Apollo-Akademie zunächst in Kooperation mit Tichys Einblick, dann mit Pleiteticker um Julian Reichelt statt.
Einfluss durch Agenda-Setting: Zwischen Nius und „Welt“
Immer wieder gelingt es Apollo, Themen in die breitere Öffentlichkeit zu tragen. Wenn klassische Medien Beiträge von Apollo News aufgreifen, verschafft das Apollo zusätzliche Reichweite und den Anschein von Seriosität. Im Gefüge der rechten Medienlandschaft positioniert sich Apollo zwischen den Projekten Reichelts („Nius“, „Pleiteticker“) und konservativen Leitmedien wie der „Welt“. Während „Nius“ boulevardesk auf Reichweite setzt, kultiviert Apollo das Image einer rechtslibertären „seriösen Nachrichtenplattform“.
Zum Selbstverständnis schreibt das Apollo-Team auf seiner Website, dass „Journalismus gegen die Mächtigen, nicht für sie schreiben muss“. Daran ist nichts auszusetzen. Doch schaut man sich die Finanzierung von Apollo News an, gerät dieses Konstrukt des vermeintlich unabhängigen Journalismus ins Wanken.
Geschäftsführer Mannhart müsse, vorsichtig geschätzt, „einen mittleren fünfstelligen Betrag für 15 festangestellte Redaktionsmitglieder, weitere fünf freie Autoren sowie die Betriebskosten pro Monat aufwenden”, schrieb das medium magazin in Ausgabe 01/2025, in Teilen online veröffentlicht am 6. März. Ein Schülerblog, der in Zeiten des Mediensterbens so stark wächst und innerhalb weniger Jahre angeblich schwarze Zahlen schreibt. Wie geht das?
Zum einen sicherlich durch Werbung, auffallend sind hier die Anzeigen von Kettner Edelmetalle und ihren Untergangserzählungen. Doch auch Investorengeld fließt mittlerweile in Apollo News. Der Investor Thorsten Kraemer, hält, Stand März 2024, mit seiner Firma Crocodile Capital GmbH rund 15 Prozent der Anteile. Laut dem medium magazin saß Kraemer lange Zeit im Aufsichtsrat der Freenet AG. 2011 habe Kraemer in einem rechtslibertären Magazin von „Staatsfernsehen” als „Propagandaorgan von Union und SPD” gesprochen.
Ein Twitter-Account mit seinem Namen interagiert auffallend viel mit Apollo und Nius. Der User schreibt etwa: „Wie lange werden die Politclowns in Berlin noch benötigen, um intellektuell zu erfassen, dass es sich nicht um eine Rezession, sondern um ein per Klimaschwindel, Linksfaschismus, Regulierungswahn, Weltrettungsanmassung und sozialistischer Migrations- und Transferleistungskleptokratie systematisch und politisch vorsätzlich herbeigeführtes Zerstörungswerk handelt, das zu einem völligen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenbruch Deutschlands führen wird?“ Laut medium magazin ist allerdings unklar, „ob der Account wirklich von ihm betrieben ist“.
Professionalisierter rechter Aktivismus unter journalistischer Fassade
Apollo News steht exemplarisch für eine neue Generation rechts-alternativer Medienprojekte, die mit journalistischem Anschein eine klare politische Agenda verfolgen. Ihr Erfolg beruht auf strategischer Nachwuchsförderung, gezieltem Agenda-Setting und offenbar der Verknüpfung mit einflussreichen Netzwerken aus Wirtschaft, Politik und Medien.
Indem Apollo News klassische Formen des Journalismus nachahmt, aber zugleich demokratische Institutionen und pluralistische Werte delegitimiert, trägt das Projekt zur Normalisierung antidemokratischer und rechtsautoritärer Positionen bei. Damit ist Apollo weniger ein Nachrichtenmedium als ein Akteur im Kampf um kulturelle und politische Hegemonie und ein Beispiel dafür, wie rechts-alternative Medienstrategien zunehmend professionell, anschlussfähig und gefährlich für die demokratische Öffentlichkeit werden.
Dieser Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.
Eine orchestrierte Kampagne, angeführt von Apollo News, richtet sich derzeit gegen die Amadeu Antonio Stiftung – ein kalkulierter Angriff auf die Zivilgesellschaft. Durch gezielte Skandalisierung wird ein fiktiver Angriff auf die Pressefreiheit konstruiert, um Aufmerksamkeit zu binden, den Diskurs nach Rechtsaußen zu verschieben und daraus politisches wie ökonomisches Kapital zu schlagen.
Gegen die Amadeu Antonio Stiftung wird derzeit eine gezielte Kampagne geführt. Der Vorwurf, die Stiftung würde die Pressefreiheit einschränken, entbehrt jeder Grundlage. Die Amadeu Antonio Stiftung setzt sich mit ihren Mitarbeitenden für eine demokratische Zivilgesellschaft ein, die rechtsextremem Hass und Desinformation mit Fakten, Aufklärung und Dialog begegnet.
Der Schutz der Pressefreiheit wie auch der Menschenwürde sind für die Amadeu Antonio Stiftung unverhandelbare Grundrechte, die es zu schützen gilt. Auch die Auseinandersetzung mit Medieninhalten ist Teil der freien Meinungsäußerung. Gewalt darf niemals Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. Doch auch Medien müssen aushalten, dass die Öffentlichkeit sich kritisch mit ihren Beiträgen und ihrer Berichterstattung auseinandersetzt, das ist das Fundament der demokratischen Meinungsbildung.
Eine zentrale Aufgabe der Amadeu Antonio Stiftung ist es, demokratiefeindliche Tendenzen sichtbar zu machen und über rechtsextreme sowie rechts-alternative Mediennetzwerke aufzuklären, wie wir das bereits in der Vergangenheit bei einschlägigen Medien, wie Compact oder AUF1 mit Scharnierfunktion ins antidemokratische Milieu getan haben. Apollo News gehört zu einem Netzwerk rechts-alternativer Medien und verbreitet immer wieder unzutreffende oder irreführende Aussagen, die den Anspruch seriöser Berichterstattung untergraben.
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Rechts-alternative Medien übernehmen eine zentrale Scharnierfunktion zwischen rechtspopulistischen, rechtsextremen und antidemokratischen Milieus. Durch Desinformation, selektive Berichterstattung und gezielten Kampagnenjournalismus tragen sie dazu bei, verschwörungsideologische und demokratiefeindliche Narrative weit über das extremistische Spektrum hinaus zu verbreiten. Spätestens seit der COVID-19-Pandemie spielen rechts-alternative Medien eine tragende Rolle bei der Verbreitung von Hass, Desinformation und antidemokratischen Deutungsmustern. Besonders deutlich zeigt sich dies am Beispiel des COMPACT-Magazins, das sich von einem rechtspopulistischen Nischenmedium zu einem zentralen Akteur der rechtsextremen Medienlandschaft entwickelt hat. Die Amadeu Antonio Stiftung ordnete die in COMPACT verbreiteten Narrative frühzeitig als antidemokratisch und desinformativ ein – eine Einschätzung, die auch der Verfassungsschutz teilt, der das Magazin mittlerweile als gesichert rechtsextrem einstuft.
Gerade darin liegt die größte Gefahr rechts-alternativer Medien: Durch die gezielte Verzerrung von Fakten und den Einsatz von kampagnenartigem Journalismus wird die Faktenbasis öffentlicher Diskussionen untergraben – und damit eine wesentliche Grundlage der demokratischen Meinungsbildung gestört.
Prolog: Eine lokale Veranstaltung, gezielt bundesweit skandalisiert
Unsere Kollegin Kira Ayyadi, Journalistin bei Belltower.News, war am 30. September auf einer Podiumsveranstaltung der Linken Treptow-Köpenick eingeladen, um über Medienaktivismus von Rechtsaußen zu sprechen. Rechts-alternative Medien und deren demokratiegefährdendes Potenzial ist eines ihrer Schwerpunkthemen, sie gilt als ausgewiesene Expertin. Auch in der Vergangenheit hat sie ausführlich zu diesem Thema recherchiert und sich im Zuge dessen auch mit dem Portal Apollo News auseinandergesetzt. Der einstige Schülerblog, heute prominenter Akteur einer rechts-alternativen Medienlandschaft, hat seine Redaktionsräume knapp 500 Meter entfernt von dem Veranstaltungsort, einem kleinen veganen Burgerladen.
Ihr Vortrag wird von Zu- oder Mitarbeitenden von Apollo mitgeschnitten – ohne Zustimmung. Kurz darauf veröffentlicht Apollo News eine stark verzerrte Darstellung der Veranstaltung. Titel: „‚Leben unbequem machen‘ – Linkspartei will Apollo News aus Redaktionsräumen vertreiben“.
Der Titel des Flyers, mit dem die Linke ihre Veranstaltung im Vorfeld beworben hatte, wird gezielt zum Beweis angeblicher Gewaltaufrufe umgedeutet: „Rechten Medien auf die Tasten treten”, eine Metapher, die sich ganz eindeutig nicht gegen Menschen richtet, wird von Apollo News-Chefredakteur Max Mannhart zu einer „Rhetorik der offenen Gewalt” skandalisiert. Eine etablierte Praxis des rechts-alternativen Kampagnenjournalismus, aber auch des digitalen Kulturkampfes: Aus zugespitzter Sprache werden scheinbare Skandale konstruiert, Zitate aus dem Kontext gerissen und daraus moralische Empörung als politische Munition geformt. Zündstoff für Bedrohungskulissen.
1. Die Empörungsmaschinerie beginnt
Fast zeitgleich greift das rechts-alternative Medium Nius (geleitet von Julian Reichelt) das Thema auf. Darauf folgen eine Video-Stellungsnahme sowie Tweets des Apollo News-Chefredakteurs Max Mannhart, die besonders auf X eine enorme Reichweite erzeugen. Allein sein Videostatement erreicht dort 450.000 Menschen. In den Kommentarspalten mischen sich Privatnutzer*innen mit politisch motivierten Akteur*innen, Bots und einem eingespielten Verstärkernetzwerk aus AfD-nahen Influencer*innen. Zwischen echten Reaktionen und orchestrierter Empörung verwischen die Grenzen schnell: blaue Herzen, Drohungen und Häme gegen die Linke sowie gegen die Amadeu Antonio Stiftung formen einen Chor der Entrüstung.
Weitere Unterstützung folgt nach Mannharts Stellungnahme prompt: Bekannte Meinungs- und Scharfmacher wie Rainer Meyer, bekannt als „Don Alphonso“, Jan Fleischhauer, Markus Krall und Manuel Ostermann von der Deutschen Bundespolizeigewerkschaft (DPolG) reihen sich in die Entrüstungswelle ein. Aber auch demokratische Politiker*innen zeigen sich empört und versuchen, einen Skandal um die Linken auf die Bundesebene zu ziehen.
Julian Reichelt, Ex-Bild-Chef und nun Kopf der Kampagnen-Plattform Nius, veröffentlicht auf X einen Audio-Mitschnitt der Veranstaltung, mutmaßlich um den Anschein eines investigativ enthüllten Skandals zu erwecken.
2. Reizüberflutung – Wie Empörung massentauglich wird
Das Kampagnenmuster folgt einer klaren Choreografie: Zuerst wird ein Empörungsrahmen gesetzt, oft reicht eine moralisch aufgeladene Erzählung, die einfache Schuldzuweisungen ermöglicht und emotionale Anschlussfähigkeit schafft. Gerahmt wird es von desinformativen Taktiken: selektives Zitieren, emotionale Überzeichnung, bewusste Zuspitzung. Darauf reagiert ein eingespieltes Verstärkernetzwerk aus rechts-alternativen Influencer*innen, Meinungsmacher*innen und Kampagnenportalen, das die Geschichte über Social Media viral treibt und so lange wiederholt, in der Hoffnung, dass es von klassischen Medien aufgegriffen wird.
Die Kampagne zeigt Wirkung: Bei der Amadeu Antonio Stiftung gehen kurz nach der ersten Berichterstattung in rechts-alternativen Medien erste Presseanfragen seriöser Medien ein. Der Sprung vom rechts-alternativen Nischenaktivismus in die klassische Medienlandschaft ist erfolgreich vollzogen.
Unterdessen veröffentlicht das 15‑köpfige Redaktionsteam von Apollo News in kurzen Abständen weitere Texte, welche die Amadeu Antonio Stiftung zum Gegenstand machen. Es folgen Publikationen in Junge Freiheit, Berliner Zeitung, Journalistenwatch, Welt, NZZ und Achse des Guten.
Was hier geschieht, ist klares Agenda-Setting durch Inhaltsüberflutung: Eine Vielzahl an Artikeln, Tweets, Videos und Meinungen auf diversen Plattformen erzeugt den künstlichen Eindruck gesellschaftlicher Relevanz. Ein künstlicher Skandal wird somit zur politischen Erzählung, die eine vermeintliche gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat.
3. Eine willkommene Gelegenheit für Rechtsextreme
Rechtsextreme Akteur*innen springen auf den Empörungszug auf: Unter ihnen etwa AfD-Thüringen-Chef Björn Höcke, aber auch Alice Weidel oder Eva Hermann, die Inhalte dazu auf eigenen Profilen teilen. Diese Stimmen sind stets mit der Forderung verbunden, man solle der Amadeu Antonio Stiftung nun endlich die Gelder streichen. Also: Wir sollen unsere Arbeit, zur Stärkung einer demokratischen Zivilgesellschaft und den Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus aufgeben.
4. Verbale Entgleisungen und Gewalt
Das rechtsextreme MedienoutletCompact veröffentlicht ein Video, in dem der Medienaktivist Paul Klemm in den Räumen der Linken eindringen will und vor dem Veranstaltungsort, dem veganen Burgerladen, spricht. Der Burgerladen berichtet, dass sie nach der Veranstaltung ein gemaltes Hakenkreuz auf dem WC vorfinden.
Bei der Amadeu Antonio Stiftung gehen Hass- und Droh-Mails ein. Auch antisemitische Erzählungen über die Amadeu Antonio Stiftung haben derzeit wieder Hochkonjunktur, wie etwa die Erzählung einer „jüdischen Mafia“. Bilder unserer Kollegin kursieren in rechtsextremen Kreisen. Die Journalistin bekommt Morddrohungen, sie wird rassistisch beleidigt, ihr wird mit Abschiebung gedroht. In den Kommentaren extrem rechter Medien häufen sich Gewaltaufrufe gegen Linken-Politiker*innen und Mitarbeiter*innen der Amadeu Antonio Stiftung.
Auf Google werden die Namen der Veranstalter im Zusammenhang mit ihren Kindern gesucht. Solche Dynamiken sind kein Zufall, sondern strategisch. Sie sollen lähmen, journalistische Stimmen einschüchtern und demokratische Akteur*innen ohnmächtig machen.
Perfide ist, dass Apollo und das rechts-alternative Unterstützungsumfeld zwar seit Tagen von angeblichen Gewaltaufrufen gegen sich sprechen, letztlich aber genau das Gegenteil geschieht: Das eigene Publikum wird angestachelt und mit den passenden Feindbildern versorgt – und es weiß, was zu tun ist: Dutzendfache Zuschriften voller Gewaltfantasien und Morddrohungen treffen bei den Mitarbeitenden der Stiftung ein und werden auf Plattformen wie X hundertfach gepostet.
Der AfD-Abgeordnete Robert Eschricht trägt das Thema am 9. Oktober in die 72. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses und nutzt es dort, um zwei parlamentarische Anfragen an die Senatorinnen für Inneres und Justiz zu stellen – ein Schritt, der die orchestrierte Onlinekampagne in den politischen Raum verlängert.
Alles dient dem rechts-alternativen Kulturkampf
Seit einiger Zeit gehören das Portal Nius und mit ihm die Apollo News-Redaktion zu den lautesten Stimmen, wenn es darum geht, Hass gegen demokratische Akteur*innen zu schüren. Sie verstehen sich als Teil eines kulturellen Gegenentwurfs zu einer liberalen, offenen Gesellschaft. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben, mit Methoden des Kampagnenjournalismus, digitaler Empörungsökonomie, üppiger finanzieller Unterstützung und der gezielten Nutzung emotionaler Erregung. Wie wichtig diese Medienlandschaft für die rechtsextreme Debattenverschiebung ist, zeigt ein Video-Statement des Vorsitzenden der AfD-Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund. Er nennt Apollo News als Beispiel von „Vorfeldjournalisten”, denen er „wahnsinnig dankbar” sei – und an deren Seite sein Publikum stehen solle.
Bei der eigenen Klientel verfängt diese Strategie, nicht zuletzt wegen des „Hostile Media Effektes“: Der Begriff aus der Psychologie beschreibt den Eindruck von Menschen, dass „die Medien“ ihren eigenen Meinungen gegenüber kritisch berichten würden und dass sie vorrangig solche Informationen aus Berichterstattungen wahrnehmen, die ihrer eigenen Meinung entsprechen. Rechts-alternative Medien wissen dies für sich zu nutzen, inszenieren sich als einzige Alternative, um einen Kulturkampf gegen gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Im Fall von Apollo wird dabei auf ein junges Team gesetzt, das gezielt über Social-Media-Plattformen die öffentliche Debatte verschieben möchte.
Und das mit Erfolg: Diese Medien sind alles andere als Underdogs in einem Kampf David gegen Goliath, im Gegenteil. Rechts-alternative Medien erreichen ein Millionenpublikum und haben ihren Empörungsjournalismus zum einträglichen Finanzierungsmodell entwickelt. Es wundert deshalb nicht, dass die Apollo-Redaktion seit ihrem ersten Bericht täglich zwei bis drei Artikel zu dem angeblichen Skandal veröffentlicht. Es geht dem Medium darum, die Empörung möglichst lang weiter zu schüren, immer wieder um Spenden zu bitten und die Hoffnung, über die eigenen Kreise hinaus relevanter zu werden.
Dass sich unsere Gesellschaft mit dem massiven Aufkommen solcher Medienaktivist*innen und der enormen Unterstützung einiger finanzkräftiger Milliardäre verändert hat, ist in vielen Bereichen sichtbar. Wichtig ist allerdings, welche Reichweite sie mit ihren Publikationen bekommen.
Wenn Journalist*innen, Politiker*innen oder Kommentator*innen sich für die Plattform als Interviewpartner*innen hergeben oder sie positiv rezipieren, normalisieren sie die Themen und die Arbeitsweise der Verantwortlichen. Wenn demokratische Politiker*innen oder Medienschaffende diesen Portalen Interviews geben oder auf ihre Narrative reagieren, tragen sie ungewollt zur Legitimierung solcher Strukturen bei.
Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 nimmt die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland weiter dramatisch zu. Für Jüdinnen*Juden bedeutet das eine massive Bedrohung ihrer Sicherheit – und ein Leben, das zunehmend von Unsichtbarkeit geprägt ist. Trotz staatlicher Maßnahmen bleibt klar: Ohne zivilgesellschaftliches Engagement lässt sich Antisemitismus nicht wirksam bekämpfen. Die Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung und des Anne Frank Zentrums setzen hier an und geben mit der Kampagne „Jetzt du! Wir zusammen.“ vielfältigem Engagement ein Zuhause. Denn jede und jeder kann Verantwortung übernehmen und Antisemitismus etwas entgegensetzen – im Alltag, im Netz und im öffentlichen Raum.
Jüdisches Leben in Deutschland ist massiv gefährdet. 8.627 antisemitische Vorfälle zählte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) 2024 – ein Anstieg von 77 % gegenüber dem Vorjahr. Einen Anstieg registrierten auch die Behörden mit über 6.200 erfassten antisemitisch motivierten Delikte – ein Anstieg von etwa 20 % zu 2023. Die Konsequenz? Jüdisches Leben wird aus Angst vor Anfeindungen und Angriffen jeden Tag unsichtbarer. Zunehmend geraten selbst Orte und Personen ins Visier, die sich gegen Antisemitismus engagieren. Die Kampagne „Jetzt du! Wir zusammen.“ setzt ein deutliches Zeichen: Es ist Zeit zu handeln. Jede*r Einzelne kann einen Beitrag leisten – gemeinsam für eine Gesellschaft, in der Antisemitismus keinen Platz hat.
Das größte zivilgesellschaftliche Netzwerk gegen Antisemitismus
Seit 2003 bündeln die Aktionswochen die Kräfte zahlreicher Initiativen, Gemeinden und Institutionen. 2025 ist das Netzwerk größer denn je: 140 Kooperationspartner*innen veranstalten von Anfang Oktober bis in den November hinein bundesweit rund 160 Veranstaltungen gegen Judenhass. Das dichte Veranstaltungsprogramm bietet für jede*n etwas: Das Programm reicht von Ausstellungen und Workshops über Theater und Stadtführungen bis hin zu Fachgesprächen und digitalen Formaten. In Essen lockt ein Stadtspaziergang zum jüdischen Leben und eine Ausstellung über Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In Berlin lädt ein Podiumsgespräch dazu ein, über Antisemitismus und gekränkte Männlichkeit in Online-Games zu diskutieren. Außerdem stellt der Zentralrat der Juden in Deutschland in einem Webinar ein Lerntool vor, das jüdischen Alltag durch persönliche Geschichten erlebbar macht.
Die Aktionswochen gegen Antisemitismus zeigen, wie vielfältig und zugleich einfach Engagement gegen Judenhass sein kann. Das dichte Netzwerk an Initiativen, jüdischen Gemeinden, an bundesweiten Organisationen und lokalen Institutionen setzt damit ein starkes Zeichen gegen Antisemitismus und für eine demokratische und offene Gesellschaft.
Sichtbar im ganzen Land: Plakatkampagne
Parallel zur Veranstaltungsreihe zeigt die bundesweite Plakatkampagne „Jetzt du! Wir zusammen.“, wie jeder und jede Antisemitismus etwas entgegensetzen kann. An 1.200 Standorten in 36 Städten – darunter Berlin, München, Frankfurt am Main, Halle (Saale) und Bonn – thematisieren die Plakate, was gegen Antisemitismus getan werden kann – ob im Bus, an der Hauswand oder im Netz. Die Materialien und Kampagnenelemente stehen online zur Verfügung: aktionswochen-gegen-antisemitismus.de
Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus sind ein Projekt der Amadeu Antonio Stiftung in Kooperation mit dem Anne Frank Zentrum und werden gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus.
Hakenkreuze im Heft, Hitlergrüße im Klassenchat, homofeindliche Parolen rund um CSD-Gegendemonstrationen: Was früher als Ausnahme galt, ist für manche Schulen zur belastenden Realität geworden. Gleichzeitig treten Eltern und Peers mit menschenfeindlichen Haltungen sichtbarer auf. Das verunsichert: Was ist strafbar, was pädagogisch zu klären? Welche Maßnahmen greifen – und wer unterstützt, wenn es eskaliert?
Von Benjamin Winkler
Lehrkräfte berichten von Hakenkreuzen oder Hitlergrüßen in der Klasse, Schüler*innen schildern dominante rechte Cliquen auf dem Pausenhof und Eltern sorgen sich, dass ihre Kinder an der Schule radikalisiert werden. In den letzten Wochen erschienen viele Berichte über Vorfälle und Ereignisse an Schulen in Zusammenhang mit Rechtsextremismus oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Ebenso berichten Jugendforschende von einem regelrechten Trend unter manchen Jugendlichen, sich selbst als „rechts“ zu identifizieren. Im Kontext der Gegendemonstrationen zu CSD-Paraden zeigten sich immer wieder sehr junge Rechtsextreme, die offenbar durch homofeindliche oder anti-queere Aufrufe angesprochen werden.
Hinzu kommt, dass der steigende Rechtsextremismus in der Gesellschaft keineswegs ein Jugendproblem ist. Die AfD ist bereits gemäß einer Umfrage des Forsa-Instituts mit 27 Prozent stärkste Partei. Rechtsextremismus-Studien ergaben für 2023 die höchsten Werte für rechtsextreme Einstellungen seit Langem. Für die Schulen scheinen auch hiermit neue Probleme zu wachsen. Einige berichten nicht nur von rechtsextremen Schüler*innen, sondern ebenso von Eltern mit menschenfeindlichen Einstellungen.
Das Leipziger Büro der Amadeu Antonio Stiftung berät seit vielen Jahren Schulen in Sachsen sowie im übrigen Bundesgebiet zum Umgang mit Rechtsextremismus. Auch aktuell erreichen mindestens zwei Anfragen pro Woche das Büro.
Die jahrelange Beratungsarbeit des Büros macht es möglich, zehn gut verständliche Empfehlungen an Schulen weiterzugeben, die dabei helfen, das aktuelle Problem des Rechtsextremismus und der Menschenfeindlichkeit in den Griff zu bekommen. Sie sind schnell umsetzbar, stärken Haltung und Routinen und sorgen für Schutz – für Schüler*innen, Lehrkräfte und die Schule als demokratischen Lernort.
1. Vorbereitet sein
Seien Sie vorbereitet: Auch, wenn es an Ihrer Schule bisher noch nicht zu einem Vorfall kam oder es sich eher um Einzelfälle handelt, sprechen Sie untereinander über Ihre Erfahrungen im Umgang mit dem Problem und verabreden Sie ein grundlegendes Handlungsmuster im Sinne einer Präventionsstrategie.
Vermitteln Sie insbesondere als Schulleitung eine positive Haltung zur Arbeit am Thema Rechtsextremismus oder Menschenfeindlichkeit. Viele Praxisfälle zeigen, dass diese Arbeit oft einen positiven Effekt auf das Schulklima und den Zusammenhalt im Kollegium haben kann.
2. Netzwerke kennen
Informieren Sie sich über lokale Hilfsangebote: Inzwischen gibt es deutschlandweit ein breites Netz der Informations- und Beratungsangebote von Schulen. Sie reichen von mobilen Beratungsangeboten, über politische Bildung bis hin zu Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit. Ein guter erster Anlaufpunkt ist das landesweite Demokratiezentrum des Bundeslandes. In der Regel bietet auch die jeweilige Schulbehörde eine erste Anlaufstelle. Je nach Bundesland können Sie dort Koordinator*innen für Politische Bildung oder Extremismus-Beauftragte kontaktieren.
3. Grundlagenwissen aufbauen
Bilden Sie ein Grundlagenwissen unter allen Lehrkräften und dem pädagogischen Personal der Schule aus. Weder die Schulleitung, noch die Lehrkräfte müssen Expert*innen im Themenfeld Rechtsextremismus oder Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sein. Wichtig ist aber, dass einige Begriffe verstanden werden. In Ansätzen sollten Ursachen für rechtsextreme oder menschenfeindliche Einstellungen bekannt sein. Ein Grundwissen darüber, was strafbar ist und welche Symbole und Äußerungen gegen Gesetze verstoßen, ist ebenfalls von Vorteil.
In diesem Beitrag finden Sie Informationen über die gängigen Symbole und Codes der rechtsextremen Szene.
Nicht immer besteht im Kollegium ein breiter Konsens zum Handeln gegen Rechtsextremismus oder Menschenfeindlichkeit. Dies kann auch daran liegen, dass die Begriffe unterschiedlich verstanden werden. Ziel einer Fortbildung oder eines pädagogischen Tages sollte daher nicht nur die reine Wissensvermittlung sein, sondern ebenso der Austausch über Begriffe und Phänomene und die Erarbeitung eines gemeinsamen Problemverständnisses.
4. Instrumente schärfen
Überprüfen Sie Ihre schulischen Instrumente, die bei Kontakt mit rechtsextremen oder menschenfeindlichen Vorfällen helfen können. Hierzu gehören die Hausordnung, das Leitbild der Schule sowie die im jeweiligen Schulgesetz des Landes verankerten Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen der Schule. Sie können sich beim Check der Instrumente auch durch Schulberater*innen unterstützen lassen. Identifizieren Sie Lücken oder Leerstellen und schließen Sie diese. Eine Übersicht mit Trägern der Schulberatung erhalten Sie bei Ihrem lokalen Demokratiezentrum oder durch die Schulbehörde.
5. Keine „Neutralität“ gegenüber Menschenfeindlichkeit
Vermitteln Sie an alle schulischen Akteur*innen (Schüler*innen, Lehrkräfte, pädagogisches Personal und Eltern), dass Schulen in Deutschland keine neutralen Einrichtungen sind. Schulen arbeiten auf Grundlage des Grundgesetzes und insbesondere haben sie den Auftrag, aktiv die freiheitlich-demokratische-Grundordnung zu verteidigen.
Das bedeutet auch, dass alle aufgerufen sind, Schule zu einem Ort werden zu lassen, an dem keine rassistische oder antisemitische Diskriminierung stattfindet oder an dem keine Verharmlosung der Verbrechen der NS-Zeit geschieht. Zu diesem Thema gibt es auch einige Broschüren, die dabei helfen, den Mythos einer „neutralen“ Schule aufzuklären, z.B. vom Deutschen Institut für Menschenrechte.
6. Handlungsfähigkeit stärken
Wenn Ihre Schule bereits Kontakt mit rechtsextremen Vorfällen hatte oder wenn diese sogar alltäglich geworden sind, ist es wichtig, dass sowohl individuelle als auch systemische Kompetenzen aufgebaut werden. In einer schulinternen Fortbildung können gezielt Gesprächsstrategien gelernt werden, wie man reagieren kann, wenn sich einzelne oder mehrere Schüler*innen rechtsextrem oder menschenfeindlich verhalten.
Auch kann die Anwendung von Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen verabredet werden. Damit diese im Langzeitgedächtnis der Schule bleiben, sollte die Schule für häufige Fälle ein Handlungs- und Informationsweitergabemuster entwickeln. Somit ist für alle Lehrkräfte klar, wie reagiert werden sollte und wer wann durch wen informiert werden muss.
Wenn es an Ihrer Schule bereits ältere Schüler*innen (ab 14 Jahre und älter) gibt, die eine verfestigte rechtsextreme Einstellung haben, sollte über eine Zusammenarbeit mit Trägern für Ausstiegs- und Distanzierungsprozesse nachgedacht werden. Grundsätzlich ist die soziale Arbeit mit solchen Schüler*innen möglich, erfordert aber in der Regel ein geschultes Handeln. Auch für das Auffinden solcher Angebote in Ihrem Bundesland kann Ihnen das lokale Demokratiezentrum behilflich sein.
7. Politische Bildung verankern
Ihre Schule kann konsequentes Auftreten der Lehrkräfte durch Angebote der politischen Bildung oder des Fachunterrichts ergänzen. Nicht immer muss hinter einem rechtsextremen Spruch oder einer menschenfeindlichen Äußerung eine gefährliche Ideologie stehen. Manchmal ist es fehlendes Wissen oder Unsicherheit, im Zusammenhang mit einem Thema. Indem Schulen kontextuelle Inhalte des Rechtsextremismus oder der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufgreifen, können diese durch einen geschützten Lernort umschlossen werden.
Manchmal ist es Schulen schwer möglich, die Themen direkt im Fachunterricht aufzugreifen. Hier kann es helfen, wenn Schulen mit außerschulischen Partnern zusammenarbeiten. Diese führen beispielsweise einen Projekttag mit Teamer*innen durch. Wichtig ist hierbei die Vor- und Nachbereitung eines Projekttags mit den Klassen- und Fachlehrer*innen.
8. Partnerschaftliche Elternarbeit
Pflegen Sie eine moderne und partnerschaftliche Elternarbeit. Insbesondere, wenn Konflikte durch das Verhalten von Kindern und Jugendlichen an der Schule entstehen, kommt es darauf an, dass Eltern und Schule eine gute Beziehung haben. Im Grundgesetz ist der Gedanke angelegt, dass die Erziehung der Kinder Auftrag von Eltern und Schule ist. Daher sollten Beobachtungen geteilt und gemeinsame Verabredungen getroffen werden. Nicht immer gelingt es den Schulen sofort, eine Kooperation mit den Eltern zu erreichen. Schulen sollten in solchen Fällen auf das gemeinsame Interesse am Bildungserfolg und Kindeswohl hinweisen.
Bestehende Konflikte sollten möglichst praxis- und lösungsorientiert besprochen werden. Zugleich kann die Schule auch unter den Eltern demokratische Werte fördern, indem sie z.B. mit dem Elternrat der Schule Probleme in Zusammenhang mit Rechtsextremismus oder Menschenfeindlichkeit bespricht.
9. Schutz für Engagierte
Der konsequente Umgang mit Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit kann herausfordernd für Lehrkräfte oder Schüler*innen sein. Außerdem kam es bereits zu Angriffen auf Lehrer*innen oder Schüler*innen in und außerhalb der Schule. Damit das Engagement nicht beendet wird, benötigen engagierte Lehrkräfte und Schüler*innen Schutz und Stärkung.
Die Schulleitung sollte sich regelmäßig nach dem Befinden informieren und ggf. Schutz- oder Gegenmaßnahmen ergreifen. Wenn etwa das Engagement einer Lehrkraft gegen Rechtsextremismus dazu führt, dass diese im Internet diffamiert, beleidigt oder ihre privaten Daten veröffentlicht werden, sollte die Schulleitung, aber auch die Arbeitgeber*innen (die Schulbehörde) der Lehrkraft helfen, juristische Schritte einzuleiten. Ebenso können professionelle Supervisionssitzungen helfen, das Erlebte zu verarbeiten.
10. Demokratie leben
Betrachten Sie den Schutz des Grundgesetzes und der Demokratie als gemeinsame Aufgabe der Schule. Schüler*innen oder Lehrkräfte werden dann Spaß oder Sinnstiftung in dieser Aufgabe erfahren, wenn sie Demokratie nicht als inhaltsloses Wort oder statisches Gesellschaftssystem erleben.
Die Schule sollte ein Ort sein, der Lust auf Demokratie macht und der zeigt, dass Demokratie in der Lage ist, Probleme und Herausforderungen zu meistern, aber auch dabei hilft, kreative Ideen umzusetzen. Schule sollte deshalb nicht nur die gesetzlich vorgeschriebenen demokratischen Institutionen pflegen (z.B. Schüler*innenrat, Elternrat oder Schulkonferenzen), es sollten auch Projekte betrieben werden, die Demokratie als etwas Spannendes und Erfolgreiches vermitteln und erlebbar machen. Ebenso kann Schule einen rechtsextremen Vorfall als Anlass für den Beginn einer demokratischen Schulentwicklung nehmen. Professionelle Schulbegleiter*innen können hierbei helfen.
Wir hoffen, Ihnen mit diesen zehn Punkten Orientierung und Rat zu geben. Wenn Sie weitere Fragen haben, melden Sie sich gern bei unserem Schulberater des Leipziger Büros: Benjamin Winkler (benjamin.winkler[at]amadeu-antonio-stiftung.de).
Ob „Tradwife“-Ästhetik, Gaming-Communities oder maskuliner Fitness-Content – rechtsextreme Akteur*innen sprechen Jugendliche heute dort an, wo sie sich zu Hause fühlen. Im Interview mit Belltower.News erklärt Lisa Geffken vom Kompetenzzentrum Rechtsextremismus und Demokratieschutz der Amadeu Antonio Stiftung, wie digitale Radikalisierung funktioniert – und wie wir uns ihr entgegenstellen können. Denn wer die Mechanismen kennt, kann Jugendliche stärken und rechtsextreme Netzwerke zurückdrängen.
Belltower.News: Frau Geffken, was sind aus Ihrer Sicht derzeit die größten Herausforderungen im Themenfeld Rechtsextremismus?
Lisa Geffken: Rechtsextremismus ist längst kein Randphänomen mehr, sondern mitten in der Gesellschaft angekommen. Besonders gefährlich ist die Radikalisierung von Jugendlichen, die heute stark über soziale Netzwerke erfolgt. Studien zeigen, dass fast zwei Drittel aller rechtsextremen Straftaten in Deutschland mittlerweile mit rechtsextremen und menschenfeindlichen Content im Internet zusammenhängen. Der digitale Raum bietet einen idealen Nährboden, denn hier kommen Jugendliche oftmals ganz unbewusst und niedrigschwellig mit solchen Inhalten in Berührung. Dort werden sie durch geschickte Ansprache abgeholt – hier beginnt die Radikalisierung.
Dabei sehen wir deutliche Unterschiede: Junge Männer werden oft über Gaming-Communities, Fitness-Content oder gewaltbetonte Männlichkeitsbilder angesprochen – dort wird Stärke, Dominanz und Abwertung anderer ästhetisch als „cool“ inszeniert. Junge Frauen geraten dagegen eher über die Vermittlung traditioneller Rollenbilder in rechtsextreme Narrative hinein: etwa über vermeintlich „traditionelle Weiblichkeit“, die sogenannte „Tradwife“-Szene oder über Lifestyle-Influencer*innen, die in ihren Botschaften subtile Abwertungen von Gleichberechtigung, Feminismus oder Vielfalt einweben.
Belltower.News: Das hört sich so an, als würden Rechtsextreme genau überlegen, wen sie wie ansprechen können.
Lisa Geffken: Ja, rechtsextreme Akteur*innen nutzen sehr gezielt die unterschiedlichen Lebenswelten von Mädchen und Jungen, um sie mit passgenauen Inhalten zu erreichen. Sie kennen ihre Zielgruppe und vor allem die passgenaue Ansprache sehr gut. Die Botschaft ist immer die gleiche: „Wir verstehen euch, wir geben euch Rückhalt und einfache Antworten.“ Dahinter stehen digitale Netzwerke und Influencer*innen-Strukturen, die hochgradig vernetzt und schwer greifbar sind.
Belltower.News: Wenn wir heute vom Rechtsextremismus sprechen, denken wir oft in erster Linie an Parlamente.
Lisa Geffken: Aus gutem Grund. Wir dürfen auch die parteiförmige Organisation des Rechtsextremismus nicht unterschätzen. Rechtsextreme Parteien versuchen, antidemokratische Einstellungen parlamentarisch zu verankern und zu normalisieren. Und militantere Strukturen wie die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ setzen gezielt auf Straßengewalt, Einschüchterung und paramilitärisch anmutende Auftritte, um Jugendliche zu rekrutieren und ganze Regionen unter Druck zu setzen. Diese parteiförmigen Akteur*innen sind eine enorme Herausforderung, weil sie Radikalisierung nicht nur digital, sondern auch organisatorisch und institutionell verfestigen – und so dauerhaft Resonanzräume für Hass und Gewalt schaffen.
Belltower.News: Was wiederum auch den digitalen Hass verstärken dürfte.
Lisa Geffken: Digitale und parteiförmige Radikalisierung greifen ineinander. Rechtsextreme betreiben dahingehend Arbeitsteilung. Jugendliche übernehmen Begriffe wie „Remigration“ im Alltag oder vernetzen sich in Cliquen, die sich radikalisieren, während Parteien und weitere Strukturen zum Beispiel aus dem Bereich des Kampfsports bereitstehen, die diese Radikalisierung langfristig absichern und ein Lifestyle-Angebot machen. Gleichzeitig beobachten wir eine wachsende Gewaltbereitschaft gegenüber allen, die dem etwas entgegensetzen – Kommunalpolitiker*innen, Lehrkräfte oder demokratische Initiativen. Wenn diese Menschen bedroht werden und aufgeben, verlieren Regionen oft die einzigen Stimmen, die sich offen für Demokratie und Minderheiten einsetzen. Das macht die Lage so gefährlich.
Belltower.News: Wie reagiert das Kompetenzzentrum auf diese Entwicklungen?
Lisa Geffken: Unsere Arbeit hat immer zwei Seiten: Wir unterstützen konkret die engagierten Menschen vor Ort, und wir wirken vermittelnd, indem wir Wissen sammeln, Expertise aufbauen und Standards für Qualität in der Demokratiearbeit setzen. In unseren Sicherheitssprechstunden etwa beraten wir Engagierte, die durch Rechtsextreme unter Druck geraten, und entwickeln gemeinsam mit ihnen Strategien, wie sie sich schützen können. Gleichzeitig geht es uns darum, Erfahrungen und Wissen systematisch aufzubereiten und in die Breite zu tragen: mit Handreichungen wie dem Demokratieatlas, mit gemeinsamen Fortbildungen im Rahmen des KompRex-Verbunds der beteiligten sechs Träger und durch eine enge beratende Begleitung von Initiativen und Verwaltungen vor Ort. Das ist genau die Stärke, die wir als Amadeu Antonio Stiftung in die Verbundarbeit des KompRex einbringen: wir kennen die Initiativen vor Ort, insbesondere in Ostdeutschland und rechtsextremen Schwerpunktregionen, ihre Probleme und Bedarfe und können durch unsere jahrzehntelange Expertise passgenau unterstützen und beraten.
Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit ist auch die Vernetzung. Wir bringen Akteur*innen aus Politik, Verwaltung, Schulen und Zivilgesellschaft zusammen, damit sie voneinander lernen und einander stärken. Denn nur, wenn wir unser Wissen bündeln und gemeinsam Qualitätsstandards für Prävention und Demokratieschutz entwickeln, können wir nachhaltig und langfristig etwas verändern. Gerade in Zeiten, in denen Rechtsextreme sich immer stärker auf den digitalen Raum konzentrieren, ist diese koordinierte Arbeit entscheidend.
Belltower.News: Können Sie Beispiele nennen, wie Ihre Arbeit wirkt?
Lisa Geffken: Eine junge Frau hat uns erzählt, dass sie wegen massiver Drohungen ihr Amt aufgeben wollte. In der Sicherheitssprechstunde haben wir gemeinsam Schutzstrategien entwickelt, und sie konnte dadurch weitermachen.
Oder Jugendliche, die nach einem unserer Workshops berichteten: „Jetzt verstehe ich, wie diese Influencer arbeiten – und ich kann dagegenhalten.“ Einige von ihnen haben danach eigene Projekte an ihren Schulen gestartet, um über Vielfalt und gegenseitigen Respekt zu sprechen. Das zeigt, dass unsere Arbeit ermutigt und konkret wirkt.
Mit den Initiativen gegen Rechtsextremismus im ländlichen Raum haben wir gerade vorletztes Wochenende bei einem überregionalen Vernetzungstreffen gemeinsam Positionen für die Politik formuliert, und sie zusammen mit Bundestagsabgeordneten diskutiert.
Belltower.News: Immer wieder gibt es auch Diffamierungen gegen Ihre Stiftung. Warum?
Lisa Geffken: Das ist ein altbekanntes Muster: Rechtsalternative Medien und Akteur*innen wie die AfD suchen sich Details heraus, blasen sie auf und stellen unsere Arbeit als unseriös dar. Ziel ist es, das Vertrauen in zivilgesellschaftliches Engagement zu zerstören. Wenn solche Vorwürfe von einzelnen Akteur*innen demokratischer Parteien aus der politischen Mitte übernommen werden, wird es besonders gefährlich – dann werden die Angriffe normalisiert.
Natürlich machen auch wir oder die Bundesprogramme nicht alles perfekt. Wo Fehler passieren, benennen und bearbeiten wir sie offen und kritisch, denn Demokratie lebt von Glaubwürdigkeit und Transparenz. Und selbstverständlich gehören Träger, die nicht klar auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, von einer Förderung ausgeschlossen. Aber die organisierten Desinformations- und Diffamierungskampagnen haben häufig mit konstruktiver Kritik nichts zu tun – sie sollen unsere Arbeit delegitimieren. Dabei ist sie wissenschaftlich fundiert, unabhängig und vor allem notwendig. Ohne zivilgesellschaftliches Engagement, ohne Demokrat*innen ist unsere Demokratie schutzlos.
Ende September 2025 kamen rund 120 zivilgesellschaftlich Engagierte aus dem gesamten Bundesgebiet im niedersächsischen Bostelwiebeck zusammen. Eingeladen hatte die Gruppe beherzt – für Demokratie und Vielfalt e. V. zu ihrem jährlichen Vernetzungstreffen, das mit Unterstützung des Kompetenzzentrum Rechtsextremismus und Demokratieschutz organisiert wurde. Ziel der dreitägigen Veranstaltung war es, gemeinsame Strategien für wirksames demokratisches Handeln zu entwickeln, Erfahrungen zu teilen und Initiativen insbesondere im ländlichen Raum zu stärken. Also genau dort, wo demokratisches Engagement oftmals unter besonders schwierigen Bedingungen stattfindet.
Zivilgesellschaftliches Engagement unter Druck
Seit 2018 organisiert die Gruppe beherzt eines der größten Vernetzungstreffen für demokratisch Engagierte in strukturschwachen und ländlichen Regionen. Auch in diesem Jahr folgten über 120 Personen der Einladung: ein deutliches Zeichen für den hohen Bedarf an Austausch und Unterstützung. Schon zu Beginn der Veranstaltung wurde deutlich, unter welchem Druck viele Initiativen vor Ort stehen: Erst wenige Wochen vor dem Treffen war in Gardelegen eines der „Kreuze ohne Haken“ der Gruppe beherzt, ein Symbol für Vielfalt und Menschenrechte, verbrannt und das Bild anschließend in sozialen Netzwerken verbreitet worden.
Solche Vorfälle verdeutlichen nicht nur die Anfeindungen, denen sich demokratisch Engagierte zunehmend ausgesetzt sehen, sondern auch, wie stark sich analoge und digitale Räume gegenseitig beeinflussen. Der digitale Raum spielt eine wachsende Rolle bei der Verbreitung rechtsextremer Ideologien, gerade unter Jugendlichen. Soziale Medien wirken dabei nicht selten als Katalysator für Radikalisierungsprozesse. Die gezielte Ansprache junger Menschen durch rechtsextreme Akteure, oft eingebettet in scheinbar harmlose Inhalte oder „Trends“, erschwert frühzeitige Interventionen und stellt zivilgesellschaftliche Arbeit vor neue Herausforderungen.
Expertise, Austausch und Strategien
In Impulsvorträgen und Diskussionen mit Expert*innen wie der Journalistin Andrea Röpke und der Theologin Dr. Ruth Hess wurden Themen wie völkische Siedlerfamilien, Antifeminismus, die Verbreitung rechtsextremer Narrative sowie gelungene Gegenstrategien thematisiert. Dabei wurde betont, dass fundierte Analysen, lokale Kenntnisse und tragfähige Netzwerke wesentliche Voraussetzungen für wirksame Demokratieförderung sind.
Die Veranstaltung bot aber nicht nur Raum für Analyse, sondern auch für lösungsorientierten Austausch. Im Gespräch miteinander und mit Expert*innen aus Forschung, Journalismus und Praxis konnten die Teilnehmer*innen Anregungen für ihr eigenes Engagement sammeln, so etwa im Umgang mit Desinformation und Hassrede im Netz oder beim Aufbau resilienter lokaler Bündnisse.
Politischer Rahmen für demokratisches Engagement
Ein zentrales Element des Treffens war die Podiumsdiskussion am Samstagnachmittag, in der Vertreter*innen der Zivilgesellschaft mit Jakob Blankenburg, Bundestagsabgeordneter der SPD, über notwendige politische Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement ins Gespräch kamen. Moderiert von Tahera Ameer, Programmvorständin der Amadeu Antonio Stiftung, wurden unter anderem die Forderung nach einem Demokratiefördergesetz, Reformbedarfe im Gemeinnützigkeitsrecht sowie der Schutz vor strategischen Klagen (SLAPPs) diskutiert. Die Vorstellung einer gemeinsamen Resolution unterstrich den Wunsch nach klarer politischer Unterstützung für das Engagement vor Ort.
Bestärkung für die Praxis
Auch der Sonntag bot vielfältige inhaltliche Angebote. In praxisnahen Workshops ging es unter anderem um Kommunikationsstrategien gegen rechtsextreme Argumentationsmuster, digitale Zivilcourage und interkulturellen Austausch. Die Veranstaltung zeigte einmal mehr, dass demokratische Arbeit im ländlichen Raum, trotz aller Herausforderungen, von hoher fachlicher Qualität, großem Engagement und Innovationskraft geprägt ist.
Die Gruppe beherzt – für Demokratie und Vielfalt e. V. ist seit 2018 in Niedersachsen aktiv. Die Mitglieder setzen sich für eine menschenrechtsorientierte, demokratische Gesellschaft ein und reagieren insbesondere auf rechtsextreme Raumnahmestrategien völkischer Siedlerfamilien. Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie den „Kreuzen ohne Haken“ positioniert sich der Verein sichtbar gegen Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit. Die Amadeu Antonio Stiftung begleitet und unterstützt die Arbeit der Gruppe beherzt seit vielen Jahren, besonders bei der Organisation ihrer jährlichen Vernetzungstreffen.
Der dritte Oktober 1990 ging als Tag der deutsch-deutschen Wiedervereinigung in die Geschichtsbücher ein. Was dabei oft vergessen wird: Rechtsextreme missbrauchen damals wie heute den Tag, um ihre völkischen Vorstellungen einer deutschen Identität und Nation Ausdruck zu verleihen.
Bereits vor der Wiedervereinigung sahen sich Neonazis in Ost- und Westdeutschland durch das anstehende nationale Großevent in ihrer Ideologie bestärkt. Endlich „war man wieder wer“. Die rechte Straßengewalt der Baseballschlägerjahre entstand auch aus der nationalistischen Euphorie heraus, die teils von Staatsseite gepredigt, in etablierten neonazistischen Strukturen einen gefährlichen Nährboden fand. Erfahrene rechtsextreme Kader aus dem Westen erkannten in der ostdeutschen, gewaltbereiten Neonazi-Szene ein erfolgversprechendes Publikum. Sie begannen spätestens mit dem Fall der Mauer, systematisch Kontakte zu knüpfen und ihre rechtsextreme Propaganda zu verbreiten.
Für Menschen, die in den Augen von Rechtsextremen, Rassist*innen oder Antisemit*innen nicht „deutsch“ oder „gesellschaftlich nützlich“ genug waren, spitzte sich mit der Wiedervereinigung die Lage deutlich zu – Hass und Gewalt brachen sich hemmungslos Bahn.
Der Beginn der Baseballschlägerjahre Rechte Gewalt gab es auch vor 1990. Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik. Aber nach der Wiedervereinigung wurde sie so massiv und forderte unmittelbar so viele Tote, dass zunächst Zivilgesellschaft und Medien und dann auch staatliche Stellen begannen, rechtsextreme Gewalt systematisch zu erfassen. Auch Todesopfer rechter Gewalt wurden im geteilten Deutschland, mit wenigen Ausnahmen, kaum als solche dokumentiert und staatlich anerkannt.
Dies änderte sich nach der Wiedervereinigung – weil die Gewalt so omnipräsent wurde und es zu so vielen Morden kam. 35 Jahre später zählt die Amadeu Antonio Stiftung 221 Todesopfer rechter Gewalt. Das Dunkelfeld rechtsextremer Gewalttaten dürfte diese erschreckende Zahl noch um ein Vielfaches erhöhen. Noch immer gibt es eine große Diskrepanz zwischen den Zahlen, die unabhängige Organisationen und Journalist*innen dokumentieren und denen, die staatliche Stellen erfassen: Denn von der Bundesregierung werden lediglich 117 Tötungsdelikte als rechtsmotiviert gewertet. Vor allem obdachlosenfeindlicher Sozialdarwinismus, Queer- und Transfeindlichkeit erkennt die Exekutive oftmals nicht als rechtsextreme Ideologie.
Tatorte der Einheit Rechtsextreme nahmen die Wiedervereinigung zum Anlass, Menschen, die nicht ihren Vorstellungen eines ethnisch homogenen Deutschlands und deutscher Identität entsprachen, selbst ermächtigt aus der neu entstandenen Volksgemeinschaft auszuschließen und zu bekämpfen. Während die einen jubelten und die Deutsche Einheit feierten, begann die Wiedervereinigung für andere mit Angst. Migrant*innen, Vertragsarbeiter*innen und Linke gerieten ins Visier der euphorisierten Neonazis.
Die Initiative zweiteroktober90 dokumentiert die Gewaltgeschichte um den Tag der Deutschen Einheit, die durch den nationalen Freudentaumel in den Hintergrund geraten und kaum historisch aufgearbeitet ist. Die schiere Anzahl der Angriffe zeigt, dass es sich keinesfalls um zufällige Einzelfälle rechter Gewalt handelt. Viele der Angriffe waren im Voraus bekannt. Betroffene bereiteten sich teilweise auf die antizipierte Gewalt vor. Auch der Polizei waren Drohungen bekannt. In den seltensten Fällen reagierte sie jedoch mit Schutzkonzepten oder präventiven Maßnahmen gegen die Täter*innen. Stattdessen schritt sie in vielen Fällen nur halbherzig oder zu spät ein.
In vielen deutschen Städten kommt es im Zuge der Wiedervereinigung zu Gewaltexzessen durch Neonazis. In der Nacht zum dritten Oktober 1990 verüben insgesamt über 1.000 Neonazis in verschiedenen deutschen Städten gewaltvolle Aktionen. Sie belagern und attackieren Wohnheime von Migrant*innen und Vertragsarbeiter*innen, linke Jugendzentren und besetzte Häuser. Die Neonazis sind mit Steinen, Molotow-Cocktails, Baseballschlägern, Reizgaspistolen, Fackeln und Schlagstöcken bewaffnet. Es gibt Verletzte.
In Zerbst greifen 200 bis 300 Neonazis mehrere Stunden ein besetztes Haus mit Steinen, Raketen und Molotow-Cocktails an. Schließlich setzen sie das Haus in Brand. Die Hausbewohner*innen flüchten aufs Dach und können von der Feuerwehr in letzter Minute gerettet werden. Beim Sprung vom Dach verletzen sich manche schwer.
In Erfurt greifen 50 Neonazis das Autonome Jugendzentrum mit Feuerwerkskörpern an.
Es kommt zum Brand in einem Nachbargebäude, auf den ein Stromausfall in der ganzen Straßen folgt.
In Weimar greifen über 150 Neonazis mit Pflastersteinen, Molotow-Cocktails und Gaspistolen bewaffnet ein besetztes Haus an. Es dauert mindestens eine Stunde, bis die Polizei die Situation entschärfen kann.
In Jena verwüsten Neonazis ein besetztes Haus, in dem sich auch das Autonome Jugendzentrum befindet. Der Angriff war angekündigt, die Polizei riet den Bewohner*innen lediglich, das Haus zu verlassen.
In Eisenach greifen circa 100 Neonazis mehrere Tage ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter*nnen an. Da die Polizei die Situation nicht unter Kontrolle bekommt, lässt die Stadt das Gebäude schließlich räumen.
In Leipzig randalieren 150 Neonazis in der Innenstadt. Mit Baseballschlägern, Messern und Pistolen bewaffnet greifen sie Passant*innen an und jagen Migrant*innen. Später werfen sie die Scheiben des soziokulturellen Zentrums „Die Villa“ ein.
In Halle (Saale) verwüsten 15 Neonazis das alternative Café des „Reformhauses“, in dem sich zivilgesellschaftliche Gruppen treffen.
In Hoyerswerda greifen bis zu 50 Neonazis ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter*innen an. Die Polizei empfahl den Bewohner*innen zuvor, sich im Falle eines Angriffs in ihren Zimmern zu verstecken.
In Guben greifen 80 Neonazis ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter*innen an und setzen einen polnischen Kleinbus in Brand.
In Magdeburg randalieren 70 Neonazis in der Innenstadt und greifen einen Jugendclub sowie später – unterstützt von Anwohner*innen – auch das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen an.
In Frankfurt (Oder) greift eine mit Steinen und Schlagstöcken bewaffnete Gruppe jugendlicher Neonazis zwei Busse mit polnischen Arbeiter*innen an. Mindestens ein Fahrer wird verletzt.
In Bergen auf Rügen grölt ein Mob junger Neonazis vor einer Geflüchtetenunterkunft rassistische und rechtsextreme Parolen.
In Hamburg versuchen 300 Neonazis und Hooligans, die besetzten Häuser in der Hafenstraße zu überfallen. Ein mehrstündiger Polizeieinsatz verhindert die Konfrontation mit den 600 Personen, die die Häuser schützen.
In Schwerin kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und einer „Bürgerwehr“, die versucht, den öffentlichen Raum und insbesondere eine Geflüchtetenunterkunft vor rechten Angriffen zu schützen.
Auch an weiteren Orten ziehen Rechtsextreme grölend durch die Straßen, belästigen und bedrohen Menschen, randalieren und entwenden Waffen aus den Beständen der Nationalen Volksarmee.
Rechtsextreme fordern „Wende 2.0“ Heute wirbt die rechtsextreme AfD damit, die Wende vollenden zu wollen. Sie verdreht die Ziele der Friedlichen Revolution in der DDR nach ihren nationalistischen Idealen. Über rassistische Forderungen nach einer restriktiven Einwanderungs-, Asyl- und Abschiebepolitik gibt sie sich als die einzige Verteidigerin der deutschen Identität.
Auch andere rechtsextreme Akteur*innen missbrauchen die Wiedervereinigung im Allgemeinen und den Tag der deutschen Einheit im Konkreten, um ihre Vorstellung einer „reinen Volksgemeinschaft“ einzufordern. Jedes Jahr kommt es am 3. Oktober vermehrt zu rechtsextremen Übergriffen. Auch zu den Feierlichkeiten in Saarbrücken dieses Jahr haben sich rechtsextreme Gruppen wie „Saarland Bewahren“ und „Rein Deutschen Jugend“ angekündigt. „Der Einheitstag ist bis heute nicht einfach nur ein symbolischer nationalistischer Feiertag, sondern auch ein Tag der Gewalt gegen Linke, Migrant:innen und Schwarze Menschen“, so die Initiative zweiteroktober90.
Die Initiative „Königsdorf rückt zusammen“ hat sich zum Ziel gesetzt, der wachsenden Spaltung in ihrem Dorf positive und verbindende Erfahrungen entgegenzusetzen. Mit einem Dorffest gelang es, Menschen zusammenzubringen, die bisher wenig Berührungspunkte hatten. Die Menschen aus dem Dorf beteiligten sich mit eigenen Ideen und packten mit an. Entstanden sind neue Netzwerke und Anknüpfungspunkte für künftiges Engagement.
Von Luisa Gerdsmeyer
„Wir wollten mit unserem Dorffest einen Ort schaffen, an dem die Leute nicht, wie sonst üblich, nur mit ihren Freund*innen und Bekannten und zusammensitzen, sondern wo neue Kontakte entstehen, alle sich einbringen und gemeinsam etwas gestalten können“, erzählt Bruno. Mit dieser Idee gründete er gemeinsam mit einigen Mitstreiter*innen die Initiative „Königsdorf rückt zusammen“. Unterstützt wurden sie dabei von der Projektförderung der Amadeu Antonio Stiftung.
Engagierte werden aktiv für ein demokratisches Miteinander in Königsdorf
Seit einiger Zeit beobachten die Engagierten eine Verschiebung im öffentlichen Diskurs. Die Stimmung ist angespannt, Diskussionen verlaufen in Königsdorf zunehmend polarisiert und teils sehr aufgeheizt. So hat sich etwa eine Initiative gegen den Bau einer Geflüchtetenunterkunft im Ort gegründet. Deren Mitglieder begleiteten Stadtratssitzungen mit Protestaktionen, organisierten Demos und Stickeraktionen. Forderungen nach mehr Mitbestimmung oder einer menschenwürdigen, dezentralen Unterbringung von Geflüchteten wurden dabei teilweise von rassistischen Ressentiments überlagert, sodass nicht nur Politiker*innen, sondern auch die Geflüchteten selbst zum Feindbild in Teilen der Dorfgesellschaft wurden. Auch die Wahlergebnisse für den Frechener Stadtrat bei den nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen am 14. September zeigen, dass eine Verschiebung stattgefunden hat: 2020 konnte die rechtsextreme AfD nicht einmal vier Prozent erreichen, fünf Jahre später hat sie ihr Ergebnis mit 12,32 Prozent mehr als verdreifacht.
Bruno, der in Königsdorf aufgewachsen ist, versuchte immer wieder in Gesprächen dagegenzuhalten und entschied sich schließlich, gemeinsam mit ehemaligen Mitschüler*innen, Eltern, Lehrer*innen und Bekannten aktiv zu werden für ein solidarisches Dorfklima, in dem kein Platz ist für Rassismus und Ausgrenzung. Ihr Ziel war es dabei nicht, hitzige Debatten zu führen, sondern Menschen durch das positive Erleben von Selbstwirksamkeit und Zusammenhalt zu erreichen. „Das Fest war bewusst niedrigschwellig gestaltet, aber immer verbunden mit einer klaren politischen Haltung“, so Bruno.
Dorffest ermöglicht Begegnungen und lädt zum Mitmachen ein
Am 7. September war es so weit. Der Dorfplatz in Königsdorf, einem Ortsteil der kleinen Stadt Frechen im Kölner Umland, füllte sich mit Leben: Es gab Workshops und Live-Musik, die Besucher*innen brachten Beiträge für ein großes Mitmachbuffet mit. Gemeinsam wurde ein „Dorfsüppchen“ gekocht, bei dem alle beim Gemüseschnippeln mitmachen konnten. Für die Kinder gab es einen „Mini-Jahrmarkt“ mit Dosenwerfen, Glücksrad und weiteren Mitmachaktionen. An Infoständen konnten sich die Besucher*innen über lokale Vereine und Initiativen informieren und vernetzen.
„Besonders schön fand ich das Begegnungszelt, das wir in der Mitte des Platzes aufgestellt und mit Teppichen und Sofas ausgestattet haben. Hier trafen sich Menschen unterschiedlichen Alters, unterhielten sich und lernten sich kennen. Alteingesessene Königsdorfer*innen kamen ins Gespräch mit Menschen aus migrantischen Communities und neu Zugezogenen“, freut sich Bruno. „Aus unserer Perspektive sind solche Begegnungen total wichtig, um Vorurteile abzubauen, Empathie für unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven zu entwickeln und ein positives Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, das den Menschen hilft, mit den Unsicherheiten und Ängsten angesichts der zahlreichen Krisen weltweit umzugehen.“
Beteiligungsmöglichkeiten schaffen Vertrauen
Dass das Fest ein Erfolg werden würde, erschien zu Beginn keineswegs selbstverständlich. Viele Menschen im Dorf standen der Initiative zunächst skeptisch gegenüber. „Es hat viel Zeit und Gespräche gebraucht, um Vertrauen aufzubauen und die Menschen zu überzeugen, dass wir das Dorfklima nur verbessern können, wenn wir Räume für Begegnung und Austausch schaffen – Räume, in denen Diskriminierung und Ausgrenzung keinen Platz haben“, meint Bruno.
Von Anfang an setzte die Gruppe bei der Planung auf Offenheit und Beteiligungsmöglichkeiten. Sie erstellte eine Website, auf der Interessierte Informationen zum Fest fanden und über ein Kontaktformular eigene Ideen einbringen oder Hilfe anbieten konnten. Über Flyer, soziale Medien und Messenger-Kanäle wurde das Fest beworben – immer mit der Einladung, aktiv mitzumachen.
„Das hat super funktioniert“, sagt Bruno. „Knapp 30 Leute haben sich auf diesem Weg bei uns gemeldet und tolle Ideen eingebracht.“ So entstand nach und nach das Programm: Eine Familie startete einen Kleidertausch, andere boten kreative oder sportliche Workshops an. Auch lokale Unternehmen unterstützten die Initiative – mit Technik, Getränken oder Lebensmitteln.
Das Fest hat nicht nur einen besonderen Tag geschaffen, sondern auch neue Verbindungen geknüpft, die in Zukunft genutzt werden können, um zivilgesellschaftliches Engagement in Königsdorf zu verstetigen. Schon jetzt gibt es Ideen: Eine Teilnehmerin schlug beispielsweise vor, eine Menschenkette für Demokratie zu organisieren.
Pläne für die Zukunft – Erfahrungsaustausch und Vernetzung mit anderen Initiativen
Längst hat die Initiative Pläne, die über Königsdorf hinaus reichen: „Wir möchten unsere Erfahrungen weitergeben und andere ermutigen, selbst aktiv zu werden“, sagt Bruno. „Gerade in Orten, in denen es bisher wenig zivilgesellschaftliche Strukturen gibt, ist der Anfang oft besonders schwer. Da kann der Kontakt zu Menschen, die schon einmal etwas organisiert haben, sehr hilfreich sein.“
Neben der Weitergabe von Erfahrung wollen sie auch ganz praktisch unterstützen. „In unserem Team gibt es Leute, die sich gut mit Webdesign und Grafik auskennen – also zum Beispiel beim Erstellen von Websites, Flyern oder Logos. Diese Ressourcen wollen wir überregional auch anderen zur Verfügung stellen.“
Demokratiefeste in ländlichen Orten wie Königsdorf sind wichtig – gerade angesichts der verhärteten Diskussionen und rassistischen Ressentiments. Ihnen gelingt es niedrigschwellig und unkompliziert, Menschen jeden Alters und aus allen Milieus ins Gespräch zu bringen und Vorurteile besprechbar zu machen. So kann ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entstehen – nicht durch Ausschluss, sondern durch gemeinsame Aktionen, bei denen sich alle einbringen können.
Die Großfunkstelle im brandenburgischen Nauen ist die älteste aktive Sendeanlage der Welt. Mit ehemaligen Funkstationen in Togo und Namibia bildete sie im Deutschen Kaiserreich ein Funkdreieck kolonialer Kommunikation. Ein Audiowalk verbindet Menschen in Namibia und Deutschland live und zeigt, wie koloniale und rassistische Verstrickungen wirk(t)en.
Von Vera Ohlendorf
An einem grauen Sonntagnachmittag im August fährt ein Bus durch Nauen. Er bringt 20 Menschen aus Berlin zum Gelände der Großfunkstelle, die im Nordosten der Kleinstadt auf einem weiten Areal steht. Das Sendegebäude erhebt sich, flankiert von zwei riesigen Funkantennen, wie eine Kathedrale in den Himmel. Hier trifft die Gruppe auf 60 weitere Besucher*innen aus Nauen und Umgebung. Im Inneren des Gebäudes werden Kopfhörer verteilt. Die Gruppe teilt sich: 40 Besucher*innen nehmen zuerst am performativen Audiowalk„Space hasbecome a crowdedplace #2“ teil, der zeitgleich und live über Funk verbunden auch in Windhoek mit einer ähnlich großen Gruppe stattfindet. Die übrigen Besucher*innen lassen sich durch Mitglieder des Nauener Heimatfreunde 1990 e.V. durch die Geschichte von Gelände und Funktechnik von 1906 bis heute führen. Später wird gewechselt. Der Audiowalk wurde von den Sound- und Performance-Künstler*innen Angelika Waniek, Nashilongweshipwe (Nashi) Mushaandja und Frederike Moormann entwickelt. Die Veranstaltung in Nauen, gefördert durch die Amadeu Antonio Stiftung, ist Teil des Begleitprogramms zur Ausstellung „Signale der Macht. Nauen, Kamina, Windhoek“ im Brandenburg Museum für Zukunft, Gegenwart und Geschichte in Potsdam.
Kolonialgeschichte und Völkermord sind Leerstellen des kollektiven Erinnerns
Obwohl es sich bei der Großfunkstelle in Nauen um die älteste noch aktive Funkstation der Welt handelt und die Geschichte von Gelände, Sendeanlagen und Technik gut erforscht ist, blieben die kolonialen und rassistischen globalen Zusammenhänge bisher meist unerwähnt. Bei den regelmäßig stattfindenden Führungen der Heimatfreunde Nauen standen bisher technische Details im Vordergrund. Fotos und Videos der Funkstelle in Togo, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für kurze Zeit bestand, wurden dabei unkommentiert gezeigt.
Die Telekommunikation spielte im deutschen Kaiserreich eine wesentliche Rolle als koloniales Machtinstrument. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten durch die drahtlose Telegrafie erstmals große Entfernungen ohne störanfällige Tiefseekabel überbrückt werden. Die Großfunkstelle Nauen wurde 1906 von der kaiserlichen Regierung mit dem Ziel errichtet, eine direkte Verbindung zu den deutschen Kolonien in Togo und im damaligen sogenannten Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) herzustellen. Bereits 1904 wurde während des Völkermordes an den Herero und Nama mobile Funktechnologie zur strategischen Informationsgewinnung eingesetzt. Mit dem Bau der Funkstationen in Windhoek und Kamina schuf die Firma Telefunken wenig später eine effiziente, weltumspannende Kommunikationsinfrastruktur, um militärische und wirtschaftliche Macht zur Unterdrückung der kolonisierten Bevölkerungen auszuüben. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 sprengten deutsche Truppen die Stationen in Kamina und Windhoek jedoch, um sie nicht in die Hände der Alliierten fallen zu lassen. Die Station in Nauen wurde hingegen weiter ausgebaut und etablierte sich während der NS-Zeit und in der DDR als eines der weltweit bedeutendsten Zentren für Funkkommunikation.
Ausbeutung und ökonomische Abhängigkeiten bestehen bis heute
Bis heute setzen sich koloniale Kommunikationsstrukturen fort, die sich etwa in ökonomischen Abhängigkeiten afrikanischer Staaten von globalen Satelliten-, Medien- und Kommunikationsstrukturen US-amerikanischer und europäischer Konzerne zeigen.
„Vor etwa sechs Jahren sind wir während einer anderen Recherche auf die Fotos der Funkanlagen aus Togo gestoßen“, erzählt Angelika Waniek. „Ich hatte das Gefühl, dies ist auch Teil meiner Geschichte, an die wir viel zu selten erinnern. Nur wenige Deutsche haben Wissen über die Geschichte der Kolonien und den Völkermord.“ So begann das Projekt, bei dem Künstler*innen aus Deutschland, Togo und Namibia eng zusammengearbeitet haben. Ziel war es, mit dem Audiowalk bisher ungehörte Perspektiven auf die Kolonialgeschichte hör- und sichtbar zu machen und öffentliches Erinnern in Brandenburg zu verändern. Aus neuen Arbeitskontakten wurden schnell Freundschaften. „Wir wollen in Brandenburg dafür sensibilisieren, dass koloniale Strukturen weiterbestehen. Es gibt bis heute ein Ungleichgewicht in der Frage, wem die für unsere weltweite Kommunikation so wichtigen Satelliten gehören und wo Menschen und Bodenschätze ausgebeutet werden, um diese Satelliten zu bauen“, beschreibt Angelika Waniek weiter. In Windhoek, wo der Audiowalk zeitgleich stattfindet, sei die Geschichte der ehemaligen Funkstation, ähnlich wie in Togo, ebenfalls kaum bekannt. Dort gehe es darum, durch gemeinsames Erinnern kollektive koloniale Traumata bewusst zu machen und Heilung zu ermöglichen.
Audiowalk verbindet Windhoek und Nauen
Der Audiowalk startet am Bahnhof in Windhoek, der während der Kolonialzeit und der darauffolgenden Zeit der Apartheid unter südafrikanischer Herrschaft logistische Bedeutung hatte. In Nauen führt der Weg zeitgleich aus der Sendehalle durch das Materiallager nach draußen:
„Afrikaner*innen in Zentral- und Südnamibia rebellierten gegen die deutsche Kolonialverwaltung, nachdem ihr Land […] gewaltsam besetzt worden war. Die Afrikaner*innen verloren ihr Land und ihr Vieh und wurden daraufhin in die Wüsten Namib und Kalahari getrieben, wo sie an Dehydrierung und Hunger starben. Ovaherero, Nama und San, die diesen Völkermord überlebten, wurden in Lager gesteckt […], und als Sklavenarbeiter*innen zur Unterstützung der Kolonialwirtschaft eingesetzt. Bis 1908 wurden 24.000 bis 100.000 Ovaherero und 10.000 Nama getötet, was schließlich als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts anerkannt wurde.“ (Nashi Mushaandja, Audiowalk)
Die Teilnehmenden in beiden Ländern erfahren über Kopfhörer, wie die Ausbeutung afrikanischer Kupferminen die technologische Entwicklung befeuerte, die wiederum für effizientere Ausbeutung und Unterdrückung eingesetzt wurde. In Windhoek führt der Weg von einer Kudu-Statue, dem Wahrzeichen der Stadt, zum Hauptsitz der Telecom Namibia. In Nauen spazieren 30 Besucher*innen über eine große Brachfläche, an einer Schafherde vorbei.
Der Audiowalk kontrastiert „rationale“ Technologiebeschreibungen eines Mitarbeiters der Europäischen Weltraumbehörde ESA mit Erzählungen über traditionelle namibische Kommunikation mit Vorfahren und Geistern. Wie lässt sich Fernes anrufen, wie rücken weit auseinanderliegende Orte zusammen? Eine universelle Frage, die sich zu allen Zeiten in allen Teilen der Welt stellt.
„Mit dem Kudu-Horn rufst du die Ahnen, der Klang ist mit dem Geist verbunden. Er verändert alles. Er verändert alles. Wenn ich in deinen Kopf, in deinen Geist blase, bist du mit etwas verbunden.“ (West Uarije, Audiowalk)
In Windhoek laufen die Teilnehmenden durch einen Park, in dem ein mit einem Adler verziertes imperialistisches Denkmal für die gefallenen deutschen Soldaten steht, das irgendwer mit „fuck Germany, rest in hell“ besprüht hat. In Nauen wird eine der beiden großen Antennen umrundet. Alle hören ein Gedicht über den namibischen Widerstandskämpfer und Feldherrn Hendrick Witbooi. In Windhoek führt der Weg dann zu einem Denkmal an den Völkermord. Zu hören ist für alle, wie sich Traumata generationenübergreifend vererben.
„Es gibt immer eine positive und eine negative Seite dieser Dinge, und im Weltraum ist das natürlich nicht anders.“ (Christopher Vasko, Audiowalk)
Wem gehört der Erinnerungsraum?
In Windhoek endet der Walk auf dem Parkplatz einer Schule, von dem man zum ehemaligen Standort der Funkstation sehen kann. Beide Gruppen werden mit musikalischen Interventionen empfangen, in Windhoek von West Uarije, in Nauen von Gundolf Nandico und Luka Mukhavele, die die große Sendehalle mit den Klängen von Vogelhorn, Mamba, Mbira, Mvoko und Kuduhorn erfüllen. Beschwören sie die Ahnen, die von den Folgen von Kolonialismus und Technologie betroffen und bisher in der Geschichte der Großfunkstelle unsichtbar waren oder wollen sie die Geister vertreiben? Das zu entscheiden bleibt den Besucher*innen überlassen. Nicht alle finden es gut, dass die parallele Führung der Nauener Heimatfreunde wegen der Musik vorzeitig enden muss. Es kommt am Rand zu einer hitzigen Diskussion und zu rassistischen Äußerungen. Es ist nicht für alle leicht, sich mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Folgen konfrontiert zu sehen.
„Andere, uns vielleicht unbekannte Perspektiven auf unsere Geschichte und Realität sind immer vorhanden. Wir haben uns gefragt, wie die verschiedenen Perspektiven in Dialog kommen können“, beschreibt Frederike Moormann. „Mündliches Erzählen ist wichtig, jenseits von Aktenarchiven. Über mündliches Erzählen kommt ein musikalisches Moment in die Geschichte. Durch Musikalität und Sound können wir Dinge über die Sinne verstehen. Wir sollten unsere eingeengte Sicht auf Technologieentwicklung aufbrechen“, sagt sie.
Der Audiowalk wird in Windhoek noch öfter stattfinden, das Interesse ist groß. In Nauen werden die Tafeln der bisherigen Dauerausstellung im Sendegebäude durch einen QR-Code zu einem Ausschnitt des Audiowalks und durch weitere Texttafeln erweitert, um den bisher eurozentrierten Erinnerungsraum um die Erzählung kolonialer Macht und ihrer Folgen zu erweitern. Eine für das Radio angepasste Version des Audiowalks ist bei Deutschlandradio hier ab Minute 10:00 nachzuhören.
Dunja Hayali zieht sich vorübergehend zurück: Nach massiven Hassattacken hat die ZDF-Journalistin angekündigt, sich eine Auszeit zu nehmen. Auslöser war ihre Anmoderation im heute journal zur Tötung des rechtsradikalen Influencers Charlie Kirk in den USA.
Von Patrick Gensing
Hayali hatte betont, dass dessen Tod nicht zu rechtfertigen sei – auch nicht mit seinen oftmals rassistischen, sexistischen oder queerfeindlichen Aussagen. Sie versuchte, einzuordnen, dass Kirk mit seinen extremen Positionen eine große Anhängerschaft mobilisierte, aber auch Gegenreaktionen provozierte. Genau diese journalistische Differenzierung wurde ihr zum Verhängnis. Ein Kommentar.
Rechte Medien schnitten Hayalis Moderation, rissen Zitate aus dem Kontext und unterstellten ihr, den Mord zu relativieren. Einmal mehr ganz vorne dabei: das rechte Krawallmedium „Nius“.
Bedrückendes Signal
Was folgte, war eine Lawine von Hasskommentaren. Auf X, Telegram und anderen Plattformen wünschten ihr Nutzer den Tod, verglichen die Journalistin mit Goebbels oder drohten offen mit Gewalt. Diese Eskalation war nicht neu, aber diesmal zog Hayali die Notbremse: Sie kündigte öffentlich an, ein paar Tage Pause einzulegen. Ein nachvollziehbarer Schritt – und zugleich ein bedrückendes Signal, auch weil Hayali von vielen für ihren Mut und ihre journalistische Klarheit bewundert wird.
Die Attacken zeigen, wie brüchig der Schutzraum für journalistische Stimmen geworden ist, die um Differenzierung und Einordnung bemüht sind, sich nicht hinter vermeintlicher Objektivität und Neutralität verschanzen. Hayali versuchte, die gesellschaftliche Dynamik zu beleuchten, die Kirks Erfolg ermöglicht hatte. Doch der digitale Empörungsmodus duldet keine Zwischentöne. Jede Aussage, die nicht ins simple Freund-Feind-Schema passt, wird gnadenlos attackiert.
Die Folgen erleben wir seit Jahren hautnah: ein Klima, in dem sich eine Debatte außerhalb von Schutzräumen kaum noch entfalten kann. Es herrscht eine Atmosphäre, die keine geduldige Auseinandersetzung zulässt, keine Argumente, die aufeinander aufbauen. Wer sich dieser Entwicklung entgegenstellt, zahlt oft einen hohen Preis, sei es die psychische Gesundheit oder das Sicherheitsgefühl.
Längst haben sich rechtsradikale Medienaktivisten komplett auf solche Negativ-Kampagnen spezialisiert, so wie das AfD-Mitglied Patrick Kolek alias „Wuppi“, der als Stichwortgeber im rechtsradikalen Online-Mediensystem dient. Gleichzeitig sind solche Figuren auch immer eine Gefahr für die AfD, wenn Konflikte ausbrechen, Insider-Wissen ausgebreitet wird und hilfreiche Einblicke ermöglicht werden – beispielsweise über die Medienstrategie der Parteivorsitzenden.
Verlust einer demokratischen Öffentlichkeit
Hayali hat über Jahre Hass und Drohungen ertragen, oft mit Humor, mit Haltung, immer mit klarer Kante. Doch irgendwann ist Schluss. Dass sie migrantisch, queer und eine Frau ist, macht sie besonders angreifbar. Aber die eigentliche Dimension ist größer: Es geht um den Verlust einer demokratischen Öffentlichkeit, in der man streiten kann, ohne vernichtet zu werden.
Soziale Medien, einst als Marktplatz der Ideen gestartet, sind zum lukrativen Schlachtfeld geworden. Die Mechanismen sind seit Jahren bekannt: Empörung wird belohnt, Zynismus mit höhnischem Applaus honoriert. Und dieses Geschäftsmodell basiert darauf, Feindbilder aufzubauen und pausenlos zu attackieren, bis sich die betroffene Person zurückzieht oder nur noch eingeschränkt agiert.
Teile der Gesellschaft verlieren zudem angesichts der 24/7-Beschallung die Fähigkeit, Informationen und Ereignisse zu verarbeiten, daraus zu lernen. Der Modus der Empörung kennt keine Reflexion oder Erinnerung, nur emotionale Achterbahnfahrt.
Die Regeln dieses Raumes werden von wenigen, sehr mächtigen Akteuren gesetzt. Wenn der reichste Mann der Welt, Elon Musk, auf einer Demonstration von Rechtsextremen in London per Videoschalte zu einer Art Endkampf aufruft und gleichzeitig mit X eines der größten Medienunternehmen der Welt betreibt, verschieben sich die Koordinaten dramatisch. Musk profitiert doppelt: von der Radikalisierung der Debatten, die auf seiner Plattform stattfinden, und von seiner eigenen Inszenierung als angeblicher Verteidiger der Meinungsfreiheit.
Wenn robuste Stimmen aufgeben müssen
Die Entscheidung Hayalis ist daher nicht nur persönlich, sondern symptomatisch. Sie markiert den Punkt, an dem selbst robuste Stimmen kapitulieren. Und sie zeigt, wie sehr sich der öffentliche Raum verändert hat: Er gehört den Lautesten, den Rücksichtslosesten, jenen, die Drohungen nicht scheuen. Das ist eine äußerst brisante Diagnose für eine Gesellschaft, die vom offenen Austausch lebt.
Die Hetzer müssen daher als das benannt werden, was sie sind. Sie profitieren politisch und wirtschaftlich vom Hass; oft befriedigen sie mit dem Getöse das übergroße fragile Ego. Medienhäuser, Redaktionen und Sender müssen zudem weit mehr tun, als intern Betroffenen Beileid oder Verständnis zu bekunden. Sie müssen sich uneingeschränkt, klar und sichtbar vor ihre Mitarbeitenden stellen, nicht erst, wenn es zu spät ist. Entweder schützen wir den öffentlichen Raum für differenzierten Journalismus oder wir verlieren ihn. Die Erosion ist bereits weit fortgeschritten.
Politische Gewalt hat ihre eigene Aufmerksamkeitslogik. Der Mord an Charlie Kirk machte einen bis dahin in Deutschland weitgehend unbekannten rechtsextremen Kulturkämpfer über Nacht zum weltweiten Topthema, während zentrale Kontexte ausgeblendet blieben.
Von Una Titz
Am 10. September 2025 sprach Charlie Kirk an der Utah Valley University in Orem. Während der Fragerunde kam es zu einer Diskussion über transfeindliche Gewaltstatistiken. Noch während Kirk antwortete, fiel ein Schuss. Sekunden später lag der Gründer von „Turning Point USA“ tödlich getroffen am Boden. Das Attentat wurde binnen Minuten ein globales Medienereignis.
Attentate als mediale Aufmerksamkeitsökonomien
Der Mord an Charlie Kirk dominierte Schlagzeilen in Ländern, in denen zuvor kaum jemand wusste, wer Kirk überhaupt war. Ob in Deutschland oder Frankreich – die Google-Trend-Kurven verdeutlichen, wie sehr dieses Ereignis die digitale Aufmerksamkeitsökonomie gefangen nahm. In Deutschland etwa überstieg das Suchinteresse nach „Charlie Kirk“ die Spitzen zu den Landtagswahlergebnissen in Nordrhein-Westfalen, zum Basketball-EM-Finale und sogar zu den blutigen Protesten in Nepal.
Wer war Charlie Kirk?
Wer Charlie Kirk war, lässt sich am deutlichsten aus seinen eigenen Worten ablesen. Immer wieder warnte er in seiner Sendung The Charlie Kirk Show oder auf großer Bühne vor dem sogenannten „Great Replacement“, etwa: „Die große Ersetzungsstrategie, die sich Tag für Tag an unserer Südgrenze vollzieht, ist eine Strategie, das weiße ländliche Amerika durch etwas anderes zu ersetzen.“ Mit diesem Begriff, im Deutschen als „großer Austausch“ bekannt, wird die wahnhafte Vorstellung beschrieben, es gebe eine gezielte Strategie einflussreicher Eliten, die weiße Bevölkerung durch Zuwanderung zu ersetzen. Die Formel entstammt ursprünglich rechtsextremen Diskursen in Europa und fand über Figuren wie Kirk Eingang in die US-amerikanische Debatte.
Auch seine Haltung zur Migration insgesamt war unmissverständlich, zumal er immer wieder auf historische Phasen strikter Zuwanderungsbegrenzung verwies: „Amerika befand sich auf dem Höhepunkt, als wir die Einwanderung für 40 Jahre gestoppt und den Ausländeranteil auf das niedrigste Niveau aller Zeiten gesenkt haben. Wir sollten keine Angst haben, das wieder zu tun.“ Solche Sätze verschränkt er mit offenen Schuldzuweisungen, die antisemitische Chiffren verwenden: „Jüdische Spender waren der wichtigste Finanzierungsmechanismus für radikale Politik der offenen Grenzen, für neoliberale, quasi-marxistische Programme, für kulturelle Institutionen und Nonprofits. Dieses Ungeheuer wurde von säkularen Juden erschaffen (…).“ In einer weiteren Rede betonte er: „Juden gehörten in den letzten dreißig oder vierzig Jahren zu den größten Geldgebern für kulturell-marxistische Ideen und Unterstützer dieser Ideen.“
Damit knüpfte Kirk an eine alte antisemitische Erzählung an: die Vorstellung eines „jüdischen Einflusses“ auf Politik, Kultur und Wirtschaft. Der Begriff „Kulturmarxismus“ dient dabei als rechtsextreme Dogwhistle. Er beschwört eine vermeintliche Elite, die Universitäten, Medien und Institutionen kontrolliere, um die Gesellschaft zu unterwandern. Wenn Kirk von „cultural Marxist ideas“ sprach, war das daher mehr als Polemik gegen linke Konzepte, es war ein Signal, das in extrem rechten Milieus verstanden wurde: Die Anspielung auf eine geheime, jüdisch dominierte Macht, die den gesellschaftlichen Wandel lenke.
Kirk behauptete auch, dass Schwarze Frauen, wie Michelle Obama, Jobs oder Positionen nur aufgrund von „Affirmative Action“ – also positiven Maßnahmen, die auf eine tatsächliche und vollständige Chancengleichheit abzielen – erhielten: „Sie verfügen nicht über die geistige Verarbeitungsfähigkeit, um wirklich ernst genommen zu werden. Sie mussten einem Weißen seinen Platz wegnehmen, um einigermaßen ernst genommen zu werden.“
All diese Zitate und viele noch explizitere liegen offen vor, dokumentiert und vielfach belegt. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie in der deutschen Berichterstattung bislang keine Rolle spielten – ein entscheidendes Detail, wenn hierzulande die Presse dubiose Vergleiche zwischen Kirk und Martin Luther King Jr. bemüht. Grundsätzlich sollte gelten: Man muss das politische Wirken Kirks nicht verharmlosen, um politische Gewalt zu verurteilen. In der Eile, Kirk medial für die breite Öffentlichkeit zu übersetzen, sind ehrliche Darstellungen seiner Äußerungen in Deutschland vielfach völlig ausgeklammert worden.
Quo vadis Berichterstattung?
Bemerkenswert ist, wie deutsche Leitmedien das Ereignis rahmten. Denn es blieb keineswegs bei einer bloßen Tathergangsbeschreibung, vielmehr wurden zentrale Kontexte ausgespart, Nebenschauplätze eröffnet und teils maßlose Vergleiche bemüht. Ein Beispiel: Die Tagesschaubezeichnete Kirk als „Podcaster, der für konservative Werte warb“, eine grobe Untertreibung und zugleich eine Fehlzuschreibung von Konservatismus.
Kirks jahrzehntelanger Diskurs zielte nicht auf die Bewahrung konservativer Traditionen, sondern auf die offene Attacke gegen Minderheiten, gegen BiPOCs, Jüdinnen*Juden, Menschen mit Migrationshintergrund und LGBTQ-Personen. Statt seine Sprechakte und ideologischen Strategien sichtbar zu machen, reduzierte die Berichterstattung ihn auf das harmlose Etikett des „konservativen Aktivisten“ – Einordnung über Auslassung.
Bild hingegen wählte eine andere Inszenierung und bettete den Fall in die Dramaturgie eines True-Crime-Spektakels ein, zeichnete Kirk gar indirekt als eine Art kontroversen „Brückenbauer“. In einem weiteren Bild–Kommentar wurde sein Tod schließlich in eine pathetische Erzählung vom Anschlag auf die Meinungsfreiheit eingeordnet, die Kirk in eine Reihe mit Martin Luther King oder JFK stellte: „Auch, wenn ihn in Deutschland bis vor kurzem kaum jemand kannte: Der Mord an dem 31-jährigen Familienvater wird sich in die Liste historischer US-Attentate einreihen, neben JFK, Martin Luther King und Bobby Kennedy.“
Damit verschob die Berichterstattung eklatant den Fokus. Anstatt Kirks Ideologie und seine Rolle im amerikanischen Kulturkampf offenzulegen, wurde er wahlweise auf „konservativ“ reduziert, zum Opfer eines vermeintlichen Angriffs auf die Meinungsfreiheit stilisiert oder gar zum Aufhänger für eine Debatte über linken Spott gemacht.
Genau dieser Mechanismus treibt den Kulturkampf weiter an: Wichtige Kontexte fehlen, während Nebenschauplätze dramatisiert werden. Und darin liegt das strukturelle Problem: Digitale MAGA-Kulturkämpfe aus den USA schlagen in Echtzeit in deutsche Timelines durch, unabhängig davon, ob hiesige Leser*innen überhaupt wissen, wer die entsprechenden Personen sind und wofür sie stehen.
Die Ausschreibung für den Amadeu Antonio Preis 2025 ist gestartet: Anlässlich des 35. Todestags von Amadeu Antonio werden am 18. November 2025 in Eberswalde Projekte gewürdigt, die sich mit Rassismus auseinandersetzen und für Menschenrechte und Diversität eintreten. Eine Jury entscheidet über den mit 3.000 Euro dotierten Hauptpreis und zwei weitere mit je 1.000 Euro dotierte Preise.
Neue Ausrichtung: Initiativen auch jenseits der Kunst, die Rassismus entgegentreten
Die Stadt Eberswalde vergibt den Amadeu Antonio Preis gemeinsam mit der Amadeu Antonio Stiftung alle zwei Jahre. Der Preis, der bisher Künstler*innen und ihre Arbeiten würdigte, die sich mit Rassismus auseinandersetzen, erweitert nun den Blick auf dieses Thema: Er zeichnet Projekte aus, die sich künstlerisch oder soziokulturell mit Rassismus auseinandersetzen – insbesondere an der Schnittstelle von politischer und kultureller Bildung. Neu in diesem Jahr ist zudem, dass der Wirkungsmittelpunkt der Projekte gezielt auf Ostdeutschland außerhalb der Großstädte ausgerichtet ist.
Der Preis macht sichtbar, wie vielfältig und kreativ antirassistisches Engagement sein kann: Ob Theaterprojekte, in denen Jugendliche ihre Erfahrungen mit Rassismus auf die Bühne bringen, oder eine von Migrant*innen selbstorganisierte Party-Reihe, die gezielt gegen den Ausschluss von durch Rassismus betroffenen Menschen aus öffentlichen Räumen kämpft.
Personen und Initiativen können sich ab sofort online selbst bewerben oder andere nominieren unter: www.amadeu-antonio-preis.de.
Tahera Ameer, Vorstand Amadeu Antonio Stiftung:
„Angesichts der eskalierenden rassistischen Diskurse und rechtsextremen Mobilisierungen ist es wichtig, mit der Neuausrichtung des Preises gezielt jene Künstler*innen, Initiativen und Engagierten zu stärken, die sich an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und politischer Bildung unter hohem persönlichem Risiko und mit großem Engagement gegen diese Entwicklungen stemmen. Mit der Neuausrichtung des Preises wollen wir genau diese Menschen stärken.“
Götz Herrmann, Bürgermeister von Eberswalde:
„Der Amadeu Antonio Preis erinnert uns daran, dass Vielfalt, Respekt und Zivilcourage das Fundament unseres Zusammenlebens bilden. Dieser Preis ist ein Zeichen der Haltung – gegen Hass und für Menschlichkeit. Er würdigt Menschen, die sich für eine offene, gerechte und solidarische Gesellschaft einsetzen. Gerade in Zeiten, in denen demokratische Werte unter Druck geraten, ist dieses Engagement von ganz besonderer Wichtigkeit. Der Amadeu Antonio Preis erinnert uns an die schmerzlichen Folgen von Rassismus und ermutigt uns, gemeinsam für ein respektvolles Miteinander einzustehen.“
Im Frühjahr hieß es in sämtlichen Medien: Der Bundesnachrichtendienst (BND) ging 2020 davon aus, dass das Coronavirus aus einem chinesischen Labor in Wuhan stammt. Ein entsprechendes Geheimpapier wurde damals angefertigt, aber bisher durch keine Bundesregierung veröffentlicht. Nun wurde es offenbar geleakt. In der deutschen Verschwörungsideologie-Szene hieß es schnell: „Wieder eine Verschwörungstheorie, die wahr wurde.“ Doch stimmt diese Schlussfolgerung?
Wahr ist, dass das BND-Papier existiert und dass es bisher als Verschluss- oder Geheimsache eingestuft wurde. Die übereinstimmende Berichterstattung mehrerer deutscher Medien lässt keinen anderen Schluss zu. Weshalb das Papier nicht der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, kann unterdessen nur gemutmaßt werden. Am wahrscheinlichsten aber ist, dass dieses genaugenommen nur einer bereits seit der Anfangszeit des Coronavirus verbreiteten Alternativerzählung folgte. Die so genannte Labortheorie ist weder neu, noch war der BND die erste Organisation, die Erkenntnisse hierzu sammelte. Von Anfang wurde zum Ursprung des neuartigen Coronavirus sowohl die Natur- als auch die Labortheorie verbreitet. Zwar hat sich in wissenschaftlichen Kreisen bis heute mehr Plausibilität für die Naturtheorie gefunden, zugleich gab es aber auch Wissenschaftler*innen, die an einem rein natürlichen Ursprung des SARS-CoV-2 zweifelten. Während die Naturtheorie davon ausgeht, dass das Coronavirus ursprünglich von Tieren stammt und dann durch den nahen Kontakt zwischen Menschen und Tieren schrittweise auf den Menschen übersprang, behauptet die Labortheorie, dass das Coronavirus versehentlich aus einem Labor für Virologie in der chinesischen Stadt Wuhan entwichen ist. An Gehalt gewinnt diese Erklärung, weil die chinesischen Behörden bisher nicht transparent mit Wissenschaftler*innen zusammenarbeiten, die zum Ursprung des Virus forschen. So hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erst im Dezember 2024 den chinesischen Staat gebeten, Daten herauszugeben und mit der Wissenschaft zu kooperieren.
Fraglich ist, ob die Labortheorie überhaupt den Charakter einer Verschwörungserzählung erfüllt. Gemäß der übereinstimmenden Meinung von Fachexpert*innen braucht es hierfür immer die folgenden Zutaten: Erstens, eine Gruppe von Verschwörer*innen, die zweitens einen geheimen Plan verfolgen, der drittens zu großen Vorteilen für die Verschwörer*innen führt. Wenn es wahr wäre, dass das Coronavirus durch einen Laborunfall in einem Virologielabor entstanden ist, wäre dies zweifelsohne ein bis heute intransparenter Vorgang. Es stellt sich aber die Frage, wer hier Verschwörer*in ist und welcher Plan verfolgt wurde. Dass in Laboren zu Viren oder Bakterien geforscht wird, ist keine Verschwörung, sondern virologische Realität. Die Forschenden erfüllen auch nicht das Merkmal einer Gruppe von Verschwörer*innen, da diese zwar in der Regel nicht öffentlich arbeiten, zugleich aber auch keinen Geheimauftrag umsetzen. Im Normalfall verfolgen Forschende wissenschaftliche Zwecke, nach denen wahlweise Grundlagen erforscht werden oder erforschtes Wissen für den Alltag nutzbar gemacht werden soll (z.B. einen Impfstoff gegen Viren oder Bakterien entwickeln). Der mögliche Laborunfall von Wuhan kann damit durchaus als Vertuschungs- beziehungsweise Geheimhaltungsfall eingestuft werden. Die vollen Merkmale einer Verschwörungserzählung werden aber nicht erfüllt.
Im verschwörungsideologischen Milieu existiert aber nicht nur die Variante des möglicherweise vertuschten Laborunfalls. Es finden sich dort dutzende weitere Varianten, die eine groß angelegte Verschwörung von Forschenden sowie auch von Staaten und von weiteren obskuren geheimen Mächten behaupten. Wahlweise ist dann die Rede von Corona als Biowaffe oder Corona als Werkzeug, um der Überbevölkerung der Welt im Sinne einer Massenvernichtungswaffe zu begegnen. Diese Varianten erfüllen alle Merkmale einer Verschwörungsideologie, wie sie der Politikwissenschaftler Armin-Pfahl Traughber zusammenstellte1. Demnach geht es nicht um die Aufdeckung eines konkreten und begrenzten Verschwörungsverdachts, sondern vielmehr um die stereotype Unterstellung von Macht- und Herrschaftsinteressen bestimmter Menschen als Grundlage für das Auftreten von Ereignissen, wie beispielsweise dem Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie. Solche verschwörungsideologischen Erzählungen zum Ursprung des Coronavirus werden weder durch das BND-Papier, noch durch andere bekannte, seriöse Erkenntnisse gestützt. Das ändert aber nichts daran, dass sowohl die Geheimhhaltung, als auch der Leak wieder neues Wasser auf die Mühlen der Verschwörungsideolog*innen gießt.
Zu hoffen bleibt, dass die globale Wissenschaft weiter zum Ursprung des Coronavirus Forschung betreibt und dass irgendwann damit der genaue Ursprung geklärt werden kann. Wie immer gilt: Wir sollten geduldig sein und gelassen bleiben.
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[1] Pfahl-Traughber, Armin: „Bausteine“ zu einer Theorie über
„Verschwörungstheorien“: Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und
Ursachen, in: Reinalter, Helmut: Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung. Studienverlag, Innsbruck, 2002.
Am 11. August 2025 wurde die ukrainische Schülerin Liana K. (16) am Bahnhof Friedland (Niedersachsen) vor einen fahrenden Güterzug gestoßen. Das Mädchen starb noch am Tatort. Als dringend Tatverdächtigen wird gegen einen 31-jährigen Iraker ermittelt.
Wir trauern um Liana und sind in Gedanken bei ihrer Familie und ihren Freund*innen. Liana wurde Opfer eines tödlichen Verbrechens. Diese Tat muss vollständig aufgeklärt werden, und der Täter muss wie jeder Täter bestraft werden.
Überregionale Medien berichteten über einen Beitrag der Amadeu Antonio Stiftung auf der Plattform X (ehemals Twitter) und erhoben in dem Zusammenhang den Vorwurf, die Stiftung sorge „sich vor allem um den mutmaßlichen Mörder“ und mache „den mutmaßlichen Täter zum Opfer“. Dem widerspricht die Stiftung entschieden.
Die Formulierung im Beitrag, dass Liana K. „gestorben“ sei, nachdem sie gegen einen Zug gestoßen wurde, war für dieses Tötungsdelikt unangemessen und ist ein Fehler, für den wir uns ausdrücklich entschuldigen.
Der Beitrag der Stiftung nahm neben dem Tatgeschehen Bezug auf die psychische Erkrankung des Mannes, gegen den ermittelt wird, sowie die Unterversorgung der Prävention in diesem Zusammenhang. Auch hier hätten wir die Entwicklungen, die in den folgenden Tagen nach dem Beitrag bekannt wurden, in die weitere Bewertung des Falls aufnehmen sollen.
Dadurch wird und soll die Tat selbst nicht relativiert werden. Wir bedauern zutiefst, dass dieser Eindruck entstehen konnte. Wir haben uns deshalb entschieden, den betreffenden Beitrag zu ersetzen.
Sieben Jahre nach den rechtsextremen Gewaltexzessen von Chemnitz kommen die Angeklagten vor Gericht mit Freisprüchen und Einstellungen davon. Polizei und Justiz behandeln schwere politische Gewaltstraftaten wie Bagatelldelikte. Das verhöhnt die Opfer und ermutigt rechte Täter – nicht zum ersten Mal. Ein Kommentar.
Von Michael Kraske
Ich kann mich noch gut an mein Interview mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer erinnern, kurz nach den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz, im heißen Spätsommer 2018. Der CDU-Politiker wollte angesichts der erschütternden Ereignisse unbedingt Härte demonstrieren. Zur Erinnerung: Nach einem Tötungsdelikt an einem Chemnitzer Bürger hatte die rechtsextreme Szene überregional zu Demos mobilisiert, woraufhin Neonazis aus ganz Deutschland in der Stadt aufmarschierten. Rechte Hooligans machten am Rande von Demos Jagd auf Migrant*innen, Medienleute und Menschen, die gegen Rassismus demonstrierten. Es gab etliche Körperverletzungen, ein jüdisches Restaurant wurde angegriffen. Die AfD übte auf der Straße den Schulterschluss mit der Neonazi-Szene. Bei einer als Trauerzug getarnten Demo war auch der spätere Mörder von Walter Lübcke vor Ort. Stephan E. sah Chemnitz als Fanal an, das den Anstoß gab, zum Mörder zu werden. Im Anschluss an den sogenannten „Trauermarsch“ von AfD, Pegida, Neonazis und Wutbürgern explodierte die rechte Gewalt in der Stadt. Gegendemonstrant*innen, die bei „Herz statt Hetze“ waren, wurden überfallen, bedroht, geschlagen und getreten.
Enthemmte Neonazigruppen sowie eine zögerliche, unterbesetzte Polizei, die dem Mob phasenweise die Macht über die Straße überließ. Damit konfrontierte ich seinerzeit im Interview für das Medienmagazin journalist den sächsischen Ministerpräsidenten. Kritik bügelte Kretschmer pauschal ab. Vollmundig kündigte er an: „Wir werden die Täter mit aller Härte des Rechtsstaats verfolgen und zur Verantwortung ziehen.“ Sieben Jahre später ist klar: Der Staat hat sein Versprechen gebrochen. Das fatale Signal der Strafverfolgungsbehörden lautet: Systematische rechte Straßengewalt bleibt nahezu folgenlos. Wer nicht nur wehrlose Opfer, sondern auch diesen Staat und dessen Gewaltmonopol offen von rechts angreift, hat wenig bis gar nichts zu befürchten.
Schon vor einem Jahr waren dem MDR zufolge von 142 eingeleiteten Ermittlungsverfahren bereits 97 eingestellt worden. Einige der brutalsten Angriffe sollten als Sammelprozesse mit mehreren Angeklagten verhandelt werden. Doch jahrelang passierte so gut wie nichts. So hat es fünfeinhalb Jahre gedauert, bis am Landgericht Chemnitz im Januar 2024 ein großer Prozess endete. Gegen drei von ursprünglich neun Angeklagten wurden die Strafverfahren gegen Zahlung einer Geldbuße von je 1.000 Euro eingestellt. Dafür mussten sie nur pauschal zugeben, an Angriffen auf Gegendemonstrant*innen beteiligt gewesen zu sein. Schon vor dem Prozess waren zwei Neonazis untergetaucht. Andere Verfahren waren bereits zum Prozessbeginn eingestellt worden. Ein weiterer Strafprozess wurde noch länger verschleppt. Sieben Jahre nach den brutalen Angriffen hat das Chemnitzer Landgericht nunmehr drei Angeklagte freigesprochen. Das Verfahren gegen einen Braunschweiger Neonazi wurde ohne Auflagen eingestellt.
Sieben Jahre auf ein Urteil warten zu müssen, ist eine Farce für die Opfer. Sieben Jahre lang können sie mit der traumatischen Erfahrung nicht abschließen. Sieben Jahre bleibt politische Gewalt ungesühnt. Die Begründungen der Justiz für die verschleppte Aufarbeitung sind völlig inakzeptabel. Weder Corona noch ein Personal- oder Kammerwechsel rechtfertigen es, Verfahren, an denen ein eminentes öffentliches Interesse besteht, derart lange aufzuschieben. Abgesehen von eiligen Haftsachen, die stets Vorrang haben, müssen Gerichte ständig Prioritäten setzen. Politisch motivierte Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit, die der Machtdemonstration dienen und Gegner*innen mundtot machen sollen, so lange wie eine Lappalie zu behandeln, bis den Angeklagten allein aufgrund der überlangen Verfahrensdauer mildeste Urteile zustehen, ist geradezu unanständig.
Nach mehreren Jahren können sich Geschädigte und Zeug*innen erwartungsgemäß an vieles nicht mehr erinnern. Bei einem so komplexen Geschehen wie dem Angriff einer Gruppe rechter Schläger bedeutet juristisches Zeitspiel nichts anderes als Täterschutz. Prozessbeobachter*innen der Opferberatung RAA Sachsen haben gleichwohl dokumentiert, dass die Betroffenen vor Gericht sehr wohl detaillierte Tatabläufe geschildert haben. Demnach haben diverse Zeug*innen, die zuvor an der Kundgebung „Herz statt Hetze“ teilnahmen, einzelne Angeklagte eindeutig als Teil der Tätergruppe erkannt. Sie bezeugten Schlachtrufe wie „Adolf Hitler, unser Führer“ und „Zecken“ sowie diverse Tritte und Schläge – auch gegen den Kopf von Opfern. Einige Geschädigte, die mit einem Reisebus aus Marburg zur Gegendemo angereist waren, registrierten Schlagwerkzeuge, die Baseballschlägern glichen. An einem anderen Prozesstag beschrieben Zeug*innen den Braunschweiger Neonazi als besonders aggressiven Wortführer, der auch handgreiflich geworden sei.
Dass das Gericht konkrete Körperverletzungen letztlich nicht zweifelsfrei einzelnen Angeklagten zuordnen konnte und im Ergebnis zu Freisprüchen kam, hat auch mit Erinnerungslücken der ermittelnden Polizeibeamten zu tun. Prozessbeobachter*innen berichten von Aussagen, in denen die Beamten angaben, sich kaum erinnern zu können und darüber hinaus aussagten, es gebe gar keine Akten mehr zu dem Fall. Ein Beamter habe sich darauf berufen, dass entsprechende Daten bereits wie üblich aus dem polizeilichen Auskunftssystem gelöscht wurden. Folgerichtig habe er seine Aussage vor Gericht auch nicht vorbereiten können. So sieht die von Ministerpräsident Kretschmer angekündigte volle Härte des Rechtsstaates dann in der sächsischen Praxis aus.
Obwohl Zeug*innen übereinstimmend aussagten, dass die Angriffe auf Personen, die zuvor bei „Herz statt Hetze“ waren, jeweils überfallartig durch eine Gruppe erfolgten, zog das Gericht eine Verurteilung wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung offenbar nicht ernsthaft in Erwägung. Und für Landfriedensbruch reichte es aufgrund der Anzahl der Angreifer nicht. Entsprechend harsch fällt die Kritik der Nebenklagevertreter*innen aus. „Dieses Verfahren ist ein Freifahrtschein für den randalierenden rechten Mob“, so Anwältin Kati Lang, die einen Chemnitzer Mandanten vertritt. „Erst wird schlampig ermittelt, dann das Verfahren jahrelang durch die Justiz verschleppt und schlussendlich freigesprochen.“
Opferberaterin Anna Schramm, die Geschädigte für die Beratungsstelle Support durch den Prozess begleitet hat, berichtet, dass die Straflosigkeit der Täter für die Betroffenen „ein schwerer Schlag“ sei. Sie bleiben nicht nur ohne eine juristische Anerkennung ihrer Gewalterfahrung zurück, sondern auch auf hohen Prozesskosten sitzen. Der Umgang der sächsischen Polizei und Justiz mit der organisierten rechten Gewalt erschüttert das Vertrauen in den Rechtsstaat. Er habe lernen müssen, so ein verbitterter Nebenkläger, „dass Neonazis von der Justiz in Sachsen nichts zu befürchten haben, wenn sie in einem Mob auf politische Gegner*innen losgehen“.
Der Chemnitz-Skandal, das macht es so brisant, reiht sich in ein beunruhigendes Muster ein. Auch das Verfahren wegen brutaler Überfälle der rechtsextremen Hooligan-Gruppierung „Faust des Ostens“ aus dem Umfeld von Dynamo Dresden wurde vom Landgericht Dresden derart lange verschleppt, bis die Täter acht Jahre nach Anklageerhebung mit milden Strafen davonkamen. Über viele Jahre zog sich auch die juristische Aufarbeitung des Neonazi-Überfalls auf den alternativen Leipziger Stadtteil Connewitz vor dem Amtsgericht Leipzig hin. Anstatt die Hintergründe über Absprachen, Netzwerke und Drahtzieher des marodierenden rechten Mobs umfassend aufzuklären, ließ sich das Gericht auf fragwürdige Deals ein. Im Januar 2016 hatten sich rund 200 rechtsextreme Gewalttäter auf einem Parkplatz verabredet und waren anschließend durch Connewitz gezogen, wo sie Anwohner und Läden angriffen. Etliche Täter kamen mit Geldstrafen davon, wenn sie vor Gericht nur zugaben, irgendwie dabei gewesen zu sein. Viele gaben an, nur kurz, zufällig oder ganz hinten im Sturmtrupp mitgelaufen zu sein. Die rechtsextremen Netzwerke hinter dem orchestrierten Angriff blieben unbehelligt. Immer wieder explodiert in Sachsen rechte Gewalt – immer wieder bleibt das nahezu folgenlos.
Seit Jahren erreichen rechte Gewaltstraftaten bundesweit neue Rekordmarken. Der Staat steht in der doppelten Pflicht, Opfer wirksam zu schützen und Tätern vor allem durch konsequente Strafverfolgung die rechtsstaatlichen Grenzen aufzuzeigen. Das bedeutet: Gründliche Ermittlungen, zügige Verfahren, angemessene Strafen. Sachsen zeigt seit Jahren, wie es nicht geht. Die Folgen sind fatal. Die rechtsextreme Szene kann diese demonstrative Nachsicht des Rechtsstaats nur so verstehen, dass systematische politische Gewalt nicht kategorisch als Tabubruch geächtet wird. Die deutschen Sicherheitsbehörden beobachten aktuell, dass eine junge, militante Neonazi-Generation heranwächst, in der mutmaßlich auch neue rechtsterroristische Strukturen entstehen. Die richtige Antwort darauf ist rechtsstaatliche Härte. Stattdessen ist der Lerneffekt aus dem Chemnitz-Komplex: Rechte Gewalttäter haben so gut wie nichts zu befürchten.
Ebenso fatal ist die Botschaft an jene Menschen, die bereit sind, für Demokratie auf die Straße zu gehen. Etliche von denen, die in Chemnitz nach „Herz statt Hetze“ auf die Straße gegangen sind und dafür bedroht, beleidigt, geschlagen und getreten wurden, haben den Glauben an den Rechtsstaat verloren. Ihnen und allen anderen, die sich Neonazis und Rassist*innen entgegenstellen, wird signalisiert: Ihr steht allein da. Auf den Schutz des Staates könnt ihr euch nicht verlassen. Dass der Rechtsstaat auch ganz anders kann, zeigt er beispielsweise, wenn es um Klimaaktivist*innen geht, die sich auf Straßen kleben oder den Flugbetrieb stören. Da werden dann schon mal zügig Haftstrafen verhängt. Offenkundig gibt es hierzulande je nach Täterprofil und Deliktart ganz unterschiedlichen Ermittlungseifer. Das darf nicht sein. Um marodierende Neonazis, die auf der Straße Menschen jagen und verletzen, rechtsstaatlich sauber abzuurteilen, braucht es keinen übermäßigen Verfolgungseifer – nur die Einhaltung polizeilicher und juristischer Standards. In Politik und Justiz wird offenbar immer noch nicht verstanden, was auf dem Spiel steht.
Der Social-Media-Trend #Ostmullendienstag zeigt junge Frauen, die rechte Codes inszenieren – und von Männern sexualisiert kommentiert werden. Was harmlos wirkt, ist Teil einer Strategie: antifeministische Frauenbilder als Lifestyle-Angebot.
Von Selina Alin
Seit Anfang des Jahres kursiert auf X ein neuer Trend: Unter dem Hashtag #Ostmulllendienstag tauchen wöchentlich kurze Videos von jungen Frauen auf, die stolz sich selbst, ihre ostdeutsche Identität sowie ihre rechte politische Haltung inszenieren. Bereits die Verwendung des Begriffs „Ostmulle“ auf X verrät jedoch die misogyne Schlagseite: „Mulle“ ist eine abwertende Bezeichnung für Frau, „Ostmulle“ spielt zusätzlich auf eine ostdeutsche Herkunft an.
„Ostmullendienstag“: Von Selbstinszenierung zur Instrumentalisierung
Die Clips zeigen selbstbewusste junge Frauen, tätowiert, gepierct, in Fußballkurven oder vor rot-weiß-schwarzen Fahnen. Die Sounds reichen von Hardtekk über Deutschrap, viralen Popsongs bis hin zu einschlägigem Rechtsrock. Auf TikTok wirken die Auftritte trotzig und selbstbewusst, auf X dagegen übernehmen anonyme Männer die Deutungshoheit und Bezeichnung der Frauen als Ostmullen: Sie sammeln die Videos, kommentieren sie sexualisiert und küren wöchentlich die „attraktivsten Ostmullen“. Während die Frauen auf TikTok zumindest versuchen, sich als Subjekte zu präsentieren, verschiebt sich die Perspektive auf X, früher Twitter. Dort kuratieren meist ältere Männer ihre Auftritte, und machen sie zu Objekten männlicher Fantasien.
Was nach Trash und Ironie aussieht, offenbart sich bei genauerem Hinsehen als Teil einer Strategie, rechtsextreme Einstellungen weiter zu normalisieren und popularisieren: Rechte Frauenbilder werden popkulturell verpackt, sexualisiert und in die sozialen Netzwerke getragen. Martin Sellner, rechtsextremer Stichwortgeber der Szene, sieht in den „Ostmullen“ gar eine große Hoffnung, die Brandmauer einzureißen. Dabei handelt es sich bei den Ostmullen viel wahrscheinlicher um einen Mikrotrend, der auf X künstlich aufgeblasen wird.
Neue Rollenbilder – alte Muster
Der Ostmullen-Trend unterscheidet sich von bisherigen rechten weiblichen Inszenierungen wie den sogenannten „Tradwives“, die mit einem konservativen Hausfrauenideal und der dazugehörigen Ästhetik spielten. Ostmullen treten offensiver, jugendlicher und politischer auf. Das erweitert das Repertoire extrem rechter Online-Identitätsangebote für Frauen, über die stille Mutterrolle hinaus, hin zur kämpferischen Aktivistin.
Trotzdem bleibt der antifeministische Kern bestehen. Extrem rechte Frauenbilder verknüpfen Weiblichkeit mit klassischen Schönheitsidealen, biologistischen Zuschreibungen und Antifeminismus: schlank, langhaarig, fürsorglich, „weiß“. Gesellschaftliche Partizipation, Gleichberechtigung, Schutz vor Gewalt – und das auch außerhalb rassistischer Debatten – sowie reale Machtoptionen innerhalb der Szene spielen keine Rolle. Gleichzeitig werden Frauen instrumentalisiert, um rechtsextreme Ideologie attraktiver, harmloser und anschlussfähiger wirken zu lassen.
Warum Frauen die extreme Rechte attraktiv finden
Warum aber schließen sich Frauen einer Bewegung an, die sie selbst entrechtet? Extrem rechte Rollenbilder versprechen Halt in einer komplexen Gesellschaft. Wer Überforderung, prekäre Arbeit oder Ausschluss erlebt, findet hier klare Feindbilder und vorgezeichnete Lebenswege. Mutterschaft oder „Kämpferinnentum“ erscheinen als sinnstiftende Aufgaben und einfache Antworten.
Auch Rassismus spielt eine Rolle: Indem „Andere“, nicht-weiße Menschen abgewertet werden, können weiße Frauen eigene Unsicherheiten überdecken und sich überlegen fühlen. Zudem werden Misogynie sowie patriarchale Normen in der Szene nicht hinterfragt und kritisiert, sondern sich ihnen aktiv untergeordnet. Denn Misogynie ist kein bloßer Frauenhass, sondern ein System von Strafen und Belohnungen, das Frauen für die Einhaltung patriarchaler Normen belohnt und für Abweichungen sanktioniert. Extrem rechte Bewegungen können dadurch für Frauen attraktiv wirken, weil sie Anerkennung und relative Sicherheit in der Rolle der „richtigen Frau“ versprechen.
So erscheint es dann durchaus schlüssig, weshalb manche Frauen in einer von rechter Ideologie geprägten Umgebung selbst jene Inhalte vertreten. Anpassung bringt Zugehörigkeit und Schutz, während Widerspruch zu Isolation oder Gewalt führt.
Falscher Feminismus
Die extreme Rechte basiert auf Hierarchie und Ungleichheit, zwischen „Völkern“ und Kulturen ebenso wie zwischen Geschlechtern. Feminismus hingegen kämpft für Gleichheit und Teilhabe. Beides ist unvereinbar. Extrem rechte Frauenbilder mögen modernisiert auftreten, doch sie bleiben an patriarchale Grenzen gebunden. Auch Sichtbarkeit und Emanzipation innerhalb der Szene werden nur so lange geduldet, wie sie dieser nutzen.
Das Phänomen „Ostmullen“ zeigt exemplarisch, wie rechte Metapolitik funktioniert: Popkulturelle Trends werden genutzt, um Ideologie anschlussfähig zu machen. Am Ende aber bleibt vom Versprechen weiblicher Selbstbestimmung nichts übrig. Frauen in der Szene erfahren Sexismus, Gewalt und Abhängigkeit – während sie gleichzeitig als Lockvögel für eine Bewegung dienen, die auf ihre Entrechtung setzt.
Extrem rechte Frauen sind keine Randfiguren, sondern zentrale Akteurinnen – unterschätzt, instrumentalisiert und zugleich gefährlich. Ihr Auftreten auf TikTok wirkt jugendlich und trotzig, ist aber letztlich nur ein neues Kleid für alte Muster. Feminismus und extreme Rechte bleiben unvereinbar.
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Du hast von der roten Pille gehört? Willkommen bei der pinken. Antifeminismus ist kein Randphänomen – er ist Mainstream. Und gefährlich. In „Pinke Pille“ nehmen wir antifeministische Ideologien auseinander und zeigen, wie sie rechte Jugendkulturen, Influencer*innen, Politik und Popkultur beeinflussen. Monatlich beschäftigen wir uns mit einem Thema. Wir sprechen über rechtsextreme Jugendgruppen, digitale Männlichkeitskulte und Ostmullen, über den Schulterschluss von Antifeminismus, Rassismus und Antisemitismus – und wie all das mit Anti-Gender-Hetze verknüpft ist.
Monatlich beschäftigen wir uns mit einem Thema. Wir sprechen über rechtsextreme Jugendgruppen, digitale Männlichkeitskulte und Ostmullen, über den Schulterschluss von Antifeminismus, Rassismus und Antisemitismus – und wie all das mit Anti-Gender-Hetze verknüpft ist. Für alle, die wissen wollen, wie Antifeminismus heute funktioniert – und was wir ihm entgegensetzen können. Eine Produktion der Amadeu Antonio Stiftung.
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