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Gute Nachrichten

“Es reicht, es muss sich gehörig was ändern!” Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus 2021 starten

Mit 150 Veranstaltungen in allen Bundesländern und digital sowie einer bundesweiten Plakat- und Online-Kampagne machen die Aktionswochen in den kommenden Wochen auf den alltäglichen Antisemitismus aufmerksam und machen deutlich: Es reicht! Es muss sich gehörig was ändern! 

Seit 2003 und auch in diesem Jahr machen die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus mit einer bundesweiten Kampagne und zahlreichen Veranstaltungen den antisemitischen Alltag in Deutschland sichtbar, zeigen Möglichkeiten auf, was dagegen zu tun ist und unterstützen die Zivilgesellschaft in ihrem tagtäglichen Kampf gegen Antisemitismus.

Aber nach den Anschlägen in Halle und Hanau, nach den massiven antisemitischen Ausschreitungen der letzten Jahre im Mai 2021 unter dem Deckmantel der “Israelkritik” und auch nach zahlreichen Versuchen, die Errungenschaften der Anti-Antisemitismusbekämpfung rückgängig zu machen und einen Schlussstrich zu ziehen, lautet die Botschaft in diesem Jahr: machen und einen Schlussstrich zu ziehen, lautet die Botschaft in diesem Jahr: Ja, wir machen endlich Schluss. Schluss mit Antisemitismus und Schluss mit Shalom Deutschland: mit den Phrasendrescher:innen, die große Sonntagsreden schwingen und sich bei konkreten Handlungen zurückhalten, Schluss mit Goysplainer:innen, die Jüdinnen:Juden erklären, was Antisemitismus ist und auch Schluss mit den Israelkritiker:innen, die angeblich nichts gegen Juden haben, aber Israel von der Landkarte tilgen wollen.

Und das alles im Jahr 2021, eigentlich einem Festjahr: Gefeiert werden 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Die Stimmung wird aber getrübt. 2021 ist ein Festjahr mit Beigeschmack. Gleichzeitig waren aber auch die 1699 Jahre jüdisches Leben in Deutschland vor der Corona-Pandemie – gelinde gesagt – nicht einfach. Denn Antisemitismus hat eine lange Geschichte, Verfolgungen, Vertreibungen, Morde prägen die deutsch-jüdische Geschichte.

Vielleicht ist das Festjahr aber auch gerade durch die aktuelle Gleichzeitigkeit von alltäglichem Antisemitismus und resilientem jüdischem Leben repräsentativ für die letzten 1700 Jahre: Ja, es gibt jüdisches Leben in Deutschland, es gibt jüdische Perspektiven und es gibt auch Verbündete, die sich gegen Antisemitismus engagieren, trotz alledem. Deshalb senden die Aktionswochen gleichzeitig ein <3 Shalom Deutschland <3 an diejenigen, die tagtäglich gegen diesen Antisemitismus kämpfen. Wir brauchen Standhafte und Verbündete, – wie euch – mit denen wir Schulter an Schulter gegen Antisemitismus stehen und ohne die wir unsere Arbeit nicht machen könnten.

Aus Gesprächen mit v.a. jüdischen Netzwerk- und Kooperationspartner:innen wurde diese Stimmung deutlich und floss in die Kampagnengestaltung mit ein. “Es reicht, es muss sich gehörig was ändern!“, erläutert der Projektleiter der Aktionswochen Nikolas Lelle. “Nach Hanau, nach Halle, nach antisemitischen Ausschreitungen darf sich niemand ausruhen und denken, wir hätten Antisemitismus im Griff. Es muss mehr passieren. Die jüdische Community findet sich zwischen Lobhudelei und Ignoranz wieder.” Das Ziel der Aktionswochen ist es also weiterhin den jüdischen Perspektiven Sichtbarkeit zu verschaffen. “Wo Anschläge wie Halle erst Monate her sind, kann Harmonie auf Knopfdruck keine Realität sein. Stattdessen blicken wir auf die Praktiken jüdischer Widerständigkeit, die jüdisches Leben in diesem Land überhaupt erst ermöglicht haben”, erläutert Lelle.

Diese Haltung spiegelt sich nicht nur in der Plakat- und Online-Kampagne, sondern auch in zahlreichen Kooperationsveranstaltungen, die im Rahmen der diesjährigen Aktionswochen stattfinden:

Eine Übersicht der weiteren Veranstaltungen, Hintergrundtexte zu den Plakaten, und erschienenen Publikationen im Rahmen der diesjährigen Aktionswochen finden Sie hier: www.shalom-deutschland.de

Bei Fragen wenden Sie sich an: aktionswochen@amadeu-antonio-stiftung.de

Stellungnahme

Die Bedrohungen gegen Jasmina Kuhnke sind Angriffe auf die Zivilgesellschaft

Die Schwarze Aktivistin und vierfache Mutter Jasmina Kuhnke setzt sich unter dem Social Media Synonym Quattromilf seit Jahren unentwegt und entschlossen gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit ein. Nun wurde ihre Adresse mit den Worten „Massakriert Jasmina Kuhnke“ veröffentlicht. Dies zwang sie und Ihre Familie aus der eigenen Wohnung zu fliehen und unterzutauchen.

Aktivist*innen, Politiker*innen und Organisationen, die offen die Zivilgesellschaft und demokratische Werte verteidigen, waren schon immer Ziel und Opfer von rechten Hetzkampagnen. Doch seit einigen Jahren müssen wir beobachten, wie sich menschenfeindliche Sprache im Netz derart etabliert, dass Menschen von Rassist*innen und der extremen Rechten offen bedroht und sogar körperlich angegriffen werden.

Die Verteidigung von Menschenrechten und Aktionen, sind schon Anlass für Hass und Hetze. Dabei werden Menschen, nach dem Geist des Grundgesetzes, die für die Demokratie und das Gleichwertigkeitsprinzip einstehen, zum Feindbild gemacht.

Insbesondere Frauen werden besonders häufig attackiert und gelten den Angreifer*innen als Dorn im Auge: Das Frauenbild der extremen Rechten reagiert besonders hasserfüllt auf Frauen, die sich für emanzipatorische Werte engagieren.

Ein aktuelles und besonders brutales Beispiel ist die Markierung der Frau und Mutter Jasmina Kuhnke als Zielscheibe. Nach dem jahre langem Engagement der Schwarzen Aktivistin, wurde sie nicht nur rassistisch und antifeminitsich attackiert, ihre Adresse wurde veröffentlicht und schließlich erhielt sie Morddrohungen mit dem Aufruf „Massakriert Jasmina Kuhnke“. Daraufhin musste sie mit ihrer sechsköpfigen Familie fluchtartig ihre Wohnung verlassen und schließlich umziehen. Dabei musste sie nicht nur die gesamten Kosten des Unttertauchens zahlen, sondern ebenso die Anwält*innen zur Verfolgung der Straftaten und zur Durchsetzung des Polizeischutzes.

Als seien die Anfeindungen der extremen Rechten nicht genug, kamen im Falle von Jasmina Kuhnke auch noch rechtskonservative Medien hinzu, die durch Behauptungen wie „der Kampf gegen Rassismus sei für Betroffene und Unterstützer*innen zum lukrativen ‚Geschäftsmodell‘ geworden“, die Wut und Gewaltphantasien jener Personen befeuerten, die nur allzu bereit waren Worten auch Taten folgen zu lassen.

Besonders skandalös ist, dass die Polizei die Bedrohung nicht ernst genommen und Hilfe abgelehnt hat. Es kann nicht sein, dass engagierte Personen wie Jasmina Kuhnke vom Staat nicht beschützt werden. Es sollte nach den Fällen von Hanau, Halle und dem Mord an Walter Lübcke auch der Polizei bekannt sein, dass Rechtsextremist*innen durchaus dazu in der Lage sind, Menschen zu töten. Diese unterlassene Hilfeleistung ist sowohl ein Skandal gegenüber Jasmina, aber auch gegenüber allen, die sich gegen Rechtsextremismus exponieren.

Doch Aktivist*innen wie Jasmina Kuhnke sind keine Opfer, sie sind Held*innen. Auch weil sie und viele andere aktivistische Mütter nicht nur sich selbst schützen müssen, sondern ebenso die Sicherheit ihrer Familien verantworten, ist der Schutz dieser tapferen Frauen auch unsere Verantwortung.

Deshalb unterstützen wir den Spendenaufruf unter dem Motto „SHEROES Fund“, die Aktivist*innen wie Jasmina Kuhnke unterstützen soll, die durch das fluchtartige Untertauchen, die Finanzierung von Anwält*innen und den zeitgleichen Umzug Kosten von 50.000€ tragen musste. Nachdem das Fundraising-Ziel von 50.000 € für die Unterstützung von Jasmina Kuhnke erreicht ist, soll der “Sheroes Fund” ebenso andere Sheroes unterstützen.

Sie und viele andere Sheroes werden nicht die Letzten sein, die im Kampf gegen Menschenfeindlichkeit Bedrohungen erfahren werden und keine von ihnen sollte allein gelassen werden. Deshalb rufen wir jede Person dazu auf, den Aufruf mitzutragen und zu spenden!

Unter dem Link finden Sie den Spendenaufruf und die Beschreibung zu Jasmina Kuhnkes Situation.

https://www.betterplace.org/de/projects/93203-deine-spende-fuer-shero-jasmina-kuhnke

Illustrationscredits: Beno Meli

Stellungnahme

Zum Safer Internet Day 2021: Für ein Internet, in dem sich alle sicher fühlen!

Verschwörungsideologien in Sozialen Netzwerken mobilisieren Menschen. Der “Sturm auf das Kapitol” in den USA und ein halbes Jahr davor der „Sturm auf den Reichstag“ hier in Berlin haben das gezeigt. Online-Hetze, Desinformation und Radikalisierung kann sehr reale und tödliche Folgen haben. In Christchurch, Neuseeland, tötete im Januar 2019 ein online radikalisierter Täter 51 Menschen und streamte die Tat live in Sozialen Netzwerken. Und es gab Folgetaten: die Attentate von Halle im Oktober 2019 und Hanau im Februar 2020 sind Beispiele dafür.

Neben Facebook, Youtube und Co. ist besonders Telegram ein Hotspot für die Verbreitung von Verschwörungsmythen und die Markierung von politischen Feind*innen. Was dieses hybride Medium besonders macht: Es gibt so gut wie kein Handeln der Betreiber*innen – keine Moderation, keine Sperrungen, keine Löschungen. In Kanälen mit zum Teil mehr als 100.000 Abonnent*innen, verbreiten Akteur*innen der extremen Rechten und Verschwörungsideolog*innen die Adressen von politischen Gegner*innen oder ihre Dienstanschriften. Wir wissen, dass sich Berliner Jüdinnen und Juden von den Inhalten in Atilla Hildmanns Telegram-Kanal mit rund 114.000 Abonnent*innen bedroht fühlen.

Was macht digitale Gewalt mit den betroffenen Organisationen und Einzelpersonen?

Menschen, die von solchen Anfeindungen betroffen sind, ziehen sich zurück, äußern sich weniger in Sozialen Netzwerken. So sind engagierte Frauen besonders häufig von misogynen Attacken betroffen. Die Täter veröffentlichen Telefonnummern, Mailadressen und private Anschriften – wir sprechen hier von „Doxing“. Viele Betroffene lassen sich dazu drängen, ihre Social Media-Profile zu schließen oder geben beispielsweise ihren Beruf auf. So ein Rückzug bedeutet: Den Betroffenen wird ein Teil ihres Lebens- und Informationsraums genommen. Die Folgen können wie bei anderen Gewalterfahrungen traumatisch sein. Sie reichen von Stress, Angst, Unruhe bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken. Doch auch erzwungene Umzüge oder Arbeitsplatzverluste sind sehr konkrete, schwerwiegende Lebensveränderungen – selbst wenn es nicht zu offline-Gewalt kommt.

Was sind die Auswirkungen für unsere Gesellschaft als Ganze?

In einer Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft von 2019 haben 44% der Berliner Befragten angegeben, dass sie wegen drohender und tatsächlicher Hasskommentare seltener ihre politische Meinung bei Diskussionen im Internet einbringen. Auf Organisationsebene ist es übrigens so, dass zum Beispiel ganze Medienhäuser ihre Kommentarfunktion auf Plattformen oder ihrer Website abschalten. Hassrede ist somit eine Einschränkung der Meinungsvielfalt: Denn die Stimmen von marginalisierten und diskriminierten Gruppen fehlen zunehmend. So verschieben sich auch gefühlte Mehrheiten im Land.  Denn wenn sich ganze Gruppen von besonders häufig angefeindeten Menschen aus Angst von Diskussionen zurückziehen, fehlt ihre Perspektive. Das ist für die Meinungsvielfalt besonders deshalb problematisch, weil die Stimmen marginalisierter Gruppen schon per Definition im Diskurs unterrepräsentiert sind. Wir müssen daher gegensteuern.

Was können Zivilgesellschaft, Politik und Strafverfolgung tun?

Aus Sicht der Betroffenen ist bei strafbaren Inhalten ein schneller zuverlässiger Schutz und effiziente Strafverfolgung am Wichtigsten. Wir empfehlen deshalb, Ansprechpersonen zum Thema Digitale Gewalt bei Polizei und Staatsanwaltschaft zu benennen. An sie könnten sich Betroffene und Zivilgesellschaft wenden. Sinnvoll ist ebenso, wenn das Land Berlin eine Ansprechperson zu digitaler Gewalt benennt. Diese könnte eine Brückenfunktion zwischen Politik, Verwaltung, Strafverfolgung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft bilden.

Wir empfehlen, dass die Polizei proaktiv entsprechenden Kanäle, z.B. bei Telegram in Form von Online-Streifen in den Blick nimmt, auch um mögliche zukünftige Anschläge zu verhindern. Das wird aber nicht reichen: Online-Communities mit radikalisierenden Dynamiken gibt es im Internet überall. Es gibt aber auch überall Menschen, denen solche Aktivitäten auffallen. Bitte nehmen sie deren Warnungen ernst. Dafür ist aus unserer Sicht wichtig, dass Mitarbeitende aller Polizeidienststellen für das Thema digitale Gewalt sensibilisiert werden.

Transparenz und Wirksamkeit von Meldewegen verbessern: Viele Menschen wissen nicht, dass sie Online Anzeigen erstatten oder hetzerische Kommentare melden können. Hier benötigt es weitere Aufklärung. Zur Verbesserung der Prozesse empfehlen wir eine wissenschaftliche Evaluation.

Gegen Diskriminierung in digitalen Räumen hilft am Effektivsten zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit und Bildung. Deshalb bietet unser Projekt Workshops zu Gegenrede und Moderation an. Darüber hinaus braucht es aus unserer Sicht Digital Streetwork, also die 1-zu-1-Ansprache von radikalisierungsgefährdeten Personen.

Digitale Räume dürfen nicht als etwas betrachtet werden, das getrennt von der Offline-Welt funktioniert. Für Täter*innen wie Betroffene sind digitale Räume ein ganz normaler Lebensraum, der sich mit dem Offline-Bereich verschränkt. Menschenfeindlichkeit im digitalen Raum hat Auswirkungen auf die offline-Welt und andersherum. Betroffene von digitaler Gewalt verdienen die gleiche Anerkennung, Schutz und Unterstützung wie andere Gewaltopfer.

Das Internet muss endlich ein Ort werden, an dem sich alle Menschen sicher fühlen!

Unser Mitarbeiter Oliver Saal vom Projekt „Civic.net – Aktiv gegen Hass im Netz“ war am 20. Januar 2021 als Sachverständiger zur öffentlichen Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz beim Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Dies ist die gekürzte und redigierte Version seiner Rede.

Seit 2004 findet jährlich im Februar der internationale Safer Internet Day (SID) statt. Über die Jahre hat sich der Aktionstag als wichtiger Bestandteil im Kalender all derjenigen etabliert, die sich für Online-Sicherheit und ein besseres Internet engagieren.

Neuerscheinung

Enthemmter Antisemitismus: Antisemitische Vorfälle in Thüringen erreichen mit 392 Vorfällen einen neuen Höchststand

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen dokumentiert mit 392 Meldungen einen neuen Höchststand antisemitischer Vorfälle in Thüringen. Die Gesamtzahl der von der Meldestelle dokumentierten Vorfälle stieg im Vergleich zum Vorjahr (297) um rund ein Drittel an. Jeder achte antisemitische Vorfall ist Thüringer Hochschulen zuzuordnen. Erstmals seit Beginn der Dokumentation wurden die meisten Vorfälle der Erscheinungsform „israelbezogener Antisemitismus“ zugeordnet.

Von den 392 Gesamtvorfällen entfielen 291 auf die Kategorie verletzendes Verhalten wie antisemitische Beleidigungen, Kommentare oder Beschmierungen. 54 auf gezielte Sachbeschädigungen, 38 auf Massenzuschriften, 7 auf Bedrohungen und 2 auf Angriffe. Im bundesweiten Vergleich liegt Thüringen mit der dokumentierten Vorfallzahl im Mittelfeld, unter den ostdeutschen Bundesländern (ausgenommen Berlin) steht der Freistaat allerdings an der Spitze.

Auch im Jahr 2024 stand der Großteil der Vorfälle in direktem Zusammenhang mit den Auswirkungen und Folgen des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Militäreinsatz in Gaza. Mit insgesamt 197 erfassten Vorfällen entfielen erstmals seit Beginn der Dokumentation der Großteil der gemeldeten Vorfälle auf die Erscheinungsform „israelbezogener Antisemitismus“. Damit einher geht eine deutliche Steigerung der Vorfälle mit Hintergründen aus dem  links-antiimperialistischen Spektrum (26 Vorfälle) und dem antiisraelischen Aktivismus (63 Vorfälle).

RIAS Thüringen beobachtet in diesem Kontext eine zunehmende Aggressivität und Enthemmung im antiisraelischen Protestgeschehen. So fanden beide erfassten Fälle von tätlichen Angriffen am Rande von antiisraelischen Versammlungen statt. Etwa die Hälfte aller Vorfälle fand an öffentlichen Orten wie der Straße, öffentlichen Gebäuden und Grünanlagen sowie im öffentlichen Personennahverkehr statt. Diese Zahlen verdichten das Bild einer deutlichen antisemitischen Raumnahme, welche für Betroffene einen alltagsprägenden Charakter annehmen kann. Es droht die Entstehung von Angsträumen.

In besonders zugespitzter Form äußert sich diese Entwicklung an den Thüringer Hochschulen, wo sich antisemitische Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr vervierfachten. Hier stieg die Anzahl von 10 Vorfällen im Jahr 2023 auf 46 in 2024. Da jüdische Studierende oder Hochschulmitarbeitende diese Orte nicht meiden können, ohne ihre Ausbildung oder ihren Arbeitsplatz zu gefährden, entstehen für Betroffene an hier besondere Belastungen.

„Das antisemitische Vorfallgeschehen ging 2024 in Thüringen verstärkt von gefährlichen Allianzen verschiedener scheinbar progressiver Gruppierungen, aus dem akademischen, migrantischen und
antiimperialistischen Milieu aus. Hier kam es zu einer deutlichen Steigerung der Aggressivität antisemitischer Äußerungen. Schmierereien wie „Gas Jews“ oder „Zionisten schlachten“ schaffen ein
Klima der Bedrohung und Angst für Jüdinnen und Juden“ erläutert Susanne Zielinski, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen. „Antisemitismus aus diesen Milieus wird allerdings weitaus weniger kritisch adressiert als der aus dem rechtsextremen Spektrum. Diese Verharmlosung führt dazu, dass israelbezogener Antisemitismus ungehindert ins akademische und gesellschaftliche Leben einsickern kann.“

Der Post-Shoah-Antisemitismus blieb mit 40% der Gesamtvorfälle auch 2024 auf einem konstant hohen Niveau. Erneut äußerte sich diese Erscheinungsform durch zahlreiche enthemmte und planvolle Angriffe auf die Erinnerungskultur, die darauf abzielen die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der  NS-Vergangenheit zu delegitimieren. So stellen Stolpersteinbeschädigungen und rechtsextreme Provokationen und Bedrohungen gegenüber NS-Gedenkstätten und ihren Mitarbeitenden ein kontinuierliches Grundrauschen im Vorfallgeschehen dar.

„Die im aktuellen RIAS-Bericht vorgelegten Zahlen spiegeln eine bittere Realität wider: Seit dem 7. Oktober 2023 hat antisemitische Gewalt und Anfeindung in erschütterndem Maße zugenommen. Auch Jüdinnen und Juden in Thüringen sind betroffen – viele sind in Sorge, manche leben in Angst. Antisemitismus – in welcher Form auch immer – richtet sich gegen uns alle. Für eine sachliche
Auseinandersetzung und wirksame Gegenmaßnahmen ist die Arbeit von RIAS unverzichtbar. Die Bekämpfung des Antisemitismus erfordert das Engagement der gesamten Zivilgesellschaft“, kommentiert Prof. Dr.-Ing. habil. Reinhard Schramm, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.


RIAS Thüringen ist eine zivilgesellschaftliche Dokumentations- und Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Thüringen in der Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung und wird von der Thüringer Staatskanzlei gefördert.

Analyse

Ideologie: Was ist eigentlich Sozialdarwinismus?

Im KZ Sachsenhausen erinnern zwei Stelen an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus. Die linke Stele trägt den schwarzen Winkel und erinnert an die als „Asoziale“ Stigmatisierten. Die rechte Stele trägt den grünen Winkel und erinnert an die als „Berufsverbrecher“ Stigmatisierten. (Quelle: Foto: Amadeu Antonio Stiftung / Luisa Gerdsmeyer)

Menschen in „wertvoll” und „nutzlos” einzuteilen, kann tödlich enden. Sozialdarwinismus gibt es in der Mitte der Gesellschaft genauso wie bei rechten Schlägern. 

Von Merle Stöver 

Im November 2000 ermordeten drei Neonazis in Greifswald Eckhard Rütz. Sie überfielen den obdachlosen 42-Jährigen an seinem Schlafplatz vor der Uni-Mensa und misshandelten ihn bewaffnet mit Baumstützpfählen. Er verstarb noch am Tatort. Die Tat begründete einer der Täter in einer Vernehmung damit, dass Eckhard Rütz „dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche gelegen“ hätte. Sie hätten ihm einen „Denkzettel“ verpassen wollen, meinte ein Mittäter.

Sozialdarwinismus ist eine der zentralen Säulen des Rechtsextremismus – doch wer ihn nur hier vermutet, irrt. Vorstellungen, dass die Gesellschaft sich um ein angebliches Recht des Stärkeren konstituiere oder dass manche nicht genug leisteten und dadurch eine Last, „nutzlos“ oder „minderwertig“ seien, sind sowohl gesellschaftlich als auch historisch auf einem breiten Kontinuum zu verorten.

Mit dem Satz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ befürwortete 2006 etwa Franz Müntefering (SPD), seinerzeit Bundesminister für Arbeit und Soziales, das sogenannte Optimierungsgesetz der Hartz-IV-Reform und die darin vorgesehenen Kontrollbesuche bei Bezieher*innen des Arbeitslosengeldes. Eine ähnliche Schlagrichtung hatten einige Äußerungen während der Corona-Pandemie. So zweifelte die Publizistin Julia Löhr bereits im März 2020 die Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen an und fragte in der FAZ: „Rechtfertigt der Schutz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, für die das Virus lebensbedrohlich ist, erhebliche Teile der Gesellschaft in wirtschaftliche Existenzängste zu stürzen?“

Bei aller Unterschiedlichkeit laufen die drei Beispiele auf die Grundprinzipien des Sozialdarwinismus hinaus. Dass den Genannten derartige Äußerungen und Forderungen offenbar leicht über die Lippen gehen, hat im Wesentlichen zwei Gründe: Einerseits sind derartige Positionen weit verbreitet und schlagen sich auch etwa in den Umfragen der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nieder. Andererseits erfahren die Positionen zugleich nur wenig Tabuisierung und Gegenwehr. Diejenigen, die durch derartige Überzeugungen diskriminiert oder gar gefährdet werden, verfügen oft über keine Lobby, waren historisch Verfolgung ausgesetzt und erleben heute Marginalisierung, Ausschluss und Verdrängung.

Was ist Sozialdarwinismus?

Den Kern des Sozialdarwinismus als Ideologie und Überzeugung bilden die Annahmen, dass es in einer Gesellschaft Stärkere und Schwächere gebe und dass das Recht des Stärkeren gelte. Im Fokus steht dabei der vermeintliche (ökonomische) Nutzen von Menschen für die Gemeinschaft. Diese Wahrnehmung und Einteilung von Menschen in „wertvoll/nützlich“ und „wertlos/nutzlos“ äußert sich insbesondere in der Abwertung von Wohnungslosen, Sozialhilfeempfänger*innen, Langzeitarbeitslosen und Drogenkonsument*innen, aber auch in ableistischer Form von Menschen mit Behinderungen. Aus dieser Abwertung folgen im Sozialdarwinismus meist Maßnahmen und Gewalt gegen die Genannten.

Anders als es etwa Formen von Rassismus inhärent ist, werden Betroffene nicht als konkrete Bedrohung von außen oder als Feind*innen markiert, die es zu bekämpfen gelte. Sie werden in erster Linie als Last für die Gemeinschaft gesehen und daraus folgend als innere Gefahr. Sozialdarwinismus ist eine Ideologie, die nur im Zusammenhang mit der Vorstellung einer Gemeinschaft verstanden werden kann, wobei Gemeinschaft „Volk“, „Volkskörper“, „Volksgemeinschaft“, aber auch „Gesellschaft“ und „die Wirtschaft“ meinen kann. Das Individuum wird danach beurteilt, wie viel es angeblich für die Gemeinschaft leistet, wie „nützlich“ es ist oder ob es sie womöglich zurückhält oder gar verdirbt.

Militärischer Drill, Zwangsarbeit und Vernichtung

Sozialdarwinismus ist eine historisch gewachsene Ideologie und Praxis, deren Theoretisierung auf die Evolutionstheorie nach Charles Darwin (1809 – 1882) zurückgeht. Darwins Lehre, nach der sich die anpassungsfähigsten Tiere und Pflanzen durchsetzen, übertrug unter anderem Herbert Spencer (1820 – 1903) pseudowissenschaftlich auf das menschliche Zusammenleben. Diese Idee fand von Beginn an über alle politischen Lager hinweg zahlreiche Anhänger*innen.

Im Deutschen Kaiserreich galt zunächst beispielsweise die Arbeits- und Obdachlosigkeit insbesondere Alleinstehender als selbstverschuldete Konsequenz fehlender Arbeitsdisziplin und devianter Moralvorstellungen. Obwohl die Zuschreibungen sich unterschieden, Männer als „arbeitsscheue Vagabunden“ geschmäht und Frauen der Prostitution verdächtigt wurden, war in beiden Fällen die Annahme zentral, dass sie mit Zwang in die Gesellschaft reintegriert werden müssten. Mit den Arbeitshäusern entstand ein System aus Gewalt, Zwangsarbeit und des militärischen Drills, das der Disziplinierung der Menschen galt, die als deviant markiert wurden.

Zum Beginn des 20. Jahrhunderts gewannen schließlich eugenische Annahmen Einfluss, denen zufolge deviantes Verhalten auf pathologische Ursachen (etwa den pseudowissenschaftlich belegten „Wandertrieb“) zurückzuführen sei. Zwar wurde dadurch die Sinnhaftigkeit von Strafen hinterfragt, weil mit der Pathologisierung das Attestieren einer Schuldunfähigkeit einherging, doch wurden nun Forderungen nach Zwangsbewahrung und sogar -sterilisierung laut. Damit stellte sich in der Weimarer Republik in den 1920er Jahren der Kern sozialdarwinistischer Überzeugungen heraus: Personen sollten nicht nur aus der Gemeinschaft entfernt und weggesperrt werden, vielmehr sollte ihre Fortpflanzung verhindert werden. „Ausmerze“ galt als sozialrevolutionäre Idee, die eine gesundere, leistungsstärkere Gesellschaft hervorbringe und die das Leiden der Schwachen nicht unnötig verlängere.

Die Nationalsozialisten nahmen diese Vorarbeit nach der Machtübertragung 1933 dankbar auf. Als „asozial“ und „gemeinschaftsfremd“ galt, wer nicht den Normen der „Volksgemeinschaft“ entsprach. Diese wiederum stand als dem Führerprinzip untergeordnete Gemeinschaft der „deutschen Volksgenossen“ im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Weltanschauung. Der Sozialdarwinismus der Nationalsozialisten zielte darauf, die „Volksgemeinschaft“ von denen zu befreien, die zu „Ballastexistenzen“ erklärt wurden. Auf der Grundlage verschiedener Gesetze und Erlässe wurden nun Menschen als „minderwertig“ und „erbkrank“ stigmatisiert, entmündigt, zwangssterilisiert und in Arbeitshäuser, Psychiatrien, Tötungsanstalten und Konzentrationslager verschleppt. Sie wurden gezielt und systematisch ermordet oder fielen der schweren Zwangsarbeit, Krankheiten und medizinischen Experimenten zum Opfer.

Die meisten Überlebenden erhielten keine Entschädigungen und stießen in beiden deutschen Nachfolgestaaten auf Verleugnung, Isolation und Ablehnung. Erst Ende der 1960er Jahre wurden in der BRD die Arbeitshäuser geschlossen und die Zwangsunterbringung von „Gefährdeten“ verworfen. Die DDR schuf mit dem sogenannten „Asozialenparagrafen“ (§ 249 StGB DDR) ein strenges Instrument der Sozialdisziplinierung. Bis zur Wiedervereinigung blieben die Zahlen derer, die auf dieser Grundlage zu Haft und Arbeitserziehung verurteilt wurden, konstant hoch.

Erst 2020 erkannte der Deutsche Bundestag die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten als Opfer des Nationalsozialismus an. Die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde („Euthanasie“) und der Zwangssterilisationen wurden sogar erst 2025 explizit anerkannt. Die meisten Entschädigungsberechtigten waren zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben. Die AfD enthielt sich als einzige Fraktion bei der Abstimmung im Januar 2020 und begründete dies mit der fadenscheinigen Behauptung, dass unter denen, die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden, Kriminelle gewesen seien, die demnach nicht pauschal zu Opfern des Nationalsozialismus erklärt werden könnten.

Worte und Taten der Rechtsextremen

Im Sozialdarwinismus der extremen Rechten verbinden sich zwei Elemente miteinander: So basiert er einerseits auf der Relativierung oder Glorifizierung der nationalsozialistischen Verbrechen und Täter sowie der Verhöhnung der Opfer. Andererseits gilt ihm die bereits beschriebene antiegalitaristische Überzeugung als Grundpfeiler, nach der Menschen von Natur aus unterschiedlich seien und es sich dabei um eine naturgegebene Hierarchie handele. Soziale Ungleichheiten folgten demnach vermeintlich nicht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern aus einer unveränderbaren Ungleichwertigkeit. Daraus folgt die Ablehnung jedes gesellschaftlichen Solidarsystems, wie 2007 eine Plenarrede des damaligen Fraktionsvorsitzenden der NPD (heute Die Heimat) in Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs, deutlich machte. Pastörs sagte: „Unser erstes Augenmerk hat dem Gesunden und Starken zu gelten. Dieses ist zuallererst zu fördern und zu unterstützen. Das ist keine Selektion, sondern einfache Logik.“

Die AfD übersetzt das sozialdarwinistische Grundprinzip in konkrete Forderungen: Sie wirbt für die Verpflichtung von Bürgergeld-Empfänger*innen zu gemeinnütziger Arbeit. Sollten diese dem nicht nachkommen, fordert die AfD, zunächst lediglich Sachleistungen und schließlich gar keine Leistungen mehr auszugeben. Dass sich auch die Position zu Inklusionspolitik hier einfügt, belegen Äußerungen Björn Höckes. Der Thüringer AfD-Vorsitzende diffamierte im MDR-Sommerinterview 2023 inklusive Beschulung von Schüler*innen mit und ohne Behinderungen als „Ideologieprojekt“ und „Belastungsfaktor“, der Schüler*innen nicht leistungsfähiger mache und von dem das Bildungssystem befreit werden müsste. An anderer Stelle verbinden Rechtsextreme Sozialdarwinismus zudem oft mit Rassismus und Antiziganismus. Dies mündet in Einwanderungsdebatten in der Hetze gegen vermeintliche „Sozialschmarotzer“ und in Forderungen nach der Abschaffung des Asylrechts oder der EU-Freizügigkeit.

Rechtsextreme setzen diese Einstellungen und Überzeugungen oft in die Tat um. Die Vorstellung eines homogenen Volkes ohne Abweichungen und des Rechtes der Stärkeren dient ihnen als Motivation für Einschüchterung, Gewalt und sogar Mord: Mindestens 23 Menschen wurden seit 1990 aus sozialdarwinistischen Motiven getötet – weil sie wie Horst Pulter obdachlos waren, weil sie wie Dieter Eich Sozialhilfeempfänger*innen waren oder aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Behinderungen wie im Fall von Jörg Danek. Die Zahl der Fälle, die nicht staatlich anerkannt wurden, denen aber von zivilgesellschaftlicher Seite sozialdarwinistische Motive nachgewiesen wurden, ist wesentlich höher.

In der Mitte

An dieser Stelle ist die Brücke erneut zur „Mitte“ der Gesellschaft zu schlagen: Denn insbesondere sozialdarwinistisch motivierte Taten werden oftmals entpolitisiert, nicht als rechte Gewalt anerkannt und geraten schnell in Vergessenheit. Meist findet weder eine Auseinandersetzung mit den Tatmotiven noch mit Maßnahmen statt, die die betroffenen Menschen effektiv vor Hassverbrechen schützen würden. Stattdessen begegnen viele den Opfern mit Gleichgültigkeit.

In den repräsentativen Umfragen der Mitte-Studie 2022/2023 stimmten der Aussage, dass bettelnde Obdachlose aus den Fußgängerzonen entfernt werden sollten, 19,8 Prozent mindestens „eher“ und weitere 22,4 Prozent „teils“ zu. Sogar 34,8 Prozent waren mindestens „eher“ und weitere 31,2 Prozent zumindest „teils“ der Meinung, dass Langzeitarbeitslose sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machten. Diese Zustimmungswerte weisen zum einen auf feindliche Einstellungen gegenüber den Genannten hin, zum anderen impliziert erstere Aussage sogar einen Handlungsaufruf, der von kommunalen Verwaltungen, Polizei und Sicherheitsdiensten an vielen Orten auch in die Tat umgesetzt wird.

Die eingangs genannten Beispiele – der Mord an Eckhard Rütz, die Äußerung Münteferings und die Prioritätensetzung während der Pandemie – zeigen die Flexibilität dessen, welche Konsequenzen ideologisch für die angeblich Schwächeren veispielorgesehen sind: Sie variieren zwischen Sanktionierung und Disziplinierung auf der einen und Vernichtung und Mord auf der anderen Seite. Lucius Teidelbaum spricht hier von einem manifesten Sozialdarwinismus, der die Überzeugungen und Handlungen der Rechtsextremen meint, und einem latenten Sozialdarwinismus, der sich in Einstellungen und ihrer Übersetzung in Leistungskürzungen oder Platzverweisen zeige. Gemein ist beidem jedoch eines: Dass die Würde eines Menschen von seiner Leistung abhänge.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Monitoring

Rechtes Frauennetzwerk auf Instagram – eine Analyse neurechter Influencerinnen und ihrer Wirkmacht

Rechtsextreme nutzen TikTok vielfältig für Inhalte - aber vor allem um für die Unterstützer*innen-Werbung unter Jugendlichen. (Quelle: Belltower.News / Bild generiert mit DALL-E)

von Gideon Wetzel, Sächsische Forschungs- und Dokumentationsstelle für Demokratie, Amadeu Antonio Stiftung

Der Text ist Online-Teil der Veröffentlichung „(R)echte Männer und Frauen. Analysen zu Geschlecht und Rechtsextremismus

Soziale Medien sind eines der wichtigsten Instrumente extrem rechter Akteur*innen, um ihre Inhalte zu verbreiten und Zielgruppen fernab ihrer Stammklientel zu erreichen. Immer wieder beweisen vor allem Mitglieder des AfD-Umfelds, aber auch neurechte Influencer*innen hier besonderes Geschick – doch wie sind diese untereinander vernetzt, welcher ideologische Background kennzeichnet sie und welchen Einfluss entfalten sie in nichtrechte Sphären? Die Analyse eines Netzwerks neurechter Influencer*innen gibt Einblicke zu diesen Fragen.

Soziale Plattformen wie Instagram sind für die extreme und insbesondere die selbsternannte Neue Rechte ein wichtiges Medium bei der Agitation im vorpolitischen Raum. Hier trifft man auf breite Bevölkerungsschichten, politische Gegenspieler*innen und den sogenannten Mainstream. Im vorpolitischen Raum, also auch in Teilen der Zivilgesellschaft, sieht die extreme Rechte ein wichtiges Betätigungsfeld im Kampf um kulturelle Hegemonie, welche als Voraussetzung für einen politischen Wandel angesehen wird. „In den intimen Öffentlichkeiten des Internets sind rechte Gefühle omnipräsent und für Nutzer*innen beheimatend. Sie bestimmen vielfach das Diskursklima, sind zu wirkmächtigen Parallelwelten mutiert, drängen auf Realität und stellen sie in massenwirksamer Form für viele bereit“ (Strick 2021: 22).


Der Plattform-Algorithmus

  • Instagrams Hauptmedium sind Bilder, aber auch Videos (Reels) haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Stories ad hoc und affektiv gestalteter und somit authentischerer Content sind von großer Bedeutung und werden ästhetisiert aufbereitet. Eben jene vergänglichen, weil innerhalb von 24 Stunden von der Plattform verschwindenden Stories werden dabei gern genutzt, um explizitere Inhalte zu teilen – zumal die automatische Löschung dieser Content-Form sie schwerer moderierbar macht.
  • Akteur*innen auf Instagram unterliegen den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie. Grundlage für die Steuerung dieser Aufmerksamkeit ist der geheimnisumwobene „Algorithmus“. Einfach definiert sind Algorithmen Handlungsvorschriften zur Lösung eines Problems. Im Kontext von Sozialen Medien ist damit insbesondere die Verteilung und Priorisierung von Inhalten, welche in den Feed jede*r Nutzer*in eingespeist werden, gemeint. Der Algorithmus löst also grob gesagt das Problem, die Inhalte möglichst entsprechend der individuellen Aufmerksamkeitsstruktur der einzelnen Nutzer*innen zu priorisieren und zu verteilen. Dafür entwickeln Plattformen wie Instagram den Algorithmus stetig weiter und passen ihn an aktuelle technische sowie gesellschaftliche Dynamiken an. Im Grunde geht es darum, die Nutzer*innen möglichst viel Zeit auf der Plattform verbringen zu lassen, da somit auch die aufgebrachte Zeit für den Konsum von Werbung steigt – welche die Haupteinnahmequelle für kommerzielle Plattformen wie Instagram ist.
  • Somit werden von Instagram auch Profile bevorzugt behandelt, die möglichst viel Aufmerksamkeit binden. Entsprechend erfolgreiche Inhalte werden von der Plattform in die Vorschläge und Feeds jener Nutzer*innen gespült, die den Content-Creator*innen nicht folgen: Sie gehen viral. Diesen Effekt will sich selbstverständlich auch die Neue Rechte zu Nutzen machen. Viele Strategien zielen auf emotional ansprechende, empörende, die Aufmerksamkeit stärker vereinnahmende Videos ab. Da eine Anfeindung und Abwertung marginalisierter Gruppen aktuell gegen die meisten Nutzungsbedingungen Sozialer Plattformen verstößt, werden solche politische Ansichten und Botschaften in Codes versteckt. Sogenannte Dogwhistles[1] oder die Verwendung von Memes spielen hierbei eine große Rolle (MISRIK 2023).
  • Einen positiven Effekt auf die Verbreitung von Inhalten kann ebenfalls der Zusammenschluss von Akteur*innen durch gegenseitiges Folgen, Teilen, Liken, Kommentieren und Bewerben haben, damit der Instagram-Algorithmus den Inhalten eine höhere Relevanz beimisst. Wir reden hierbei von einem Netzwerk.

Im Folgenden wird ein Netzwerk von neurechten Influencerinnen auf Instagram untersucht. Uns interessiert, wie sie vernetzt sind, welchen ideologischen Background sie haben, wie anschlussfähig sie an nicht rechte Netzwerke sind und wie sich die Inhalte ihrer Postings und Stories einordnen lassen. Ausgangspunkt der Untersuchung sind 17 öffentliche Profile bekannter und aktuell aktiver Akteurinnen der extrem rechten und neurechten Szene, welche Charakteristika von Influencerinnen (s. Beitrag „Die Macht der Inszenierung“) aufweisen. Diese „Persons of Interest“ (POIs) wurden durch die Kolleg*innen von De:Hate und der Fachstelle Gender, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus qualitativ evaluiert und in Zusammenarbeit mit Expert*innen und Netzwerkpartner*innen der Amadeu Antonio Stiftung ausgewählt.

Der Großteil der Profile ist dem Umfeld der AfD und deren Jugendorganisation Junge Alternative zuzuordnen. Ebenso sind einige Akteurinnen der Identitären Bewegung (IB) enthalten. Das Phänomen von Influencerinnen via Social Media ließ sich in der extremen Rechten zuerst bei der IB verorten. Nachdem das Bundesamt für Verfassungsschutz die IB Deutschland 2019 als rechtsextrem einstufte, ist zu beobachten, dass sich Gruppierungen, welche der IB zuzuordnen sind, unter anderen Namen oder in privaten Profilen auftreten – möglicherweise, um einer Überwachung zu entgehen. Einzelpersonen der IB organisieren sich außerdem zunehmend in der Jungen Alternative. Aus dieser Melange gründete sich in AfD-Nähe die Frauen-Vereinigung Lukreta, welche gezielt an emanzipatorische Diskurse mit rückwärtsgewandten Geschlechterrollen andocken will und somit in Tradition mit der #120db-Kampagne der Identitären Bewegung steht (Hansen 2022). Das Lukreta Profil sowie zugehörige Vertreterinnen sind in der Untersuchung enthalten. Weitere Eckpfeiler bilden die Profile der Musikerin Runa, welche dem extrem rechten Label Neuer Deutscher Standard (NDS) angehört, sowie der Influencerin „eingollan“. Runa, die mit bürgerlichen Namen Ramona Naggert heißt, macht Rap-Musik mit nationalistischen und extrem rechten Inhalten (Bernstein 2022). Als treue Teilnehmerin der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Sachsen verarbeitet sie außerdem Themen dieser Bewegung. Michelle Gollan („eingollan“), welche seit kurzem mit dem schon länger aktiven rechten Youtuber Leonard Jäger („Ketzer der Neuzeit“), aber auch in Soloformaten in Erscheinung tritt, hat die höchste Zahl an Follower*innen unter den untersuchten Profilen. Zusammen mit Jäger besucht sie Demonstrationen des politischen Gegenübers. Beide versuchen dort, entweder durch suggestive Befragung der Teilnehmenden und willkürliche Schnitte oder durch die Provokation und Dokumentation des eigenen Ausschlusses von der Demonstration vermeintlich entlarvende und verhöhnende Szenen einzufangen. Dieses Format sorgt für hohe Klickzahlen und Reichweite, aber auch satirische Rollenspiele und Reaction-Videos gehören zum Repertoire der sich in Ausbildung befindenden Schauspielerin.

Die Instagram-Profile der POIs wurden zum einen nach Follower*innen, die möglichst vielen der POIs folgen und zum anderen nach Profilen, denen wiederum möglichst viele der POIs folgen, untersucht. Dabei können Follower*innen Aufschluss über mögliche Anknüpfungen an nicht rechte Themenwelten und Kreise geben. Wiederum Profile, denen die POIs folgen zeigen uns welche Einflüsse auf diese wirken und zeichnen somit auch ein Bild von deren ideologischen Background.

Dafür wurden die Profile der POIs im Laufe einer Woche im Juli 2023 nach den folgenden und gefolgten Profilen gescannt[2]. Unter den gefolgten Profilen wurden jene herausgefiltert, welchen mehr als fünf unserer POIs folgen: Das ergab insgesamt 14 Profile. Um aus den insgesamt 63.559 folgenden Profilen eine repräsentative Menge für die Untersuchung zu erhalten, wurden all jene herausgefiltert, welche öffentlich sind, jeweils mehr als fünf der POIs folgen und selbst mehr als 1.000 Follower*innen aufwiesen – diesen könnte mitunter eine gewisse Multiplikator*innenrolle zugeschrieben werden. Die Auswahl ergab 147 Profile, welche anschließend nach ihrer thematischen Verortung und einer möglichen Verbreitung von Inhalten der POIs untersucht wurden.

Die Einflüsse auf die „Persons of Interest“

Als Einflüsse der POIs ergaben sich an erster Stelle – mit jeweils zehn der POIs als Follower*innen – die Wochenzeitung Junge Freiheit, welche von Politikwissenschaftler*innen als das Sprachrohr der sog. Neuen Rechten gesehen wird, und Alice Weidel, welche wie auch Beatrix von Storch (Platz 5) eine wichtige weibliche Führungspersönlichkeit der AfD ist. Auf Platz 2, mit neun folgenden POIs, steht der Account des Youtubers Leonard Jäger („Ketzer der Neuzeit“), dessen Videos verschwörungsideologische[3] oder queerfeindliche Inhalte transportieren. In jüngster Zeit tritt Jäger in seinen Videos häufig mit Michelle Gollan („eingollan“) auf, welche eine unserer POIs ist. Die weiteren Influencer-Profile sind überwiegend der AfD zuzuordnen. Es finden sich die Profile der Bundestagsfraktion (Platz 3; 8 POIs), der AfD Nordrhein-Westfalen (Platz 2 und 4) und der Jungen Alternative Dresden (Platz 4; 7 POIs). Mit Björn Höcke (Platz 2) und Stephan Brandner (Platz 5) haben wir bekannte Vertreter des ehemaligen, als extrem rechts geltenden „Flügels” der AfD, sowie die AfD-Politiker Tino Chrupalla (3), Roger Beckamp (5) und Sebastian Wippel (5). Auf Platz 4 liegt mit Freya Rosi eine Influencerin aus der Tradwife Szene (s. Beitrag „Tradwives statt trans Girls“, S. 28 der Broschüre), welche aktuell jedoch nicht aktiv ist.

Abb. 1: Netzwerkdiagramm – Einflüsse der POIs (in Rot, Einflüsse in Blau)

 

Platzierung von Instagram Profilen nach Anzahl der folgenden POIs

Platz Profil-Name Anzahl der

folgenden POIs

1 JUNGE FREIHEIT 10
Alice Weidel 10
2 Leonard Jäger (ketzerderneuzeit) 9
AfD NRW 9
Björn Höcke 9
3 Alternative für Deutschland 8
Tino Chrupalla 8
4 Junge Alternative Dresden 7
Freya Rosi 7
AfD-Fraktion NRW 7
5 Beatrix von Storch 6
Roger Beckamp MdB 6
Stephan Brandner 6
Sebastian Wippel 6

 

Insgesamt folgen die POIs also vor allem bekannten Persönlichkeiten und regionalen Ablegern der AfD. Die Nähe zur AfD verwundert nicht, da ein Großteil der POIs selbst der Partei zuzuordnen ist. Jedoch stechen die zwei Akteure des ehemaligen Flügels und AfD-Abgeordnete aus den Bundesländern Sachsen und Thüringen hervor, wo die AfD zur Bundestagswahl 2021 den höchsten Stimmenanteil unter den Parteien bekam. Auffällig ist auch die große Überschneidung über die neurechte Wochenzeitung Junge Freiheit. Weiterhin finden sich zwei namhafte und erfolgreiche Influencer*innen aus dem rechten Spektrum unter den Einflüssen.

Ein neurechtes Netzwerk bei Instagram

Die Follower*innen der POIs haben wir auf zwei Fragen hin überprüft: Gibt es hier Profile, welche nicht auf dem ersten Blick dem rechten Spektrum zuzuordnen sind, aber dennoch entsprechende Inhalte verbreiten? An welche anderen Themenwelten docken unsere POIs über solche Brückenprofile an?

Abb 2: Netzwerkdiagramm POIs und Follower*innen

Das Netzwerkdiagramm zeigt die Verknüpfung zwischen unseren POIs und den herausgefilterten 147 Follower*innen. Es wird nicht gezeigt, welchen Profilen die Follower*innen außer den POIs folgen – wenn diese sich z.B. gegenseitig folgen, ist dies hier nicht zu sehen. Tauchen POIs jedoch als Follower*innen der jeweils anderen POIs auf, sind diese ebenfalls in der Darstellung verknüpft. Der Übersicht halber sind nur Knoten beschriftet, welche mehr als zwölf unserer POIs folgen. Die rot gefärbten Knoten kennzeichnen die POIs selbst. Der Algorithmus, welcher das Netzwerkdiagramm erzeugt, ordnet die Punkte anhand ihrer Verknüpfungen zueinander an. Folglich sind sich in dieser Darstellung Punkte näher, welche sich auch die meisten Follower*innen teilen. Die Abbildung lässt somit Rückschlüsse auf das Verhältnis der Profile zueinander zu.

In der Analyse zeigt sich eine starke Vernetzung der POIs untereinander und mit vielen Persönlichkeiten vor allem aus dem AfD-Umfeld. Das verwundert nicht, stammt doch der überwiegende Teil der POIs selbst aus dem AfD-Dunstkreis. Hieraus ergibt sich auch die starke Vernetzung mit AfD-Profilen und ein überwiegend aus AfD-Profilen bestehender Cluster in der Mitte.

Das gut vernetzte Zentrum bilden Akteur*innen der extrem rechten „Fraueninitiative“ Lukreta: Anna Leisten, Marie-Thérèse Kaiser, Mary Khan, Seli Enxhi sowie das Profil von Lukreta selbst. In der Verdichtung unten rechts finden sich die Profile aus der AfD oder deren Umfeld. Wiebke Muhsal bildet dabei das Zentrum. Die beiden IB-Aktivistinnen Anni Hunecke und Paula Winterfeldt, Hauptprotagonistin von #120db (Kulaçatan 2021), stehen eher am Rand des Clusters (linke Seite), zusammen mit weiteren Follower*innen, welche dem identitären sowie extrem rechten Spektrum zugeordnet werden können. Hier lässt sich auch das Profil von Reinhild Boßdorf verorten und das der Rapperin Runa vom extrem rechten Label NDS.

Am oberen Rand und mit größerem Abstand zum Hauptfeld befindet sich das Profil von eingollan, diese weist kaum Verknüpfungen zu den restlichen POIs auf, jedoch zu vielen anderen neurechten Profilen. Eingollan verzeichnet hier aktuell einen Erfolg mit rechten Inhalten. Die meisten Follower*innen aus dem Bereich Lifestyle lassen sich zwischen eingollan und dem IB-Cluster verorten. Weiterhin sehen wir drei Follower*innen aus dem extrem rechten Spektrum im unmittelbaren Umfeld von eingollan. Follower*innen mit persönlichen, nicht offen rechten Profilen sehen wir gleichmäßig verteilt im Netzwerk.

Die starke Vernetzung der POI-Profile und gegenseitiges Liken sowie Teilen entfalten einen verstärkenden Effekt auf die Inhalte, welche darüber verbreitet werden. Aber nicht nur inhaltliche Verknüpfungen sind wichtig: Allein die Tatsache, dass sich die Profile gegenseitig folgen, trägt dazu bei, dass interessierten Menschen eben diese Profile von Sozialen Plattformen wie Instagram vermehrt vorgeschlagen werden. Die starke Vernetzung kann zum einen strategisch sein, zum anderen ist aber auch davon auszugehen, dass sich die meisten Personen lose persönlich kennen und die Vernetzung organisch – auch offline – gewachsen ist.

Größere Accounts unter den Follower*innen

Wir haben die 147 öffentlichen Profile, welche mehr als fünf unserer POIs folgen und mehr als 1.000 Follower*innen haben, analysiert (Abb. 2): Über die Hälfte der Profile lassen sich Personen aus oder dem Umfeld der AfD oder der JA zuordnen. Das verweist zum einen auf die zentrale Rolle, die die Partei für die extreme Rechte spielt, und zum anderen auf deren strategische Nutzung Sozialer Medien (Hillje 2021).

Knapp 15 Prozent dieser Follower*innen lassen sich weiteren Organisationen des extrem rechten Spektrums zuordnen und etwa 5 Prozent der völkischen Identitären Bewegung. Uns haben indes die etwa 25 Prozent der Profile, welche auf den ersten Blick keine rechten Inhalte transportieren, besonders interessiert. Hiermit ist gemeint, dass im Profilbild, der Profilbeschreibung und den regulären Postings keine rechten Inhalte und Codes zu erkennen sind – also alle Informationen, die man sieht, wenn man das Profil überfliegt und ggf. die Entscheidung fällt, diesem zu folgen oder nicht. Ausgeschlossen hiervon sind Stories, da diese in der Regel nur für den aktuellen Tag sichtbar sind. Untersuchungen zeigen, dass explizitere Inhalte tendenziell über Stories verbreitet werden (Kero 2022: 104).

Abb. 3: Aufteilung der untersuchten Menge von Follower*innen

 

Themenwelten der „nichtrechten“ Follower*innen

Über die regulären Inhalte der „nichtrechten“ Profile lassen sich Aussagen darüber ableiten, welchen Einfluss das untersuchte Netzwerk außerhalb „der eigenen Bubble“ hat. Zudem kann eingeschätzt werden, inwiefern deren Strategie aufgeht, neue Menschen zu erreichen. Die anschließende Untersuchung der Stories soll aufdecken, in welchen Fällen ein Verbreiten rechter Inhalte bereits gelingt.

Bei den untersuchten größeren, vordergründig nicht rechts auftretenden Follower*innen des neurechten Netzwerks handelt es sich – nach Angabe in den Profilen – überwiegend um Männer. Inhaltlich lassen sich die untersuchten Profile wie folgt kategorisieren: Zum einen finden sich hier klassische Lifestyle-Profile, welche die geschönten Seiten des alltäglichen Lebens sowie Fotografie, Reisen, Luxus und Statussymbole zeigen. Daran anknüpfend gibt es die für Instagram ebenfalls typischen Fitness-Profile, welche die persönliche sportliche Betätigung und gesunde Lebensführung dokumentieren, angereichert mit Tipps für Übungen und Ernährung. Und schließlich gibt es Profile, welche Ausschnitte aus dem Privatleben zeigen: Selfies, Kochergebnisse, Ausflugserlebnisse, Treffen mit Freund*innen oder auch Spruchbilder. Hierbei sind die Übergänge zu den Fitness- und Lifestyle-Profilen fließend. Weitere Profile zeigen weniger persönliche Inhalte und widmen sich gezielt bestimmten Themen. Dabei stachen drei Themenzusammenhänge hervor:

Ein Bereich dreht sich um Wirtschaft und Ökonomie, hier werden Informationen in Form von Sharepics oder Reels zu Marketing, Management, Wirtschaftsnachrichten, Unternehmen sowie Geldanlagen offenbart. Daran anknüpfend beobachten wir einen Themenzusammenhang, welcher sich in gleicher Weise mit Kryptowährungen, Kryptohandel, Aktienhandel und Spekulation auseinandersetzt.

Darüber hinaus finden sich Profile, welche sich politischen Themen aus einer konservativen Perspektive widmen. Es werden ausgewählte aktuelle Geschehnisse in Form von Sharepics und Reels kommentiert oder der eigene Podcast beworben. Ein weiterer Themenzusammenhang, welcher nicht ganz so stark wie die vorherigen vertreten ist, aber dennoch interessant erscheint, ist die Landwirtschaft. Hier wird alles rund um Ackerbau, Traktoren, Gerätschaften und Landleben behandelt. Auch hier gibt es Übergänge zu Lifestyle- und Privat-Profilen.

Besonders im Bereich Kryptowährungen und Trading fiel auf, dass die Profile sehr vielen anderen Profilen ohne erkennbaren thematischen Zusammenhang folgen – möglicherweise wird hier durch Profilautomatisierung[4] versucht, eine hohe Reichweite zu erzielen. Dahinter verbirgt sich die Strategie, dass auf manche Folge-Anfragen mit einem Zurückfolgen reagiert wird und das Profil somit in den Vorschlägen der Follower auftaucht. Die Frage bleibt offen, ob in diesem Fall die von uns ausgewählten POIs durch Zufall dabei sind, oder gezielt versucht wird, deren Gefolgschaft zu erreichen, da diese womöglich empfänglich für derartige Inhalte ist. Ebenso machten die Follower*innen der Profile im Bereich Wirtschaft/Ökonomie einen sehr generischen, möglicherweise gekauften Eindruck.

Im Beobachtungszeitraum konnten keine inhaltlichen Weiterleitungen der POIs, z.B. in Form von Stories, festgestellt werden. Allerdings gab es inhaltliche Überschneidungen beim Betrachten der Stories einiger der untersuchten Profile, wodurch eine Rezeption möglich erscheint.

Zusammenfassung

Die Profile der POIs finden überwiegend im extrem rechten, neurechten Lager Anschluss. Außerdem sind sie stark untereinander und mit Profilen aus dem Umfeld der AfD verknüpft. Die Follower*innenzahlen bewegen sich durchgehend im Bereich von Micro-Influencer*innen. Ein Andocken an nichtrechte Themenwelten hält sich in Grenzen und findet hauptsächlich in den Bereichen Wirtschaft, Kryptowährungen, Trading, Anlagen, konservative Politik-Blogs, Fitness, Lifestyle und Landwirtschaft statt. Hier konnte in einigen Fällen ein Verbreiten rechter Inhalte in Form von Stories festgestellt werden, obwohl die Profile auf den ersten Blick nicht darauf schließen ließen. Solche Multiplikator*innenprofile ermöglichen es, rechte Inhalte in andere gesellschaftliche Bereiche zu transportieren. Es bleibt abzuwarten, inwiefern es den Influencer*innen gelingt, den Anschluss an diese Themenwelten auszubauen und weitere für sich zu gewinnen.

Hervorzuheben ist dabei das Profil der Influencerin eingollan, welches kaum Verknüpfungen zu den anderen POIs aufweist, jedoch zu vielen anderen neurechten Profilen. Eingollan verzeichnet dafür aktuell einen Erfolg mit rechten Inhalten (de:hate/Kompetenznetzwerk Rechtsextremismusprävention 2023). Möglicherweise handelt es sich hier um eine neue Generation, welche noch stärker mit Social Media aufgewachsen ist und intuitiv mit anderen Strategien Erfolg hat. Möglicherweise spielt auch die Parteilosigkeit eine Rolle sowie das hippe, junge Auftreten, welches das Profil zunächst unpolitisch erscheinen lassen. Vorteilhaft sind mit Sicherheit auch der schauspielerische Background und die professionelle Produktion sowie Orientierung an aktuellen Influencer*innen-Trends und -strategien wie das Etablieren eigener Formate, welche in gleichbleibender Form wiederholt werden. Aber auch das Profil der Musikerin Runa zeigt im Vergleich zu den anderen POIs eine höhere Reichweite – die alte Strategie der Rechten, über Musik und Subkultur Ideen zu verbreiten, scheint immer noch gut zu funktionieren, lediglich der Musikstil hat sich gewandelt.

Wir haben mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen und Möglichkeiten lediglich öffentliche Profile mit über 1.000 Follower*innen untersucht, möglicherweise haben aber auch private Profile oder jene mit weniger Follower*innen eine wichtige Funktion bei der Verbreitung extrem rechter Inhalte. Ebenso zeigt die Untersuchung nur einen zeitlichen sowie personellen Ausschnitt und somit nur ein Zerrbild der Realität. Die Untersuchung gab Rückschlüsse auf weitere relevante Profile, welche das zu untersuchende Netzwerk erweitern und neue Dynamiken aufdecken könnten.

Quellen

Bernstein, Bea (2022): HipHop Rechtsaußen. Ein neuer Versuch. Belltowernews. Online: https://www.belltower.news/hiphop-rechtsaussen-ein-neuer-versuch-144227/

de:hate/Kompetenznetzwerk Rechstextremismusprävention (2023): Jung und reaktionär. Die Nachwuchs-Rechts-Fluencer. Belltowernews. Online: https://www.belltower.news/jung-und-reaktionaer-die-nachwuchs-rechts-fluencer-150781/

Hansen, Friederike (2022): „Frauenkongress“ von rechtsradikaler Frauengruppe und AfD in Münster. Belltowernews. Online: https://www.belltower.news/lukreta-frauenkongress-von-rechtsradikaler-frauengruppe-und-AfD-in-muenster-133219/

Hillje, Johannes (2021): Propaganda 4.0. Wie rechte Populisten unsere Demokratie angreifen. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn.

Kero, Sandra (2022): Jung, weiblich und extrem rechts. Die narrative Kommunikation weiblicher Akteurinnen auf der Plattform Instagram. Fakultät für Philologie an der Ruhr-Universität Bochum, unveröffentlicht.

Kulaçatan, Meltem (2021): Ausgespielt? Feministische Zielsetzungen im antimuslimischen Rassismus. In: Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): Weiblich, bewegt, extrem rechts. Frauen, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen, Online: https://amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/07/RexNRW-Netz.pdf, S. 51-54.

MISRIK (2023): Was machen rechtsextreme Memes? Memes in extrem rechter Internetkommunikation, Belltowernews,. Online: https://www.belltower.news/kreative-ans-werk-memes-in-extrem-rechter-internetkommunikation-was-machen-rechtsextreme-memes-153363/

Strick, Simon (2021): Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Transcript Verlag, Bielefeld.


[1] Eine Form codierter Sprache: versteckte Bedeutungen in Aussagen, welche die eigene Anhängerschaft erkennen (und aktivieren).

[2] Dauer aufgrund der Anfragen-Limitierung von Instagram

[3] Eine von Jäger häufig aufgegriffene Erzählung ist die des sog. „Great Reset“ –  eines angeblichen Plans eine „neue Weltordnung“ zu installieren – durch und zugunsten einer „Elite“ und auf Kosten der „einfachen“ Bevölkerung. Namensgeber für diese Verschwörungserzählung ist das Weltwirtschaftsforum (WEF), dass sich im Jahr 2021 unter dem Motto „The Great Reset“ traf.

[4] Ein Programm steuert die Interaktionen eines Profils und sorgt somit für mehr Reichweite. Profilautomatisierungen verstoßen gegen die Geschäftsordnung von Instagram, sind aber dennoch weit verbreitet und werden von Dritten als Service angeboten.

Bundesverwaltungsgericht hebt Verbot gegen Compact auf – zum Urteil und seinen Folgen

Jürgen Elsässer am 05.09.2022 auf dem Augustusplatz in Leipzig bei einer Kundgebung der »Freien Sachsen«
Jürgen Elsässer am 05.09.2022 auf dem Augustusplatz in Leipzig bei einer Kundgebung der »Freien Sachsen«, Bild: Dirk Bindmann, CC

von Benjamin Winkler, Amadeu Antonio Stiftung

Am 24. Juni 2025 hob der sechste Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, unter dem Vorsitz von Richter Ingo Kraft, das bestehende Verbot des rechtsextremen Compact Magazins durch das Bundesinnenministerium endgültig auf. Es war bereits seit dem 14. August 2024 vom gleichen Gericht teilweise außer Kraft gesetzt worden, sodass Compact weiterhin erscheinen konnte. Mit dem Urteil im Hauptverfahren ist das Verbot endgültig vom Tisch, was die Betreiber des Magazins ordentlich gefeiert haben. Es lohnt sich ein genauerer Blick auf das Verfahren und die Urteilsbegründung.

Das Compact Magazin wird vom gleichnamigen Medienunternehmen und dessen Gründer und Chef Jürgen Elsässer herausgegeben. Neben dem Heft gibt es weitere TV- oder Social-Media-Formate. Auch gibt es im Compact-Shop Bücher und zahlreiche Sonderhefte. Compact erscheint seit Dezember 2010 (Nullnummer) und hat heute, nach Eigenangaben eine Auflage von 40.000 Exemplaren.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft das Magazin seit 2022 als gesichert rechtsextrem ein. Grund für die Entscheidung waren vor allem eine systematische Hetze in Compact gegen Geflüchtete und Muslime, die Verbreitung von Geschichtsrevisionismus und die Delegitimierung demokratischer Systeme und Institutionen. Wissenschaft und Zivilgesellschaft kritisieren zudem die häufigen antisemitischen Verschwörungserzählungen in den Compact-Medien. Diese sind auch in der aktuellen Ausgabe Nr. 7/2025 zu finden, auf deren Frontcover der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vor dem Hintergrund einer apokalyptischen Kriegsszene zu sehen ist. Im Heft wird dann an eine frühere antisemitische Behauptung der Compact-Redaktion angeschlossen. Demnach strebe eine jüdische Geheimgruppe nach Weltmacht, indem die Welt in einen großen Krieg gestürzt werden soll. Gemäß dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig können solche düsteren antisemitischen Geschichten weiter erscheinen und vermarktet werden.

Das Bundesinnenministerium hatte Compact nach dem Vereinsgesetz verboten. In der Begründung des BMI vom 16. Juli 2024 hieß es, dass Compact nicht nur rassistische und antisemitische Hetze verbreite, sondern in besonderer, aggressiver Weise gegen Minderheiten wie beispielsweise Muslim*innen oder arabische Bevölkerungsteile aufwiegele, die zu Gewalt und Straftaten führen könne. Auch der Hass gegen Jüdinnen und Juden, der von Compact ausginge, sei Grund für das Verbot. Damals wurden dann bundesweit Vereinsimmobilien polizeilich aufgesucht und Beweise gesichert. Alle Compact-Medien verschwanden binnen kurzer Zeit aus dem Netz beziehungsweise aus den Verkaufsgeschäften. Das Vorgehen des BMI wurde durchaus als Agieren eines wehrhaften, demokratischen Staates verstanden. Zugleich regte sich, vor allem aus dem rechten Lager, Widerstand und Solidarisierung mit Compact. In den letzten Jahren hatte sich Compact vor allem auch als Sprachrohr der rechten Szene hervorgetan, nachdem es zuvor bereits für verschwörungsideologische oder esoterische Kreise ein wichtiges Medium wurde.

In der Urteilsbegründung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Juni 2025 heißt es nun, dass die Presse- und Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Grundgesetz auch dann noch gilt, wenn Personen oder Gruppen rassistische, antisemitische oder demokratiefeindliche Inhalte verbreiten. Die Grundrechte gelten auch für die Gegner*innen der Demokratie, so die Richter*innen in Leipzig. Zwar wird durch das Gericht der verfassungsfeindliche Inhalt in den Compact-Medien gesehen, zugleich sei aber ein Komplettverbot von Compact ein zu harter Eingriff in die Grundrechte der Betreiber*innen. Ebenso wird durch die Richter*innen festgestellt, dass nicht alle Inhalte der Hefte verfassungsfeindlich seien. Konkret heißt es: „Eine Vielzahl der von der Beklagten als Beleg für den Verbotsgrund angeführten migrationskritischen bzw. migrationsfeindlichen Äußerungen lässt sich danach auch als überspitzte, aber letztlich im Lichte der Kommunikationsgrundrechte zulässige Kritik an der Migrationspolitik deuten.“ (s.o.)

Der spannendste Teil des Urteils ist aber der Auszug zum so genannten Remigrationskonzept. Dieses stammt in seiner heutigen Fassung vom österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner. Dieser schreibt regelmäßig eine Kolumne für Compact und verbreitet die Magazin-Inhalte über seine Social-Media-Kanäle. Er ist zudem eng mit Jürgen Elsässer verbunden. In der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts heißt es zur Verträglichkeit des Remigrationskonzepts mit dem Grundgesetz: „Diese Vorstellungen missachten – jedenfalls soweit sie zwischen deutschen Staatsangehörigen mit oder ohne Migrationshintergrund unterscheiden – das sowohl durch die Menschenwürde als auch das Demokratieprinzip geschützte egalitäre Verständnis der Staatsangehörigkeit. Denn sie gehen von einer zu bewahrenden „ethnokulturellen Identität“ aus und behandeln deshalb deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund als Staatsbürger zweiter Klasse.“ Damit drücken die Richter*innen deutlich aus, dass die Vorstellungen Sellners gegen das Grundgesetz verstoßen. Wichtig ist auch, dass das Remigrationskonzept eng mit der Verschwörungsideologie eines geplanten „Bevölkerungsaustausches“ verbunden ist. Die Vorstellung, dass angeblich geheime Eliten seit Jahrzehnten eine gezielte Überfremdung Europas und der USA betreiben würden, mündete bei Sellner und auch bei Compact schließlich in die Forderung nach einer massenhaften Ausweisung von Migrant*innen. In der öffentlichen Deutung dieses Teils des Compact Urteils hieß es, dass hier durchaus eine wichtige Grundsatzentscheidung getroffen worden sei. Bekanntlich fordert auch die AfD eine „Remigration“ von Migrant*innen und handelt damit offenbar gegen die Grundrechte von Menschen in diesem Land.

Es bleibt festzuhalten, dass durch die Aufhebung des Verbots weiterhin ein verschwörungsideologisches, rechtsextremes und antisemitisches Magazin frei erscheinen kann. Nicht wenige Menschen, die heute verschwörungsgläubig sind, haben wahrscheinlich über Compact und ähnliche Medien einen ersten Zugang gefunden. Aus dem Gesichtspunkt der Präventionsarbeit gäbe es also auch gute Gründe, weiterhin kritisch mit Compact umzugehen. Zwar mag es juristisch korrekt sein, einige der Beträge aus Compact lediglich als „polemisch zugespitzte Machtkritik“ [s.o.] zu verstehen, andererseits birgt eine solche Einschätzung erhebliche Risiken. Sie könnte zahlreiche andere Akteur*innen dazu ermutigen,  rassistische, antisemitische oder menschenfeindliche Positionen offensiver in den Umlauf zu bringen, da diese scheinbar nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Es ist deshalb dringend notwendig, den rechtsextremen und demokratiefeindlichen Inhalt der Compact sichtbar zu machen. Diese Aufgabe werden auch in Zukunft vor allem zivilgesellschaftliche und medienkritische Akteur*innen haben. Diesen allerdings die alleinige Verantwortung der Bekämpfung von gefährlichen Verschwörungsideologien zuzuweisen, würde zu kurz greifen. Hier braucht es auch weiterhin das wirksame Handelns des Staates und seiner Organe.

Verfassungsschutzbericht 2024: (Fehlende) Zahlen

Bild: Mathias Rodatz

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) präsentierte im Juni seinen jährlichen Bericht und spezifiziert darin auch die statistischen Angaben zur „politisch motivierten Kriminalität (PMK)“ des Bundeskriminalamtes auf Straftaten mit „extremistischem Hintergrund“. Die Angaben in den verschwörungsideologisch relevanten Bereichen sind bezeichnend und auch aufschlussreich für die Beobachtungskategorien:

Erfasst wird die PMK bei der Polizei grundsätzlich in den Kategorien „PMK-rechts, PMK-links, PMK-religiöse Ideologie, PMK-ausländische Ideologie und PMK-sonstige Zuordnung“. Dem übergeordnet als „extremistisch motiviert“ klassifiziert werden „diejenigen Straftaten, bei denen es Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie darauf abzielen, bestimmte Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen, die für die freiheitliche demokratische Grundordnung prägend sind.“ (VSB 2024, S. 26). Im Jahr 2024 machten diese 68,6 Prozent aller politisch motivierten Straftaten aus. Ein Anteil von 13,5 % wurde davon unter „sonstige Zuordnung“ erfasst.

Trotz fehlender Kategorie werden nach den Angaben zur PMK-rechts und vor denen zur PMK-links auch 992 Straftaten angegeben, die von Souveränist*innen verübt worden sind, die einheitlich als „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ bezeichnet werden. In dieser Kategorie kann ein Rückgang um über 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr und um knapp die Hälfte gegenüber 2022 (in absoluten Zahlen 1.900) festgestellt werden. 2024 wurden von diesen Straftaten knapp 11 Prozent als gewaltvoll und gut 6 Prozent als antisemitisch eingeordnet. Anteilig die meisten Straftaten wurden dabei in Baden-Württemberg verzeichnet (knapp 21 Prozent), in Bayern aber absolut die meisten der Gewalttaten, nämlich 26 (2022 waren es 197).

Die aktuellen Phänomenbereiche des Verfassungsschutzes sind Rechtsextremismus/ rechtsextremistischer Terrorismus, „Reichsbürger“ und Selbstverwalter“, „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, Linksextremismus, Islamismus/ islamistischer Terrorismus und auslandsbezogener Extremismus. Um die nicht in diese Bereiche zuordenbare Akteure im Zuge der Proteste gegen die Regierungsmaßnahmen während der Covid-19-Pandemie zu erfassen, war im April 2021 im BfV die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ (im folgenden kurz „Delegitimierung“) eigens eingerichtet worden. Im ersten und zweiten Jahr, 2021 und 2022, wurden dem Bereich 1.400 Personen zugerechnet, 2023 dann 1.600 und 2024 nun 1.500 Personen. Nachdem der Anteil gewaltorientierter (also gewalttätiger und/ oder Gewalt androhender bzw. befürwortender) Personen in den ersten beiden Jahren mit 20 Prozent angegeben wurde, lag dieser 2023 und 2024 nun unverändert bei knapp 17 Prozent bzw. 250 Personen. Das BKA wendet die Kategorie allerdings weiterhin nicht an bzw. ordnet diesem Bereich keine politisch motivierten Straftaten zu (im Gegensatz zum Souveränismusbereich).

Dem Phänomenbereich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ werden 2024 26.000 Personen zugeordnet (davon 10 Prozent gewaltorientiert). Mehr als 5 Prozent von diesen werden gleichzeitig auch im Phänomenbereich „Rechtsextremismus“ erfasst. Wie viele dieser Gruppen anteilig außerdem den anderen Phänomenbereichen, insbesondere der „Delegitimierung“ zugeordnet werden, bleibt unbekannt.

Eine trennscharfe und einheitliche Kategorisierung und vor allem Erfassung durch die beiden Bundesämter ist jedoch erforderlich, um gebildete Kategorien empirisch überprüfbar zu machen (und auch andersherum existierende Phänomene zu benennen). Hinzukommt, dass insbesondere gegen identifizierte Gruppen gerichtete Verschwörungsideologien sich oft unterhalb der Strafbarkeitsschwelle äußern und daher nicht erfasst werden. Zivilgesellschaftliches Monitoring ist aus diesem Grund weiterhin unerlässlich, um die Präventionsarbeit wirksam zu machen.

Tools im Test: Online-Quiz

conspiracy-virus.de

Mit dem Online-Tool der früheren „Kooperative Berlin“ (heute: KBK Kulturproduktion e.V.) können Interessierte ihr Wissen über das Thema Verschwörungstheorien sowie auch eigene Meinungen über bekannte und weniger bekannte Erzählungen festigen. Es ist vor allem für thematisch Interessierte zu empfehlen und Menschen, die mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen pädagogisch arbeiten.

Das Prinzip ist schnell erklärt. Wer auf den Button „Mach den Schnelltest“ klickt, landet in einem Quiz, bestehend aus zehn zufällig gebildeten Fragen oder Aussagen. Die Nutzer*innen haben dann jeweils kurz Zeit, um in Bezug auf eine Aussage, ein Bild oder eine Frage eine Antwort zu finden. Die Antwortmöglichkeiten reichen in der Regel von „Ja, stimmt“, „ist möglich“ über „weiß nicht“ bis hin zu „Nein, das stimmt nicht.“ Bei einigen der Quiz-Fragen erhalten die Nutzer*innen auch andere Antwortmöglichkeiten. Mit einem Ampelsystem wird sofort angezeigt, ob die Antwort richtig oder falsch beziehungsweise teilweise richtig war. Grün steht für richtig, rot für falsch und gelb für „ist möglich“. Nicht direkt im Quiz, aber danach, werden den Nutzer*innen auch Erklärungen angeboten, weshalb ihre Antworten so bewertet wurden. Die zehn Fragen oder Aussagen können sich auf allgemeines Wissen zum Thema (z.B. Verschwörungstheorien werden seit langer Zeit verbreitet) oder Meinungen und Sachaussagen zu verschiedenen konkreten Verschwörungserzählungen (z.B. die Ursache von Corona wird noch wissenschaftlich untersucht) beziehen. Wer das Quiz mehrfach nutzt, wird somit mit vielfältigem Wissen und Inhalten aus dem Thema konfrontiert. Wenn alle zehn Fragen oder Aussagen beantwortet wurden, erhalten die Nutzer*innen einen so genannten Immunitätswert. Dieser kann zwischen 0% und 100% betragen. Wer einen hohen Wert hat, gilt als besonders immun gegen Verschwörungserzählungen. Am Ende des Quiz können die Nutzer*innen ihr eigenes Antwortverhalten noch einmal sehen und erhalten Hinweise, weshalb es richtig, möglich oder falsch gewesen ist. Neben einem kurzen Einordnungstext werden den Nutzer*innen auch Links zu hintergründigen Quellen angeboten.

Das Online-Quiz bietet der interessierten Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich spielerisch an das Thema heranzuwagen. Die Vielzahl der Themen und Inhalte macht es zudem spannend und aktuell. Auch wenn sich einige Aussagen oder Fragen auf die Corona-Zeit beziehen, kann das Quiz auch heute noch genutzt und empfohlen werden. Hier darf man sich von dem Namen des Tools nicht täuschen lassen. Eine Stärke des Angebots ist die Idee des so genannten Immunitätswerts. Dieser könnte dazu führen, dass Nutzer*innen das Quiz so lange probieren, bis sie einen hohen Wert erhalten. Hierdurch erhalten sie weiteres Wissen und müssen sich mit verschiedenen Sachbeständen zum Thema auseinandersetzen. Eine weitere Stärke sind die Antwortkategorien „weiß nicht“ und „ist möglich“. Dadurch können auch Nutzer*innen das Quiz annehmen, die bisher wenig Wissen zum Thema haben oder die sich noch keine Meinung gebildet haben. Besonders positiv ist auch die Möglichkeit, sich am Ende des Quiz mit dem eigenen Antwortverhalten kritisch auseinanderzusetzen und sogar Hintergrundartikel zu lesen. Auch die Unterscheidung zwischen einer Version in leichter Sprache und einer Standardversion ist positiv zu bewerten.

Freilich hat das Tool auch einige Schwächen, die kurz benannt werden sollen. Zum einen können derzeit keine neuen Verschwörungserzählungen oder neues Wissen zum Thema aufgenommen werden, da die Betreiber*innen – die Kulturproduktion KBK e.V. – das Projekt beendet hat. Zum anderen könnte die sofortige Bewertung der Antworten mit dem Ampelsystem den einen oder die andere Nutzerin abschrecken, da man das Gefühl hat, dass nur bestimmte Antworten erwünscht sind oder aus Schamgefühl über das fehlende eigene Wissen zum Thema. Hier wäre eine Idee, dass jegliche Bewertungen und Kommentierungen des Antwortverhaltens der Nutzer*innen erst zum Ende des Quiz erfolgen. Eine weitere Idee könnte darin bestehen, dass Nutzer*innen zuerst nach Beendigung des Quiz eine allgemeine, wertschätzende Einschätzung zu ihrem Immunitätswert erhalten, bevor dann die einzelnen Antworten zu den zehn Fragen angesehen werden. Somit könnten die Nutzer*innen ermutigt werden, das Quiz erneut zu probieren. Aus Sicht des Autors kann das Tool aber sowohl dem einzelnen Nutzer als auch der pädagogischen Fachkraft empfohlen werden. Für Letztere gibt es auf der Webseite auch Lehrmaterial, was eine weitere Stärke des Angebotes ist. Wenig Nutzen dürfte das Tool bei jenen Nutzer*innen haben, die überzeugte Verschwörungsgläubige sind. Hier gilt allerdings der Grundsatz, dass solche Menschen pädagogisch mit Debunking-Angeboten nicht erreichbar sind.

Reportage

Recherche: So organisiert sich die neue Generation der Neonazis

Symbolbild

Die neuen rechtsextremen Jugendgruppierungen sind aktionsorientiert und haben hohes Mobilisierungspotenzial. Wer steckt dahinter, wie sind sie organisiert und warum sind sie so erfolgreich?

Von Luisa Gehring

Rechtsextreme Jugendgruppen erleben derzeit einen Zulauf, wie man ihn in der Geschichte der Bundesrepublik nur selten erlebt hat. Das Erschließen einer breiteren Gefolgschaft, bestehend aus Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, geht jedoch keinesfalls mit einer Mäßigung der Positionen und Aktionen einher. Junge Neonazis stören CSDs, greifen politische Gegner*innen an und verüben Anschläge auf Jugendzentren, queere Bars und alternative Wohnprojekte. Sie solidarisieren sich mit rechtsextremen Szenegrößen und präsentieren sich auf Social Media teilweise mit Klarnamen, ohne Vermummung, dafür mit Reichsflagge, White-Power-Geste, bei Wanderungen und Kampfsporttrainings. Die Bilder strotzen vor rechtsextremer Selbstermächtigung und der Inszenierung von Stärke.

Über Social Media erreichen die Accounts der einzelnen Ortsgruppen sowie der bundesweiten Dachorganisationen zehntausende Aufrufe. Die Algorithmen der Plattformen werden über die eigene Erschaffung von Trends und das abgestimmte Auftreten in „Guerilla-Strategie” gezielt genutzt, sodass in bestimmten Blasen eine Omnipräsenz rechtsextremer Inhalte entsteht. Die Kommentarspalten unter politischen Beiträgen sind voll mit blauen Herzen, Adler-Emojis und Deutschlandfahnen. TikTok, Instagram, Telegram, aber auch WhatsApp dienen den Jungnazis nicht nur als Schaufenster der eigenen Themen, sondern werden auch zur Nachwuchsrekrutierung eingesetzt. Online gerät man erschreckend leicht in die innersten Kreise der neuen Generation des deutschen Rechtsextremismus.

Ausdifferenzierung als Schutzschild

Junge Nationalisten, Deutsche Jugend Voran, Elblandrevolte, Der Störtrupp, Jung & Stark, Letzte Verteidigungswelle, Pforzheim Revolte, Deutsche Jugend Zuerst, Gersche Jugend, Nationalrevolutionäre Jugend, Sächsische Separatisten, Unitas Germanica, Reconquista 21, Chemnitz Revolte, Neue Deutsche Jugend – je länger man sich mit rechtsextremen Jugendorganisationen auseinandersetzt, desto mehr Namen findet man auch. Das Netzwerk der Jungnazis hat sich in den letzten Jahren stark ausdifferenziert. Diese Ausdifferenzierung ist aber nicht mit einer inhaltlichen Zersplitterung der jungen Rechtsextremen gleichzusetzen. Vielmehr ist sie eine szeneinterne Strategie, um die eigene Flexibilität zu erhöhen und sich gleichzeitig staatlichen Exekutivmaßnahmen leichter zu entziehen. Gerät eine Gruppierung ins Visier der Sicherheitsbehörden, dient die Ausdifferenzierung anderen als Schutzschild.

Die Aktionen und Inhalte der Gruppen sind hingegen kaum voneinander zu unterscheiden. Sie eint die Verherrlichung des Nationalsozialismus, die Abwertung von Menschen, die sie als „fremd“, „anders“ oder „schwach“ markieren, sowie eine offene Queer- und Transfeindlichkeit. Deutlich wird das insbesondere im gemeinsamen Auftreten gegen CSDs und Pride-Paraden. Mit dem #Stolzmonat wurde auf Social Media eine kollektive Gegenkampagne zum Pridemonth gefahren, die über gewaltvolle Störaktionen von CSDs und Angriffe auf queeren und trans* Menschen in die Tat umgesetzt wird.

Doch um welche Gruppen geht es konkret? Im Folgenden beleuchten wir einige der aktivsten Jungnazi-Gruppierungen, die sich durch eine aggressive Selbstdarstellung im Netz und auf der Straße bundesweit einen Namen gemacht haben.

Junge Nationalisten

Viele der Organisationen sind an rechtsextreme Parteien gebunden. Parteijugendorganisationen wie die Jungen Nationalisten (Die Heimat, früher NPD) fungieren für ihre Mutterparteien als erste Anlaufstelle für junge Neumitglieder und sollen die politischen Forderungen der Partei auf die Straße tragen. Im Sommer 2024 organisierte die Jugendorganisation der Heimat eine Sonnenwendfeier in Enschede. Dem Medienkollektiv Recherche Nord gelang es mit Drohnen und einer Hebebühne, die von der Öffentlichkeit abgeschirmte Veranstaltung zu dokumentieren. Die entstandenen Bilder zeigen Kinder und Jugendliche bei nationalsozialistischen Ritualen und Bräuchen. Auch 2025 feierten die jungen Neonazis die Sonnenwende. Laut Recherche Nord dienen Feste wie diese zur rechtsextremen Identitätsstiftung der jungen Neonazis, indem sie sich zum einen als „Volksgemeinschaft“ von der demokratischen Gesellschaft abgrenzen und zum anderen gemeinschaftsstiftende Rituale praktiziert werden.

Die rechtsextreme Jugendorganisation ist hierarchisch und autoritär organisiert. Auf Demonstrationen wird ein „anständiges Verhalten und Auftreten verlangt“, wie die Gruppe in ihrem Infokanal auf Telegram schreibt. Anwärter und Unterstützer werden aufgefordert, das „weinrote Jugendbewegung T-Hemd“ zu tragen, während Vollmitglieder das „weiße Rebellen T-Hemd“ anziehen dürfen. Die JN haben in ganz Deutschland Ortsgruppen, deren Namen sich zum Teil von dem der Dachorganisation unterscheiden, wie die „Holsteiner Bande“ oder die „Märkische Jugend“.

Elblandrevolte

Auch die im Raum Dresden aktive Elblandrevolte ist ein Ableger der JN. Sie beteiligte sich unter anderem an dem rechtsextremen Aufmarsch gegen den CSD in Bautzen 2024 – einer der größten rechtsextremen Gegenveranstaltungen der CSD-Saison 2024. Rund 1.000 Teilnehmende standen fast 700 Rechtsextremen gegenüber. Der CSD in Bautzen wurde zum Selbstermächtigungsmoment der jungen Rechtsextremen. Danach ist ein bundesweiter Anstieg rechtsextremer Störaktionen bei CSDs nachweisbar, wie das Autor*innenkollektiv „Feministische Intervention” in einer Analyse auf NSU Watch dokumentiert. Mitglieder der Elblandrevolte werden auch für die Angriffe gegen den SPD-Europapolitiker Matthias Ecke im Mai 2024 und die Linken-Politikerin Samara Schrenk im Dezember 2024 verantwortlich gemacht.

Einer der Täter und führendes Mitglied der Elblandrevolte, der 19-Jährige Finley Pügner, sitzt mittlerweile im Gefängnis. Pügner wurde während des Angriffs gegen Samara Schrenk die Sturmhaube vom Kopf gezogen und der Neonazi konnte identifiziert werden. Ein Video von Spiegel-TV zeigt ihn bereits einige Wochen vor dem Angriff dabei, wie er der Linken-Politikerin am Rande einer Montagsdemonstration in Görlitz droht, ihr mal „eine reinzuschießen“: „Das wird wie ein zweites Weihnachten für dich, du Schlampe.“ In Reaktion auf die Inhaftierung von Pügner starteten die JN die Kampagne „Freiheit für Finley“, über die sie sich mit Pügner solidarisieren und zu Spenden und Demonstrationen aufrufen.

Jung & Stark

Schulter an Schulter demonstrierten die Jungen Nationalisten im Juli 2025 mehrmals mit der Jugendorganisation „Jung & Stark” bei der von der Heimat angemeldeten Demonstration „Für eine würdige Grabstätte für Siegfried Borchardt“ in Münster. Borchardt galt als eine Schlüsselfigur der nordrhein-westfälischen Neonazi-Szene. Er war Mitgründer der inzwischen verbotenen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) und zog 2014 als Vertreter der Partei „Die Rechte“ in den Dortmunder Stadtrat ein. Innerhalb der rechtsextremen Szene wird Borchardt bis heute als Märtyrer verehrt. Auch nach seinem Tod im Jahr 2021 wird er in sozialen Medien glorifiziert – zunehmend auch von der jüngeren Generation.

Der rechtsextremen Jugendorganisation Jung & Stark wird vom Verfassungsschutz ein Personenpotenzial im mittleren dreistelligen Bereich zugesprochen. Wie auch die JN ist J&S bundesweit aktiv und organisiert Wanderausflüge, Rechtsrockkonzerte, Fußballturniere oder Kampfsporttrainings. Wie gewaltaffin die Gruppierung ist, zeigte die Instagram-Story eines Mitglieds von Jung & Stark NRW. Selbstbewusst zeigt sich der junge Mann beim Schusswaffentraining in der Natur.

Nationalrevolutionäre Jugend

Die Nationalrevolutionäre Jugend ist nach Angaben der rechtsextremen Partei III. Weg keine eigenständige Jugendorganisation, wie die JN es für die Heimat ist. Sie ist lediglich eine Arbeitsgemeinschaft der Partei. Nach außen hin gibt sich die NRJ gewaltfrei und fungiert als Anwerbeplattform junger Menschen für die Parteiarbeit. Besonders im Raum Berlin undBrandenburg treten ihre Mitglieder jedoch militant auf und führen gewaltsame Aktionen gegen politische Gegner durch. So sind auch Mitglieder der NRJ für den Angriff auf mehrere Antifaschist*innen am Berliner Bahnhof Ostkreuz 2024 verantwortlich. 15 bis 20 vermummte und mit Knüppeln, Schlagstöcken und Pfefferspray bewaffnete Neonazis griffen am helllichten Tag Anreisende einer linken Demonstration an und verletzten sie schwer.

Deutsche Jugend Voran

Ebenfalls vor allem im Berliner Umland aktiv ist „Deutsche Jugend Voran” (DJV). Ortsgruppen existieren aber in fast allen Bundesländern. In Berlin wurde ihr Anführer Julian M. wegen mehreren Gewaltdelikten zu drei Jahren Haft verurteilt. Gemeinsam mit anderen Nqachwuchsnazis verprügelte er einen Mann in Antifa-Shirt und nötigte ihn, das Kleidungsstück auszuziehen. Später posierten die Neonazis mit dem geraubten T-Shirt in einer Kneipe für ein Foto, welches sie in den sozialen Netzwerken verbreiteten. Ende Juli 2025 wurden weitere Wohnungen von DJV-Mitgliedern in Berlin durchsucht. Die DJV versuchte auch den CSD in Berlin 2025 zu stören. Angemeldet zu Gegendemo waren 400 Teilnehmende – lediglich 40 erschienen. Selbst Anführer Julian M. blieb dieser Blamage fern und zog es vor, zu Hause zu bleiben.

Der Störtrupp

Der Störtrupp ist ein Sammelbecken für sowohl erfahrene rechtsextreme Kader teilweise aus den Reihen der berühmt-berüchtigten Dortmunder Neonazi-Szene sowie der Partei Die Rechte, als auch für Jungnazis. In den vier Regionalgruppen Nord, Süd, West und Ost organisieren sich teils militante Neonazis. Dem ZDF gelang es, mehr als ein halbes Jahr die Nachrichten der Organisation mitzulesen. Auf WhatsApp schreiben sich die Mitglieder rassistische, antifeministische, antisemitische und queerfeindliche Nachrichten. Auch Fotos von Messern, Waffen und Hakenkreuzfahnen werden ausgetauscht. Der Störtrupp tritt vor allem bei rechtsextremen Gegendemonstrationen zu CSDs in Erscheinung.

Junge Alternative

Die ehemalige Jugendorganisation der rechtsextremen AfD verzeichnete zuletzt 4.300 Mitglieder und führte Landesverbände in allen 16 Bundesländern. Nach ihrer Einstufung als gesichert rechtsextrem löste sich die JA in Reaktion auf einen Parteibeschluss zum 1. Februar 2025 selbst auf. Am 29./30. November 2025 wird die Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation in Gießen (Hessen) geplant. Das neue Logo wurde bereits vorgestellt: Die Umrisse eines AfD-blauen Adlers, darunter das Logo der Partei und der neue Name der Jugendorganisation. Zur Auswahl stehen „Patriotische Jugend“, „Junge Patrioten“, „Deutschlandjugend“ und „Parteijugend“. Spannend wird sein, ob die bekannten rechtsextremen Jugendorganisation auf einer Unvereinbarkeitsliste stehen werden – und ob die neue AfD-Jugendorganisation mit der Beliebtheit von JN, DJV, NRJ, J&S und Co mithalten kann.

Frauen und Mädchen als Stabilisatorinnen

Die rechtsextreme Inszenierung von Stärke und Selbstermächtigung dieser Gruppierungen spricht vor allem männlich sozialisierte Jugendliche an. In diesem Ungleichgewicht sehen Jugendorganisationen die Gefahr, ihre Mitglieder nicht vollumfänglich an die rechtsextremen Strukturen binden zu können. Viele beginnen daher, ihre Ansprache anzupassen, „Mädelbunde“ zu gründen und zu „Mädeltagen“ einzuladen. Mädchen und Frauen nehmen im Rechtsextremismus eine ambivalente Position ein. Sie balancieren zwischen rebellischem Aktionismus und fürsorglicher Erhaltung der „Volksgemeinschaft“.

Zwischen TikTok und Tatbereitschaft

Die aktuelle Dynamik im rechtsextremen Jugendmilieu stellt eine ernstzunehmende Herausforderung für Zivilgesellschaft, Politik und Sicherheitsbehörden dar. Die Strategien dieser Gruppierungen sind nicht neu, aber in ihrer Form zeitgemäßer und anschlussfähiger denn je: Sie kombinieren digitale Reichweite mit lokaler Verankerung, Lifestyle-Ästhetik mit Gewaltbereitschaft, ideologische Geschlossenheit mit organisatorischer Vielfalt. Die Szene spricht gezielt junge Menschen an, die auf der Suche nach Orientierung, Zugehörigkeit oder Macht sind – und findet sie in einem gesellschaftlichen Klima, das von Krisen, Unsicherheit und Entsolidarisierung geprägt ist.

Ein wirksamer Umgang mit dieser Entwicklung erfordert mehr als nur polizeiliche Repression oder das Monitoring von Kanälen. Die extreme Rechte formiert sich neu. Es liegt an uns, nicht nur zuzusehen.

Gefördertes Projekt

„Wir haben kein Bock auf Nazis!“ – Festival gegen Rechtsextremismus im ländlichen Rheinland-Pfalz

„Kein Bock auf Nazis Festival Kusel“

Im Landkreis Kusel sind Rassismus und die Bedrohung durch rechtsextreme Akteur*innen seit Jahren Realität. Ein Festival schafft seit 2006 Raum für Menschen, die gemeinsam zeigen: „Wir haben kein Bock auf Nazis!“ Gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung kamen in diesem Jahr rund 1.000 Teilnehmende zusammen, um sich zu vernetzen, zu informieren und gemeinsam ein solidarisches Miteinander zu feiern.

Von Luisa Gerdsmeyer

Rund 1.000 Menschen versammeln sich am Wochenende vom 4. bis 7. Juli 2025 auf der Burg Lichtenberg in dem kleinen Ort Thallichtenberg im rheinland-pfälzischen Landkreis Kusel. Gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung findet hier das „Kein Bock auf Nazis Festival Kusel“ statt – ein Festival, das mehr ist als eine Kulturveranstaltung. „Wir wollen einen Raum schaffen, in dem alle so sein und sich wohlfühlen können, wie sie sind. Eine Auszeit aus einem Alltag, der für viele, gerade in unserer ländlichen Gegend, geprägt ist von Alltagsrassismus und der Normalisierung von Rechtsextremismus“, erzählt Basti, der das Festival gemeinsam mit seinen Mitstreiter*innen organisiert. „Viel zu oft reagieren die Leute mit Schulterzucken, Verharmlosung oder Wegschauen auf das Erstarken von Rechtsextremen. Wir wollen dem mit dem Festival etwas entgegensetzen und zeigen, wie viele Menschen es gibt, die keinen Bock auf Nazis haben, ob in den Parlamenten oder beim Dorffest am Wochenende. Gleichzeitig schaffen wir einen Raum, in dem Menschen zusammenkommen können, die das auch so sehen und in ihrem antifaschistischen Engagement gestärkt werden.“

Der Beginn des Festivals vor fast 20 Jahren

Die Geschichte des Festivals beginnt im Jahr 2006. Damals planten Basti und einige Freund*innen eine Party für alle, die sich den rechtsextremen Strukturen in der Gegend entgegenstellen wollten. Der Veranstaltungsort sollte eine kleine in Hütte im Wald in einem Dorf bei Kusel sein. Doch bei der Planung wurde deutlich, wie präsent die Bedrohung durch örtliche Neonazis war. Wegen Sicherheitsbedenken untersagte damals die Kreisverwaltung die Party in der Hütte und schlug einen alternativen Standort vor: die Burg Lichtenberg. „Seit 2006 findet dort das ‚Kein Bock auf Nazis Festival‘ – mit einigen wenigen Ausnahmen – jährlich statt. Mal in kleinerem Rahmen im Mehrgenerationenhaus in Kusel, mal mit tausend Besucher*innen auf der Burg. Zweimal haben wir das Festival von Kusel nach Zweibrücken verlegt, um dort gegen die Neonazi-Strukturen, wie den ‚Nationalen Widerstand Zweibrücken‘, zu protestieren“, erzählt Basti. In den letzten Jahren ist das Organisations-Team, ebenso wie das Festival an sich, gewachsen. Auch Engagierte aus anderen Regionen, z. B. aus Gotha und Frankfurt am Main, haben sich angeschlossen und bringen ihre Erfahrungen und ihr Organisationstalent ein.

Drohungen gegen Engagierte und rassistische Hetze gegen Geflüchtete

Wie notwendig und wichtig das Festival ist, zeigt die Situation im Landkreis Kusel deutlich. „Wer sich hier, wie wir, antifaschistisch engagiert, steht unter Beobachtung und wird dafür angegriffen“, so Basti. „Wir haben immer wieder rechtsextreme Aufkleber an der Tür, beleidigende oder bedrohliche Briefe im Briefkasten oder bekommen Morddrohungen per E-Mail. Auch auf offener Straße gibt es immer wieder Anfeindungen und Beleidigungen.“ Die Bedrohungslage hat sich für die Engagierten in den letzten Jahren verschärft. Das liegt nach Bastis Einschätzung auch an der Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Klimas: „Die Dorfnazis, die ich schon seit vielen Jahren kenne, sind lange Zeit nicht so sichtbar und selbstbewusst aufgetreten. Doch durch das gesellschaftliche Klima haben sie ein Gefühl von Rückenwind und trauen sich, wieder mehr in die Offensive zu gehen.“ Auch das ein Effekt der Normalisierung der AfD. Besorgniserregend ist auch die Entwicklung rund um die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“. Unter dem Namen „Pfalzwege“ versucht sie, in der Region Strukturen aufzubauen. „Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie versuchen, auch in Kusel Fuß zu fassen“, so Bastis Einschätzung.

Besonders beschäftigt die Engagierten auch die rassistische Stimmung gegenüber Geflüchteten in Kusel. „In den Jahren 2015 und 2016 waren hier Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten merklich spürbar. Davon ist heute kaum noch etwas übrig. Die Stimmung in der Stadt gegenüber den Bewohner*innen der Kuseler Erstaufnahmeeinrichtung ist feindselig und stark rassistisch aufgeladen“, berichtet Basti. Vorangetrieben wird das auch von der rassistischen Hetze der rechtsextremen AfD, die in Kusel sehr aktiv ist. Basti erinnert sich an zwei große Demonstrationen vor knapp zwei Jahren, bei denen gegen die Unterbringung von Geflüchteten in der Stadt demonstriert wurde. „Da wurde deutlich, wie wenig Probleme auch bürgerliche Milieus oder lokale Unternehmer*innen damit haben, mit der AfD und anderen offen rechtsextremen Gruppen wie dem III. Weg auf die Straße zu gehen.“ Für Basti und das Team des Festivals ist daher klar: „Antifaschistisches Engagement bedeutet für uns immer auch Solidarität mit Geflüchteten, gerade hier, wo Rassismus oft unwidersprochen bleibt.“

Musik, Vorträge und Vernetzung beim „Kein Bock auf Nazis Festival“

Beim „Kein Bock auf Nazis Festival“ entsteht für ein Wochenende ein Gegenentwurf zur rechtsextremen Landnahme. Hier wird ein solidarisches Miteinander gefeiert und ein Raum für Vernetzung und Austausch über politische Themen geschaffen. Auf der großen Bühne spielten Freitagabend und den ganzen Samstag Musiker*innen und Bands, vor allem aus den Bereichen Punk, Rock und Rap, die mit ihrer Musik das Festivalmotto tragen und sich deutlich gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit positionieren. Musiker*innen, die eine Haltung haben. „Wir freuen uns, dass das Line-up – ebenso wie unser Orga-Team selbst – im Laufe der letzten Jahre diverser wurde und auch auf der Bühne unterschiedliche gesellschaftliche Perspektiven abgebildet werden“, erzählt Basti. Mit dabei waren in diesem Jahr beispielsweise die Rapperin Lena Stoehrfaktor, das Rap-Duo Rahsa feat. Finna oder die Hardcore Punk Band „Defiance HC“.

„Ein besonderes Highlight war für mich der Auftritt von ‚Waving the Guns‘ am Samstagabend“, erzählt Leonie, eine Besucherin des Festivals. „Die Stimmung war super und es war ein tolles Gefühl, gemeinsam mit so vielen Menschen zu feiern, aber auch die Wut über die politischen Verhältnisse und die Bedrohung von Rechts, die viele von uns in ihrem Alltag ständig beschäftigt, herauszuschreien und zu merken, dass wir damit alle nicht alleine sind. In einem der Lieder heißt es in der Hook ‚wie kann man in diesen Zeiten nur tanzen? ‘  Die Zeiten sind bedrückend und oft auch beängstigend. Trotzdem sind wir hier und tanzen und feiern zusammen. Das macht Mut.“

Festivalgelände

Neben dem musikalischen Programm fanden auch Lesungen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen statt – in diesem Jahr unter anderem zur Punk-Szene aus FLINTA*-Perspektive, zu den Erfahrungen einer Aktivistin in der zivilen Seenotrettung oder zur völkischen Ideologie der rechtsesoterischen Anastasia-Bewegung. Bei einem Vortrag zu „Jugendarbeit und Antifaschismus“ berichtete Tobias Burdukat vom Projekt der Alten Spitzenfabrik im sächsischen Grimma, das einen Raum für selbstbestimmtes Engagement von Jugendlichen jenseits der rechten Hegemonie geschaffen hat. Im Anschluss entstand eine angeregte Debatte über Parallelen und Unterschiede in den Herausforderungen und Handlungsstrategien im Engagement gegen Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland. Dabei wurde auch diskutiert, wie überregionale Solidarität konkret gelebt werden kann.

Eine Ausstellung auf dem Festivalgelände informierte über personelle, ideologische und organisationale Kontinuitäten rechtsextremer Ideologien in Deutschland – vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Ergänzt wurde das Programm durch zahlreiche Infostände von Initiativen aus Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Besucher*innen konnten sich über deren Arbeit informieren, vernetzen und Möglichkeiten kennenlernen, um selber aktiv zu werden.

„Wir sind viele!“

Für Basti und die anderen Engagierten steht fest, dass das Festival auch 2026 stattfinden wird. Im Herbst starten bereits die Vorbereitungen für das nächste Jahr. „Die gesellschaftlichen Entwicklungen, denen wir uns mit dem Festival entgegenstellen, gehen nicht weg, sondern sie werden eher immer größer“, meint Basti. „Umso wichtiger ist es, dass Menschen sich zusammentun und nicht wegschauen, sondern Position beziehen. Ich will, dass die Leute sich hier sicher fühlen können. Und dass sie wissen: Wir sind nicht alleine. Wir sind viele. Und wir haben keinen Bock auf Nazis.“

Neuerscheinung

Wie sicher ist unsere Demokratiearbeit?

Rechtsextremismus wächst – und mit ihm das Selbstvertrauen der extremen Rechten. Diese Entwicklung führt zu vermehrten Angriffen auf die demokratische Zivilgesellschaft, die sich aktiv gegen Rechtsextremismus engagiert. Das Projekt BEWARE hat genau hingeschaut: In Interviews und einer bundesweiten Befragung schildern über 500 Engagierte ihre Erfahrungen. Die Ergebnisse sind alarmierend – und ein dringender Weckruf für Politik und Gesellschaft.

Engagierte Menschen, Vereine und Bündnisse stehen dabei oft unmittelbar an der Front und tragen ein hohes persönliches Risiko. Sie werden schnell zu Zielscheibe, gerade weil es an Schutzmaßnahmen.  Die Angriffe gegen sie sind vielfältig und richten sich auch gegen Vielfalt und damit die offene Gesellschaft: strategische Attacken auf Träger, Vereine und Bündnisse, aber auch spontane Gewaltausübungen gegen Einzelpersonen oder queere Menschen, wie die Angriffe auf CSDs zeigen. Der Druck auf die Zivilgesellschaft ist enorm und droht, sie zu zerbrechen. Aktuelle Beispiele wie Spremberg verdeutlichen die Lage: Die Bürgermeisterin der Stadt hat in einem „Brandbrief“ auf die rechtsextreme Raumnahme hingewiesen und damit die Bedrohungslage öffentlich gemacht. Die zunehmende Gewalt und Bedrohung gegen Engagierte stellen eine ernsthafte Herausforderung für unsere Demokratie dar. Es ist wichtig, diese Entwicklungen sichtbar zu machen und den Schutz der Zivilgesellschaft zu stärken.

Die Strategie von rechtsextremen Akteuren – wie der AfD und weiterer aus dem klassisch rechtsextremem und neurechten Spektrum – ist es, die Demokratiearbeit der Zivilgesellschaft vollends abzuschaffen.

„Das Projekt BEWARE: Bedrohte Demokratieprojekte wappnen und resilient machen hat im Zeitraum von Juli bis Dezember 2023 bundesweit zwanzig Personen aus der beruflichen und aktivistischen Demokratiearbeit gegen Rechtsextremismus zu ihren Wahrnehmungen, Einordnungen und Bearbeitungen von Bedrohungen befragt. Darauf aufbauend hat BEWARE im April 2024 eine quantitative Online-Befragung durchgeführt, an der über 500 Personen teilgenommen haben, die sich in zivilgesellschaftlichen Projekten, Gruppierungen oder Bürgerbündnissen für die Demokratie engagieren.“[1]

Die Amadeu Antonio Stiftung hat gemeinsam mit BEWARE aufbauend auf den Ergebnissen der qualitativen und quantitativen Befragung an einem Praxistool und einer Begleitbroschüre wesentlich mitgewirkt. Mithilfe des Tools können potenziell Betroffene miteinander ins Gespräch kommen, unterschiedliche und gemeinsame Bedarfe erarbeiten, Dilemmata aushandeln und für ihr Setting passende Maßnahmen ableiten. Für Hintergrundinformationen zum Thema steht eine Begleitbroschüre zur Verfügung.

Das Praxistool zur bedarfsorientierten Strategieentwicklung für den Umgang mit Bedrohungen findet ihr hier: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/publikationen/beware/ 

BEWARE (2025): Das Praxistool zur bedarfsorientierten Strategieentwicklung für den Umgang mit Bedrohungen. Von BEWARE entwickelt und mit der Amadeu Antonio Stiftung umgesetzt.

Zentrale Ergebnisse aus dem Kurzbericht im Überblick

  • 79 % der Befragten haben bereits (ggf. strafrechtlich relevante Formen von) Bedrohung erlebt, davon 57 % im letzten Jahr. 8 % der Befragten wurden mit dem Tod bedroht.
  • Wie stark Bedrohungen verfangen, hängt auch vom Umfeld ab – in Räumen, in denen demokratische Zivilgesellschaft und Politik den Akteur:innen der extremen Rechten wenig entgegensetzen, fühlen sich Menschen stärker bedroht.
  • Besonders gefährdet sind die Akteure, die als „links(extrem)“ oder „Störenfriede“ markiert werden. Diese Markierungen kann beliebig sein und dient der Delegitimierung.
  • Für Personen aus vulnerablen sozialen Gruppen, z. B. von Rassismus oder (Hetero-) Sexismus Betroffene sind Bedrohungen eine besondere Herausforderung. Gleiches gilt für Jugendliche und junge Erwachsene sowie engagierte Einzelpersonen. Vor allem Frauen berichten von Selbstzweifeln und stressbezogenen Belastungen.
  • Ost- und Westdeutsche berichten insgesamt gleich häufig über Bedrohung. Engagierte in Ostdeutschland sehen sich jedoch besonders häufig körperlicher Gewalt, Sachbeschädigung und Raumnahmen (z. B. durch offensives Zeigen rechtsextremer Präsenz oder Störung von Veranstaltungen) ausgesetzt. Sie sind außerdem häufiger von als bedrohlich wahrgenommenen parlamentarischen Anfragen betroffen. Sie befürchten zudem eher, mit dem Zugewinn der AfD ihre Arbeit einschränken oder gar einstellen zu müssen. Mehr als 14% von ihnen denken oft darüber nach, ihre Tätigkeit zu wechseln, 7% überlegen, ihre Demokratiearbeit zu beenden.
  • Engagierte verfügen über Wissen und Erfahrungen im Umgang mit Bedrohung. Die gilt vor allem für gewaltbezogene Angriffe, weniger für politische Interventionen.
  • Betroffene passen sich an die Bedrohung an, indem sie z. B. potentiell gefährliche Situationen oder Plätze meiden, mit gravierenden Einschnitten für ihre persönliche Lebensgestaltung.
  • Ein Großteil (71 %) der Befragten nimmt die Bedrohungen aber auch als Ermutigung für ihr Engagement, 42 % intensivieren sogar ihre politische Arbeit.
  • Netzwerke sind wichtig. Betroffene können sich vor allem auf Unterstützung durch ihre beruflichen und privaten Netzwerke verlassen. Im direkten Umfeld und im persönlichen Kontakt mit Mitengagierten, Kolleg:innen und Arbeitgebern erleben Engagierte überwiegend hilfreichen Beistand. Weniger können sie auf die Solidarität der Bevölkerung und Kommunen zählen. Die Bedrohungserwartung wird durch den erlebten Mangel an Unterstützung verstärkt.
  • Austausch über und die Entwicklung von Strategien für den Umgang mit Bedrohung brauchen ausreichend Ressourcen.

 

Den gesamten Kurzbericht zur Umfrage findet ihr hier: https://www.hs-niederrhein.de/fileadmin/dateien/Institute_und_Kompetenzzentren/SO.CON/Publikationen_und_Downloads/BEWARE_Bedrohung_der_zivilgesellschaftlichen_Demokratiearbeit_Kurzbericht_20240903.pdf

[1] Leber, Tina/Mertens, Fabian/Küpper, Beate (2024): Bedrohung der zivilgesellschaftlichen Demokratiearbeit. Kurzbericht des Projekts BEWARE: Bedrohte Demokratieprojekte wappnen und resilient machen. BMBF Förderlinie „Aktuelle und historische Dynamiken von Rechtsextremismus und Rassismus“.

Aktionswochen gegen Antisemitismus

[tacheles_4]: Wie heute im Haus der Wannsee-Konferenz erinnert wird

Wo 1942 die „Endlösung der Judenfrage“ organisiert wurde, treffen nach dem Zweiten Weltkrieg jüdische US-Soldaten auf gefangene NS-Funktionäre. Eine neue Ausstellung geht auf Spurensuche.

von Eike Stegen (Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz)

Im Frühjahr 1945 ist die SS im Berliner Ortsteil Wannsee stark präsent. Nicht nur, weil Dienststellen des SS-Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) hierher ausgelagert waren – auch legen mehrere Quellen nah, dass im Februar und April 1945 Gespräche zwischen dem schwedischen Diplomaten Graf Folke Bernadotte, Walter Schellenberg (Chef des Auslandsgeheimdienstes) und Ernst Kaltenbrunner (Chef des Reichssicherheitshauptamt, RSHA) im heutigen Haus der Wannsee-Konferenz stattgefunden haben. Kaltenbrunner war der Nachfolger Reinhard Heydrichs, der 1942 von tschechischen Widerstandskämpfern getötet wurde.

Ziel der Gespräche war die Verhandlung über die Rettungsaktion „Weiße Busse”, die tausenden dänischen und norwegischen KZ-Insass*innen durch eine Ausreise nach Skandinavien das Leben rettete.

Ende April 1945 übernahmen sowjetische Truppen letztendlich Wannsee, das entlang dem Kleinen und Großem Wannsee im äußersten Westen Berlins liegt. Während es am Kleinen Wannsee zum Beschuss von Häusern kam, blieben die Häuser am Großen Wannsee weitgehend unbeschadet. Im ehemaligen SS-Gästehaus am Großen Wannsee, das man heute als Wannsee-Villa und zugleich Ort der Wannsee-Konferenz kennt, wurden nach Kriegsende zunächst sowjetische Mannschaften untergebracht. Im Juli 1945 wurde die Villa an US-amerikanische Soldaten übergeben, die in ihren Besatzungssektor Berlins einrückten.

Heute ist das Haus Gedenk- und Bildungsstätte. Neben einer detaillierten Dauerausstellung zur Wannsee-Konferenz und Wechselausstellungen bietet die Stätte Seminare, Fortbildungen und Tagungen.  Die öffentlich zugängliche Joseph Wulf Bibliothek bietet zu den Themen des Hauses Forschungsliteratur, historische Quellen, Berichte von Überlebenden, Gedenkbücher, regionalgeschichtliche Untersuchungen und pädagogische Materialien.

Doch es gibt noch weitere Stationen in der Geschichte der Wannsee-Villa. Vor allem neue Bild- und Schriftquellen zeichnen ein neues Bild des Hauses in der direkten Nachkriegszeit.
Im Frühjahr 2022 wurde die Gedenk- und Bildungsstätte aus den USA kontaktiert, von den Geschwistern Michael, Mark und Kathryn Traugott. Sie besaßen von ihren Eltern Fotos und Briefe, die im Haus der Wannsee-Konferenz im Sommer 1945 aufgenommen bzw. geschrieben wurden. Die Quellen ergänzen das Wissen um die Wannsee-Villa auf bemerkenswerte Weise.

Ritchie Boys in Wannsee-Villa

Fritz Julius Traugott wird 1919 in Hamburg in eine jüdische Familie geboren. 1938 kann er vor der antisemitischen Verfolgung in die USA fliehen. Seinem Bruder Wolfgang und den Eltern Moritz und Therese gelingt ebenfalls die Emigration in die Vereinigten Staaten. Schwester Hedwig überlebt mit ihrem nichtjüdischen Mann und den beiden gemeinsamen Töchtern in Hamburg die Shoah.

Fritz Traugott wird US-amerikanischer Staatsbürger und Soldat. Mit seiner Einheit, der „Mobile Field Interrogation Unit #2”, sogenannte Ritchie Boys, findet er in Berlin ausgerechnet im ehemaligen Gästehaus der SS, dem (da noch nicht bekannten) Ort der Wannsee-Konferenz, von Juli bis September 1945 seine Unterkunft.

Ritchie Boys sind US-Soldaten, die selbst oder deren Familien noch vor dem Krieg aus Deutschland geflohen waren und wegen ihrer muttersprachlichen Deutschkenntnisse für Verhöre von Kriegsgefangenen und Kriegsverbrechern ausgebildet wurden. Benannt sind sie nach Camp Ritchie im US-Bundestaat Maryland, wo die Ausbildung stattfindet. Seiner Frau Lucia schickt Fritz fast täglich Fotos und Briefe aus der Wannsee-Villa, unter anderem auf Papier der „Adjutantur des Führers“, das er in den Ruinen der Reichskanzlei findet. Die erstmals veröffentlichten Briefe sowie die Fotografien, die Fritz Traugott vor Ort macht, waren Kern der Sonderaustellung „On the Roof of Himmler’s Guesthouse. Die U.S. Army 1945 in Wannsee“.

Mehrere ehemalige Soldaten und Funktionäre, nun Kriegsgefangene, müssen sich um die Wannsee-Villa und um die hier stationierten Ritchie Boys kümmern. Fritz Traugott fotografiert sie, und einen können wir identifizieren: Friedrich Wilhelm Euler, Nationalsozialist und antisemitischer Genealoge. In der NS-Parteizentrale und später im Reichsinnenministerium erforschte er, wie in Familienstammbäumen jüdische Vorfahren sichtbar gemacht werden konnten. Eine wichtige Vorarbeit für die rassistischen Nürnberger Gesetze 1935: Waren vier oder drei Großeltern einer Person Mitglied einer jüdischen Gemeinde, hatte man es laut Gesetz mit einem „Volljuden“ zu tun; bei zwei jüdischen Großeltern mit einem „Halbjuden“, bei einem jüdischen Großelternteil mit einem „Vierteljuden“.
Als Adolf Eichmann für die Besprechung am 20. Januar 1942 ein fünfzehnseitiges Besprechungsprotokoll verfasst (einer Besprechung, bei der es nun nicht mehr nur um rassistische Gesetzes- und Statusfragen im Deutschen Reich ging, sondern um die Verschleppung in den Tod), da stellte er umfangreich, auf vier der fünfzehn Seiten, die rassistisch-biologistische NS-Definition eines „Juden“ vor, basierend auf der Definition der Nürnberger Gesetz und damit wiederum basierend auf Eulers Forschungsarbeit und Datensammlung.

Dass Ritchie Boys im Haus der Wannsee-Konferenz das Wissen eines antisemitischen Stammbaumforschers, der jetzt deren Gefangener ist, anzapfen können, um sich auf ihre Verhöre von NS-Kriegsverbrechern vorzubereiten – eine „Ironie der Geschichte“.

In welche Verhöre der US-Soldat Fritz Traugott eingebunden ist, weiß man nicht. Von der Signifikanz des Ortes, an dem Traugott und seine Einheit untergebracht sind, wissen die Soldaten zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Selbst die Teilnehmer der Konferenz in der Villa vom 20. Januar 1942, die den Mai 1945 überleben, werden zu einer „Wannsee-Konferenz“ zunächst nicht befragt. Die New York Times berichtet zwar bereits im August 1945 über ein Einladungsschreiben zu einer Besprechung zentraler Dienststellen der Reichsregierung über die „Endlösung der Judenfrage“, aber Eichmanns Besprechungsprotokoll wird erst 1947 gefunden.

In den Verhören zur Vorbereitung des sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess, in dem ab November 1947 Regierungsvertreter und damit auch Teilnehmer und Mitwisser der „Wannsee-Konferenz“ in Nürnberg vor Gericht stehen, werden Beschuldigte mit dem Protokoll konfrontiert. Niemand leistet einen Beitrag zur Aufklärung über die Besprechung am Wannsee, niemand trägt in irgendeiner Form etwas Erhellendes bei. Im Gegenteil: Die Beschuldigten lügen, sie lenken von sich ab, sie machen vermeintliche Erinnerungslücken geltend.

Auch dieser Gegensatz tritt durch die neuen Quellen zur Präsenz der Ritchie Boys in der Villa deutlich zutage: Hier die in Camp Ritchie Geschulten, die sich mit Ernst und Ausdauer ihrer Aufgabe einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung von Völkermord und bisher ungekannten Dimensionen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit widmen; dort die in Selbstrechtfertigung und Schuldabwehr unnahbaren Täter.

Obwohl dem Haus durch die Ritchie Boys, wie wir nun wissen, ein recht politischer Start ins Nachkriegs-Berlin beschieden war, ist es jahrzehntelang nicht gemäß seiner historisch-politischen Bedeutung genutzt worden. Zunächst wird fünf Jahre lang, ab 1948, mit dem August-Bebel-Institut immerhin eine Nachnutzerin einziehen, die sich der (antifaschistischen, sozialdemokratischen) politischen Erwachsenenbildung verschrieben hat, aber ab 1953 ist das Haus das Schullandheim für den West-Berliner Bezirk Neukölln. Mit Joseph Wulf gibt es einen Auschwitz-Überlebenden, der in den 60er und 70er Jahren eine andere Nutzung fordert: Er will aus dem Haus ein Dokumentations- und Forschungszentrum zu NS-Verbrechen machen, das auch nach den Folgen der Diktatur fragen soll. Davon will man nichts wissen, obwohl Wulf einen beachtlichen Kreis von Unterstützer*innen für seine Idee gewinnen kann.

Dass er mit seiner Idee marginalisiert bleibt, ist auch ein Grund für seine wachsende Verzweiflung. Man könne sich in Deutschland totdokumentieren, so schreibt Joseph an seinen Sohn, kurz bevor er sich im Oktober 1974 das Leben nimmt, es könne in Westdeutschland die demokratischste Regierung sein – die Massenmörder würden frei herumlaufen, ihre Häuschen bauen und Blumen züchten. Leider eine treffende Zustandsbeschreibung 1974 und darüber hinaus. Erst 1992, zum 50. Jahrestag der Besprechung am Wannsee, konnte die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz eröffnet werden.

Eike Stegen ist Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Er schreibt über bislang unbekannte Quellen US-amerikanischer Soldaten, die ein neues Licht auf die Wannsee-Villa in der unmittelbaren Nachkriegszeit werfen.

5 gute Gründe, einen CSD zu besuchen

Symbolbild, Regenbogenflagge

2025 gibt es mehr CSDs und Pride-Veranstaltungen als je zuvor. Gleichzeitig wird die rechtsextreme Mobilisierung dagegen immer stärker. Was können wir dagegen tun?

Von Lorenz Blumenthaler

Dieses Jahr gibt es so viele CSDs und Prides wie noch nie! An Orten, wo es noch nie zuvor einen CSD gab, insbesondere im ländlichen Raum. Ein wichtiges Zeichen für alle, die von Queer- und Transfeindlichkeit bedroht werden. Eigentlich ein Grund zur Freude.

Doch gleichzeitig sind queere Sichtbarkeit und queere Rechte so bedroht wie nie, denn Rechtsextreme mobilisieren nach wie vor. Allein in diesem Jahr kam es bisher zu mehr als 20 Gegendemonstrationen, Angriffen und Störungen von CSDs.

Wir reagieren darauf und konnten mit dem Regenbogenschutzfonds bereits 41 CSDs unterstützen. Vor allem mit Sicherheitsmaßnahmen, denn die braucht es nach wie vor.

Bis Oktober gibt es noch über 120 CSDs. Egal ob unmittelbar betroffen oder nicht, ob queer oder hetero – zeigt euch solidarisch und fahrt hin! Nach Chemnitz, Landsberg, Bayreuth, Neubrandenburg, Bautzen oder ins Allgäu! Wer die Demokratie verteidigen will, muss sich mit CSDs solidarisieren.

Warum greifen Rechtsextreme CSDs an?

Um die rechtsextreme Mobilisierung zu verstehen, muss man sich bewusst machen, worum es bei Pride-Veranstaltungen geht:

Rechtsextreme Gruppierungen inszenieren sich zunehmend als „Verteidiger traditioneller Werte“. Die AfD hat das Potenzial dieses “Kulturkampf” Themas früh erkannt und machte mit dem Stolzmonat früh gegen Queere Sichtbarkeit im digitalen Raum Mobil.  Der Protest gegen CSD-Veranstaltungen ist Teil dieser Strategie:

  • Angriff auf offene Gesellschaft: Queere Sichtbarkeit wird als Symbol einer liberalen, demokratischen Gesellschaft verstanden – also als Feindbild.
  • Verschwörungsideologie („Genderwahn“, „Umerziehung“): Die Ablehnung queerer Lebensweisen wird oft mit verschwörungsideologischen Narrativen verbunden, etwa der Vorstellung, Kinder würden systematisch „umerzogen“.
  • Anschlussfähig für bürgerliche Milieus: Homo- und transfeindliche Positionen ermöglichen auch Anschluss an konservative oder kirchlich geprägte Milieus – damit wird das eigene Weltbild legitimiert und verbreitbar gemacht.

Dabei ist bemerkenswert, dass auch junge Rechte diese queerfeindlichen Muster nicht etwa „neu erfinden“, sondern oft direkt von älteren Generationen übernehmen. Sie tradieren ein Weltbild, das sich durch Anti-Genderismus, Antifeminismus und Rassismus auszeichnet – angereichert durch neue Kommunikationsformen und Mobilisierungsstrategien.

Das heißt für uns: Wer die Demokratie schützen will, muss CSDs schützen.

5 gute Gründe, einen CSD zu besuchen

  • 1. CSDs setzen ein Zeichen gegen alte und neue Formen von Queerfeindlichkeit:
    Diskriminierung ist heute oft subtiler – aber sie ist nicht verschwunden.Ob im Versteckspiel in Familien, durch Benachteiligung im Alltag oder durch das Ignorieren queerer Lebensrealitäten: LGBTQI*-Personen erleben Ausgrenzung jeden Tag.Der CSD macht das sichtbar und sagt klar: Wir lassen das nicht normal werden. Wir sind nie wieder still!
  • 2. Queere Sichtbarkeit ist ein Angriffsziel rechter Ideologie:
    CSDs sind mehr als Partys – sie sind sichtbare und laute Zeichen einer offenen Gesellschaft. Genau deshalb werden sie von rechtsextremen Gruppen angegriffen:Für sie steht queeres Leben für Vielfalt, Selbstbestimmung und Demokratie – also für alles, was ihrem autoritären Weltbild widerspricht.Wer zum CSD geht, verteidigt nicht nur queere Rechte, sondern auch unsere demokratischen Grundwerte. Es geht um eine Welt, in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein können.
  • 3. Der Protest gegen den CSD ist kein Zufall – sondern Strategie:
    Ob „Genderwahn“, „Frühsexualisierung“ oder „Umerziehung“: Die Ablehnung queerer Menschen wird gezielt mit Verschwörungserzählungen verbunden.Die Mobilisierungen gegen den CSD liefern dafür die Bühne. Rechtsextreme inszenieren sich dabei als „Verteidiger der Kinder“ oder „Wächter traditioneller Werte“ – und nutzen gezielt Emotionen, um Angst und Hass zu schüren. Gleichzeitig bauen sie queerfeindliche Brücken zwischen extrem rechts und konservativen/religiösen Akteuren. Der CSD kontert mit Aufklärung und Solidarität.
  • 4. Der CSD ist ein Akt internationaler Solidarität:
    Während in Deutschland Gleichstellung, queere Rechte und damit auch queere Sichtbarkeit zunehmend unter Druck geraten, sind LGBTQI*-Menschen in vielen anderen Ländern massiver Verfolgung ausgesetzt.Wer am CSD teilnimmt, zeigt: Unsere Freiheit endet nicht an der Landesgrenze. Wir stehen an der Seite aller, die sich für Selbstbestimmung, Vielfalt und Menschenrechte einsetzen – weltweit.
  • 5. Gemeinsam mit Freund*innen eine gute Zeit haben:
    Nein – CSDs sind keine riesigen Partys. Und trotzdem sind sie Orte zum Spaßhaben, Feiern und Loslassen. Jeder Mensch soll genau so sein können, wie er will und dabei sicher sein. Auch wenn man selbst nicht unmittelbar von Queerfeindlichkeit betroffen ist.Mit Gleichgesinnten unterwegs zu sein, tut gut – besonders in einer Welt, die immer bedrohlicher zu werden scheint. In der Angst und queerfeindliche Angriffe zunehmen.

 

Aktionswochen gegen Antisemitismus

[tacheles_4]: Nie wieder?! Partizipative Geschichtsvermittlung 80 Jahre nach Kriegsende

Das Team der Wanderausstellungen des Anne Frank Zentrums befasst sich mit zeitgenössischer Erinnerungskultur und versucht, über verschiedene Perspektiven und aktuelle Herausforderungen das Gedenken zu vermitteln. Franziska Göpner und Jakob Eichhorn vom Anne Frank Zentrum in Berlin berichten aus der Praxis politischer Bildung zu Nationalsozialismus und Shoah, 80 Jahre danach.

von Franziska Göpner und Jakob Eichhorn (Anne Frank Zentrum)

 

Die Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen hat die deutsche Gesellschaft tief geprägt, ihre Spuren finden sich überall. Die Erinnerung an die NS-Geschichte und den Holocaust sind ein zentraler Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft. Doch 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist diese Erinnerung stark umkämpft. Geschichtsrevisionistische Deutungen und Formen der Relativierung des Holocaust sind ein beständiger Kern rechtsextremer Ideologie  und werden zunehmend offen artikuliert. Doch nicht nur aus rechten Lagern, sondern ebenso aus linken Kreisen ist ein Anstieg an Antisemitismus, besonders israelbezogener Antisemitismus, zu verzeichnen. Die Zahlen des zivilgesellschaftlichen Monitorings zeigen eine enorme Zunahme antisemitischer und rechtsextremer Angriffe und Vorfälle im Jahr 2024. Auch die Ergebnisse der Einstellungsforschung machen einen Anstieg rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung deutlich. Hinzu kommt eine zunehmende zeitliche und biografische Distanz mit Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust. Diese Entwicklungen haben Einfluss auf das Feld der historisch-politischen Bildung und der Erinnerungskultur.

 

Laut der Gedenkanstoß MEMO-Studie spricht sich mittlerweile eine relative Mehrheit der deutschen Bevölkerung für einen sogenannten „Schlussstrich“ unter die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus aus. In einem allgemeinen Wandel des Geschichtsbewusstseins scheint diese Entwicklung aber nicht begründet zu sein. Vielmehr meinen etwa drei Viertel der Befragten durchaus, man könne aus der Geschichte für die Zukunft lernen. In der Studie kamen fast 40 Prozent zu der Einschätzung, sie könnten selbst etwas tun, um die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen mitzugestalten. Gleichzeitig geben aber über 70 Prozent der Befragten an, sich in der Realität in diesem Bereich eher wenig oder gar nicht zu engagieren.

Die Bildungsangebote des Anne Frank Zentrums ermöglichen partizipative und lebensweltorientierte Zugänge zur Geschichte, die die Teilnehmenden mit ihren Erfahrungen in den Blick nehmen. Anne Franks Tagebuch und ihre Biografie sind für viele Jugendliche ein erster Zugang zur Auseinandersetzung mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust. Über den biografischen Ansatz und die Auseinandersetzung mit der konkreten Person Anne Frank schaffen die Bildungsangebote einen jugendgerechten und lebensweltnahen Zugang zur Geschichte. Dabei ist es entscheidend, sie nicht als ikonische Heldin zu verklären, sondern ihr persönliches Zeugnis als eines von vielen biografischen Beispielen zu betrachten – eines, das in der Erinnerungskultur eine besondere Rolle eingenommen hat. Ziel dessen ist es, eine kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Holocaust – Gedenken anzuregen, gleichzeitig jedoch auch die Vielfalt an Perspektiven zu stärken, um unterschiedliche Zugänge zu historischen Ereignissen erst möglich zu machen.

 

Ein zentraler Bestandteil dieser Bildungsarbeit ist die Methode der “Peer Education”. Im Rahmen der Anne Frank Wanderausstellung werden Jugendliche – in begleiteten Trainings – zu sogenannten „Peer Guides“ ausgebildet und begleiten andere Jugendliche durch die Ausstellungen.  Dabei erzählen sie Geschichten aus ihrer eigenen Perspektive, mit ihren eigenen Worten und in Bezug auf ihre Lebenswelt. Ein Lernen auf Augenhöhe ergänzt klassische Lehr- und Lernerfahrungen. Partizipation wird damit zum Schlüssel von gegenwärtigem Holocaust-Gedenken: Sie stärkt junge Menschen in ihrer Rolle als Mitgestaltende einer aktiven Erinnerungskultur.

 

Die Vermittlungsarbeit bleibt nicht in der Geschichte stehen. Die Bildungsangebote des Anne Frank Zentrums verbinden das historische Lernen und die Auseinandersetzung mit aktuellen Formen von Antisemitismus, Rassismus und anderen menschenverachtenden Ideologien. Dabei werden die Perspektiven von Betroffenen von Antisemitismus, Rassismus und weiteren Gewaltverhältnissen sichtbar gemacht. Die Frage, wie die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust antisemitismuskritisch und diskriminierungssensibel vermittelt werden kann, umfasst eine differenzierte Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten und Quellen. Des Weiteren braucht es eine selbstkritische Verortung und Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Positionierung wie auch der eigenen Bezüge zu den Themenfeldern. Wir leben in einer diversen und heterogenen Gesellschaft. Die Vermittlung der Geschichte des Holocaust muss die Perspektiven von Jüdinnen*Juden und anderen Nachkommen von im Nationalsozialismus Verfolgten und Ermordeten aktiv mitdenken. Eine diskriminierungssensible und inklusive Geschichtsvermittlung kann dabei den Raum eröffnen, eigene Erfahrungen von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung in der Gegenwart zu thematisieren und zu bearbeiten.

Die Forschung zeigt, dass es für wirksame historische Bildung nicht genügt, Wissen zu vermitteln – entscheidend ist die aktive Beteiligung. Die Mitwirkung an partizipativen Formaten fördert nicht nur die historische Sensibilisierung, sondern auch das kollektive Engagement für Demokratie wird gestärkt und der Einsatz gegen Antisemitismus gefördert.  Wer sich aktiv einbringen kann, entwickelt ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung, dass das eigene Handeln einen Unterschied macht. Diese Erkentniss wirkt als Zugang zu gesellschaftlichem Engagement und stärkt die Bereitschaft, sich gegen verschiedene Formen von Diskriminierung einzusetzen. Hier wird deutlich: Erinnerungskultur entfaltet ihre Wirksamkeit besonders dort, wo sie nicht nur rezipiert, sondern aktiv gestaltet wird. Erinnerungskultur und Geschichtsvermittlung, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, brauchen neben den beschriebenen diskriminierungssensiblen Zugängen und einer kritischen historischen Einordnung insbesondere Räume für Teilhabe. Genau hier setzt die Bildungsarbeit des Anne Frank Zentrums an.

 

Franziska Göpner hat Kulturwissenschaften und Germanistik an der Universität Leipzig studiert und ist seit mehreren Jahren im Feld der historisch-politischen Bildung tätig. Seit 2017 ist sie Bereichsleiterin der Wanderausstellungen des Anne Frank Zentrums.

Jakob Eichhorn hat seinen akademischen Hintergrund in Geschichts-, Medien- und Kommunikationswissenschaft gesammelt und ist Referent im Projekt “Politische Bildung im Strafvollzug”.

Literatur:
Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V., Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2024, Online ISSN 2751 – 4021, 05.06.2025.

Decker, O. / Kiess, J. / Heller, A. / Brähler, E. (Hrsg.), Vereint im Ressentiment. Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen. Leipziger Autoritarismus Studie 2024, Gießen 2024.

Ditlmann, R./ Firestone, B./ Turkoglu, O. (Hrsg.), Participating in a Digital-History Project Mobilizes People for Symbolic Justice and Better Intergroup Relations Today. In: Psychological Science, 36(4), S. 249-264. https://doi.org/10.1177/09567976251331040, 05.06.2025.

Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) e.V., Rechte Gewalt 2024 – Eine Bilanz des Schreckens, Pressemitteilung vom 20. Mai 2025, online unter https://verband-brg.de/wp-content/uploads/2025/05/PE_VBRG_Jahresbilanz_rechte_Gewalt_2024_Onlineversion_20.05.2025.pdf

Walter, L./ Rees, J./ Pimpl, J./ Papendick, M./ Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung/ Universität Bielefeld, Gedenkanstoß MEMO. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2025.

 

Geplatzte Wahl der Verfassungsrichter*innen – Ein Erfolg für den rechtsalternativen Kulturkampf

Symbolbild, Bundestag

Was sonst ein sachlicher, demokratischer Prozess ist, wurde diesmal von einer antidemokratischen Desinformations- und Hetzkampagne zerschlagen. Rechtsextreme Netzwerke, AfD, rechtsalternative Medien – sie alle arbeiteten Hand in Hand, um eine Richterin zu diffamieren und damit demokratische Institutionen zu schwächen und die Polarisierung in Deutschland weiter voranzutreiben.

Von Lorenz Blumenthaler

Was ist passiert?

Die Regierungsparteien ließen sich bei der geplanten Wahl der Verfassungsrichter*innen am 11. Juli 2025 vor den Karren der rechtsextremen Kulturkämpfer*innen spannen. Falschbehauptungen und Gerüchte – besonders rund um das Thema Abtreibung – haben die Sphäre rechtsalternativer Medien verlassen und es geschafft, weit in die Mitte der Gesellschaft hinein, zu überzeugen. Statt aus einer Position der Stärke Richter*innen zu ernennen, wie es demokratisch gewählte Regierungen tun, geht es auf einmal um völlig andere Themen: vermeintliche Plagiatsvorwürfe, das Recht auf Abtreibung oder politische Einstellungen. Selbst mögliche Auswirkungen der Ernennung von Frau Brosius-Gersdorf auf die Prüfung eines AfD-Verbotsverfahrens werden thematisiert. Selbst diese Fokusverschiebung ist Teil des rechtsextremen Kulturkampfes. Auch wenn am Ende alle dieser Punkte sich als haltlos herausstellten, verfängt ein Teil solcher Desinformations- und Hetzkampagnen immer. Im Fokus dieser in weiten Teilen auch antifeministischen Mobilisierung stand die von der SPD nominierte Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf. Das Ziel: Die Polarisierung der Gesellschaft anhand ihrer Personalie und die politische Aufladung des Bundesverfassungsgerichts.

Denn es ging längst nicht mehr nur um die Ernennung einer Verfassungsrichterin – sondern um die Diskreditierung demokratischer Institutionen und Prozesse.

Angriff auf eine demokratische Institution

Im Regelfall ist die Wahl von Richter*innen ans Bundesverfassungsgericht ein sachlicher, parteiübergreifender Prozess, Teil des demokratischen Protokolls, das die Unabhängigkeit der Justiz schützt. Das informelle Abkommen der demokratischen Parteien sieht vor, dass die größten Fraktionen Kandidat*innen nominieren. Im Vorfeld wird sich zwischen den Fraktionen abgestimmt, um sicherzustellen, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht wird.

Das alles geschieht mit großem Bedacht: Das Bundesverfassungsgericht ist die höchste Instanz der Rechtsprechung in Deutschland und ein zentraler Garant für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Grundrechten. Es wird dann konsultiert, wenn es um Grundfragen unserer Verfassung geht.

Rechtsextremer Kulturkampf von oben

Die extreme Rechte hat es geschafft: Mit einer antidemokratischen Desinformations- und in Teilen misogynen, wie antifeministischen Hetzkampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf gelang es rechtsalternativen Medien von Nius über rechtsextreme Influencer bis hin zur AfD, die Maschinerie des rechtsalterantiven Kulturkampfes in Gang zu setzen und damit die Wahl der Verfassungsrichter*innen platzen zu lassen. Wie es am Ende nicht zur Wahl der Verfassungsrichter*innen kam, spiegelt beispielhaft die Arbeitsteilung des rechtsextremenKulturkampfes wider, dessen Dynamik wir aus den USA nur zur Genüge kennen: Denn dieser findet keinesfalls durch „besorgte Bürger“, sondern vor allem durch rechtsextreme Eliten, rechtsalternative Medien und eine antidemokratische Kampagnenmaschine Einzug in den politischen Diskurs.

Die Arbeitsteilung der extremen Rechten

Rechtsalternative Medien verbreiten Unwahrheiten oder selektive Aussagen, wie die von Frauke Brosius-Gersdorf über Schwangerschaftsabbrüche, die dann von rechtsextremen Influencern im vorpolitischen Raum multipliziert werden. Meist nimmt alles seinen Anfang in den sozialen Medien, wo durch Kampagnen gezielt Themen gesetzt werden. Dann wird alles von rechtsalternativen Medien, wie Nius oder Apollo News, aufgegriffen und nochmals zugespitzt. Ihr Werkzeug: Extreme Emotionalisierung, selektive Wahrheiten und Empörung. Die AfD beteiligt sich an der Kampagne aus dem Parlament heraus. Ihr Ziel, einen Keil zwischen die Koalitionspartner zu treiben und die Union so weiter nach Rechtsaußen zu treiben, geht auf. Rechtsextreme Narrative diffundieren von rechtsextremen X-Accounts in den Plenarsaal des Bundestages und ihre Inhalte werden dort letztendlich auch von Abgeordneten der Union wiedergegeben. Und das ohne Grund!

Fahrplan gezielter Desinformation

Fahrplan gezielter Desinformation

Die Union als Stimme von Antidemokrat*innen?

Die demokratischen Parteien lassen sich durch Coronaleugner*innen, Abtreibungsgegner*innen und Antifeminist*innen treiben. Sie lassen sich vor den Karren rechtsextremer Akteure aus rechtsalternativen Medien, dem vorpolitischen und dem parlamentarischen Raum spannen. Ganz nebenbei werden demokratische Institutionen massiv geschwächt und ihre Prozesse und Abläufe delegitimiert, ja garverunmöglicht. Dieser arbeitsteilige Prozess ist kein neuer. Wir kennen das Playbook aus der gezielten Misstrauenskampagne gegen NGOs – auch dort führte das Grundrauschen rechtsalternativer Medien gegen einen „NGO Deepstate“ am Ende zu 551 Fragen über die Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen an die Bundesregierung. Auch hier gelangen Inhalte und zentrale Forderungen rechtsalternativer Medien über rechtsextreme Akteure in Kreise der Union und mündeten gar in eine beispiellose Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion.

Wie geht es weiter?

Demokratische Akteur*innen müssen jetzt alles daran setzen, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen innerhalb der Bevölkerung, aber anscheinend auch innerhalb des Parlaments, wiederherzustellen. Der Debattenraum erscheint verwüstet und auch das Vertrauen in die Regierungskoalition hat schwer gelitten.

Statt aus einer Position der Stärke Richter*innen zu ernennen, wie es demokratisch gewählte Regierungen tun, geht es auf einmal um völlig andere Themen: vermeintliche Plagiatsvorwürfe, das Recht auf Abtreibung oder politische Einstellungen. Auch diese Fokusverschiebung ist Teil des rechtsextremen Kulturkampfes.

Demokrat*innen müssen nun souverän bleiben. Insbesondere, wenn Rechtsextreme nach der Macht greifen. Sie müssen klare Haltung zeigen. Gegen Spaltung. Gegen Desinformation. Für die Unabhängigkeit unserer Justiz und den Schutz unserer Demokratie.

Aktionswochen gegen Antisemitismus

[tacheles_4]: Schweigen und Kniefall

Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Westdeutschland war von Beginn an widersprüchlich. Symbolische Momente wie Brandts Kniefall oder Weizsäckers „Tag der Befreiung“ konnten den tief verwurzelten Antisemitismus nicht nachhaltig überwinden.

von Alissa Weiße

Ralph Giordano schrieb 1987: „Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945.” Der Shoah-Überlebende Giordano formulierte so in seinem Buch “Die zweite Schuld oder von der Last, ein Deutscher zu sein” letztendlich den Anspruch an und zugleich den Zustand der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Denn die Bemühung um eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist seit dem Kriegsende von gesellschaftlichen Debatten und politischen Kontroversen geprägt.

Heute zeigt sich die inkonsistente und zugleich mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit stärker denn je: 80 Jahre nach Kriegsende und zwei Jahre nach dem 7. Oktober grassiert Antisemitismus. Angriffe auf Jüdinnen und Juden, jüdische Einrichtungen, Gedenkstätte sowie Holocaustrelativierung und Befeuerung der Schlussstrichdebatte durch Politiker*innen gehören zum deutschen Alltag.

Wie konnte es dazu kommen?

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Für überlebende Jüdinnen und Juden bedeutete die Niederlage das Ende der staatlich organisierten Verfolgung und des systematischen Massenmords. Für die Deutschen begann damit der Prozess der Demokratisierung durch die Siegermächte. Die Alliierten betrachteten die Entnazifizierung der Deutschen nach 1945 als zentrale Voraussetzung für den Aufbau eines demokratischen Staates. Doch das Vornehmen stieß bei vielen auf Unverständnis: Sie wurde als ungerecht, willkürlich und demütigend wahrgenommen, viele sahen sich schlicht als ‘Opfer’ der Nationalsozialisten. Heute wird das Gesamtkonzept der Entnazifizierung, beispielsweise die Übernahme ganzer NS-Verwaltungsapparate samt Personal, als unvollständiger und oberflächlicher Versuch stark kritisiert.

Die viel beschworene Idee einer Stunde Null, eines Neustarts der postnazistischen deutschen Gesellschaft, scheiterte. Das zeigt auch: Bereits im Sommer 1945 kam es zu Grabschändungen jüdischer Friedhöfe, 1949 drückte die Süddeutsche Zeitung einen antisemitischen Leserbrief ab. 1950 wurde ein Ehrenmal für jüdische Opfer des Faschismus in Berlin geschändet. Anstelle von Aufarbeitung traten Schweigen, Beschönigung und Tabuisierung – oft bis heute.

Zwar wurde der Holocaust juristisch im Rahmen der Nürnberger Prozesse (1949) und weiterer NS-Prozesse behandelt, gesellschaftlich und politisch aber weitestgehend verdrängt. Nach 1945 dominierte zunächst das Bedürfnis nach „Normalisierung“ und wirtschaftlichem Wiederaufbau.

Unter diesen Aspekten sollte auch die diplomatische Annäherung der BRD unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949-1963) mit dem 1948 gegründeten Staat Israel betrachtet werden. Adenauer initiierte das von jüdischer Seite kritisierte Luxemburger Abkommen (auch Wiedergutmachungsabkommen), das unter anderem er und der damalige israelische Außenminister Moshe Sharett am 10. September 1952 unterzeichneten. Damit verpflichtete sich die BRD zu Entschädigungszahlungen sowie -leistungen und übernahm somit das erste Mal offiziell Verantwortung an der Shoah. Kritiker:innen argumentieren, dass weder das jüdische Leid während des NS mit Geld abgegolten noch “wiedergutgemacht” werden könne.

Unabhängig von der Kritik ist Adenauers Motivation weitaus differenzierter zu betrachten. Er setzte sich vor allem aus außenpolitischen Gründen für stabile Beziehungen zu Israel ein, da die Westintegration und die Verbesserung des internationalen Ansehens Deutschlands Priorität gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen  hatten.

Denn beispielsweise spielte die Erinnerung an die Opfer des Holocaust im öffentlichen Diskurs der BRD eine marginale Rolle. Opfergruppen kämpften jahrzehntelang um Anerkennung und Entschädigung. Währenddessen standen die eigene Leidensgeschichte im Krieg sowie deutsche Fluchtgeschichten im Vordergrund. Dabei wurden Täterbiographien zu Opfergeschichten umgestaltet.

Kontroversen um Verantwortung

Mit der Studentenbewegung der 1960er Jahre wurde erstmals eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit eingefordert. Die sogenannten 68er warfen der Elterngeneration Mitverantwortung, Schweigen und unzureichende Aufarbeitung vor. Impulse für die neue Sensibilität  lieferten auch der Prozess gegen SS-Funktionär Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem, sowie die Frankfurter Auschwitzprozesse ab 1963. Eichmanns Flucht über die sogenannten Rattenlinien (Fluchtrouten, die NS-Funktionäre in sympathisierende Länder führten) nach Argentinien, sein dortiges unbehelligtes Leben unter falschen Namen und die letztendliche Verhaftung durch den Mossad stehen beispielhaft für das Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz.

Die Proteste gegen das Schweigen der Tätergeneration, das politische Establishment und die personellen NS-Kontinuitäten im Staatsapparat führten zu einer öffentlichen Debatte, die den Holocaust endlich als zentrales Thema behandeln sollte. Dennoch blieb die Holocaust-Aufarbeitung auch in den Folgejahren von gesellschaftlichen Debatten geprägt und umkämpft.

Am 7. Dezember 1970 fiel der damalige Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal zum Gedenken an den Aufstand im jüdischen Ghetto 1943 in Warschau auf die Knie. Die Fotos gingen um die Welt. In seinen Memoiren (1976) beschreibt Brandt den Kniefall als “nicht geplant”. Es war der erste Besuch eines Bundeskanzlers in Polen nach 1945.

Die Geste wurde als Ausdruck von Demut und Anerkennung der deutschen Schuld wahrgenommen –  ausgehend von der Staatsspitze. Dennoch waren hier die Forderungen der Studierendenbewegung und der daraus entstandene Druck vorangegangen. Während die 68er die Geste begrüßten, empfand die breite Gesellschaft den Kniefall als übertrieben. Reaktionen, die zeigen, dass die Forderung nach einer breiten Aufarbeitung der NS-Verbrechen kein gesellschaftlicher Konsens war.

Die Gnade der späten Geburt?

Der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl bemühte sich während seiner Amtszeit (1982-1998) um eine “Normalisierung” der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit. Er strebte die Fokussierung auf die positive Entwicklung Nachkriegsdeutschland als Wirtschaftsmacht an, weg von der Last des Nationalsozialismus. Kohl wurde im Zuge dessen bekannt für den Ausdruck der “Gnade der späten Geburt”: Deutsche, die nach 1930 geboren waren, können aufgrund ihres Alters während der NS-Zeit nicht schuldig als Täter oder Mittäter geworden sein.
Das Schlagwort wurde stark kritisiert. Denn es bietet eine Legitimierung für einen unbefangenen Umgang der Nachkriegsgenerationen mit der NS-Vergangenheit, anstatt eine kontinuierliche Verantwortung zur Aufarbeitung und Erinnerung zu fördern. Kohl verwendete den Ausdruck erstmals im Januar 1984 bei einer Rede in der Knesset (Jerusalem). Mehrere israelische Abgeordnete verließen daraufhin den Raum.

Ein Jahr später, im Mai 1985 zu Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, besuchte der damalige US-Präsident Ronald Reagan die BRD. Teil des Programms war auch der Besuch des Soldatenfriedhofs Bitburg am 5. Mai 1985. Kohl strebte dort eine symbolhafte Versöhnung der beiden ehemaligen Kriegsgegner an.

Was während der Planung ignoriert oder unbekannt war: Neben Wehrmachtssoldaten wurden auch SS-Soldaten auf dem Friedhof bestattet. Der Besuch wurde dadurch bereits im Vornherein international stark kritisiert und protestiert, insbesondere von jüdischen Organisationen und Holocaust-Überlebenden. Sie betrachteten den Besuch des Soldatenfriedhofs als eine Schuld-Relativierung sowie explizit die Kranzniederlegung Reagans als eine Verharmlosung der NS-Verbrechen. Elie Wiesel, Shoah-Überlebender und Autor, wandte sich noch vor der Reise in einer Rede direkt an Ronald Reagan: “Dieser Ort, Herr Präsident, ist nicht ihr Ort. Ihr Platz ist mit den Opfern der SS.” (dt. Übersetzung). Ein kurzfristig ergänzter Besuch in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen konnte die Kritik zwar etwas abmildern, wurde dennoch als eine Alibihandlung gesehen.

Am Jahrestag 1985 selbst hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede, die geprägt war von der vorangegangenen Bitburg-Kontroverse. Er bezeichnete den 8. Mai erstmals offiziell als„ der Befreiung“ vom Nationalsozialismus –  nicht mehr als lediglich Niederlage der Wehrmacht –  und betonte damit die Priorität eines verantwortungsbewussten Erinnerns. Weizsäcker unterstrich, dass die Erinnerung an die Shoah zum Bestandteil der deutschen Identität werden müsse. Die Rede führte den 8. Mai als “Tag der Befreiung” in das öffentliche Bewusstsein.

Doch ein Tag der Befreiung war der 8. Mai 1945 nicht. Der Begriff der Befreiung suggeriert, dass die Deutschen Opfer des Nationalsozialismus waren und entbindet sie wiederum von einer moralischen Verantwortung. Von der zweiten Schuld, wie es Giordano formulieren würde. Der 8. Mai markiert die Niederlage des Nationalsozialismus.

Die Geschichte der Shoah-Aufarbeitung in der BRD ist auch eine Geschichte der politischen Instrumentalisierung. Konservative Bundeskanzler wie Kohl setzten auf symbolische Gesten oder wie Adenauer auf außenpolitische Pragmatik. Letztendlich befeuerte Kohls Ausrichtung die Schlussstrichdebatte und begünstigte Schuldabwehr-Antisemitismus. Auf der anderen Seite forderten linke und sozialdemokratische Akteure eine kontinuierliche, kritische Erinnerung.

Die deutsche Erinnerungskultur hat sich seit den 1980er Jahren stark gewandelt. Gedenkstätten, Bildungsprogramme und Gedenktage sind heute fester Bestandteil der politischen Kultur. Zwar gibt es den Anspruch, doch die Umsetzung ist mangelhaft: Antisemitische Vorfälle, Holocaustrelativierungen und das stetige Erstarken antisemitischer Kräfte zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nie abgeschlossen ist – und auch nie sein darf.

Kommentar

Neutralitätsgebot: „Politische Neutralität” als Kampfbegriff

Symbolbild, Demonstration in Marburg (Quelle: Christian Lue auf Unsplash)

„Politische Neutralität“ wird zunehmend als Kampfbegriff von rechten Akteur*innen, gegen Demokrat*innen instrumentalisiert. Doch ein solches Neutralitätsgebot für die Zivilgesellschaft existiert juristisch nicht. Was als Schutz der Demokratie verkauft wird, ist in Wahrheit ein Angriff auf sie. Ein Kommentar.

Von Vera Ohlendorf

Zum CSD darf in diesem Jahr keine Regenbogenflagge auf dem Reichstag wehen. Dem queeren Mitarbeitenden-Netzwerk der Bundestagsverwaltung ist die Teilnahme am CSD untersagt. Beide Entscheidungen wurden durch Bundestagspräsidentin Julia Klöckner mit Verweis auf die „politische Neutralität“ der Verwaltung getroffen.

Anfang 2025 stellte die Unionsfraktion im Bundestag mit ihrer Kleinen Anfrage „Politische Neutralität staatlich geförderter Organisationen“ die Gemeinnützigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen infrage: „Viele Stimmen sehen in den NGOs eine Schattenstruktur, die mit staatlichen Geldern indirekt Politik betreibt“, heißt es dort etwa. Landtagsfraktionen von AfD, CDU und FDP griffen die Vorlage auf und stellten in Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland eigene parlamentarische Anfragen. Dem Vorsitzenden der AfD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf, Martin Kohler, wurde im vergangenen März der Zugang zu den Aktionswochen gegen Rassismus verwehrt. Auf Telegram schrieb er: „Die parteipolitische Neutralitätspflicht des öffentlich geförderten Trägers wurde meiner Ansicht nach massiv missachtet. […] Es gibt anscheinend etwas zu verbergen.“

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Die politische Rechte spricht oft dann von einer Verletzung des „Neutralitätsgebotes“, wenn gemeinnützige und oder öffentlich geförderte Vereine, Verbände oder Stiftungen ihnen unliebsame Haltungen vertreten, gegen menschenverachtende Aussagen und Maßnahmen Stellung beziehen oder Rechtsextreme von Veranstaltungen ausschließen. Die Behauptung, diese Träger müssten sich „neutral“ verhalten und dürften sich nicht positionieren, ist schlicht falsch, durch juristische Gutachten und in Praxishandreichungen widerlegt. Dennoch ist die Forderung nach „Neutralität“ Kern politischer Strategien, die Gemeinnützigkeit und Förderungswürdigkeit von missliebigen zivilgesellschaftlichen Organisationen gezielt angreifen, diskreditieren und einschüchtern.

Das Grundgesetz ist nicht neutral

Grundsätzlich sind der Staat und seine Organe sowie Einrichtungen des öffentlichen Rechts qua Verfassung zu „parteipolitischer Neutralität“ im Sinne von Un- oder Überparteilichkeit verpflichtet. Staatliche Akteure dürfen nicht in den Parteienwettbewerb eingreifen, einzelne Parteien also nicht benachteiligen oder bevorzugen oder zur Wahl oder Nichtwahl einer bestimmten Partei aufrufen. Gleichzeitig unterliegen sie dem Demokratiegebot (Artikel 20) und den Grundrechten des Grundgesetzes, auch dem Diskriminierungsverbot (Artikel 3 Abs. 3).

Sie dürfen nicht „neutral“ agieren, sondern sind angehalten, demokratische Werte und die demokratische Grundordnung zu wahren und rassistische, antisemitische, sexistische und weitere diskriminierende Strukturen abzubauen. Demokratieschutz, Demokratieförderung und politische Bildung sind damit staatliche Aufgaben, die durch freie Träger übernommen werden können. Förderprogramme wie „Demokratie leben!“ sind Ausdruck dieser Tatsache.

Demonstrationen, Stellungnahmen, politische Arbeit: Alles erlaubt!

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind keine staatlichen Funktionsträger. Das ändert sich auch nicht, wenn sie öffentliche Förderungen erhalten. Für sie gelten die im Grundgesetz garantierten Grundrechte, sie genießen Meinungs-, Kommunikations- und Versammlungsfreiheit. Gemeinnützige initiativen haben das Recht, im Rahmen ihrer Satzungszwecke Positionen von Parteien oder Politiker*innen zu analysieren und zu kritisieren. Sie dürfen rassistische, antifeministische oder rechtsextreme Äußerungen klar als solche benennen und diese sachlich begründet (zum Beispiel mit Verweis auf Wahl- und Parteiprogramme, Verfassungsschutzberichte oder Gerichtsentscheidungen) einordnen.

Ebenso dürfen Vereine zu politischen Demonstrationen aufrufen, sofern es um die sachliche Auseinandersetzung im Zusammenhang mit ihren Satzungszwecken geht. Initiativen, die sich der Integrationsarbeit widmen, können also mit politischen Demonstrationen darauf hinweisen, dass Deportationspläne der AfD oder Zurückweisungen von Geflüchteten an den deutschen Grenzen gegen die Menschenrechte und geltende Gesetze verstoßen. In geringerem Umfang sind politische Betätigungen für Gemeinnützige auch möglich, wenn sie deren Satzungszwecke nicht im engeren Sinn berühren, beispielsweise wenn sich ein Sportverein gegen queerfeindliche Äußerungen von Politiker*innen positioniert.

Zivilgesellschaftliche Organisationen unterliegen selbstverständlich auch Pflichten. Sie müssen sich an die allgemeinen Gesetze halten, dürfen also keine falschen Tatsachenbehauptungen verbreiten, keine Straftaten begehen oder dazu aufrufen. Gemäß Gemeinnützigkeitsrecht (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 S. 3 Abgabenordnung) dürfen Träger einzelne Parteien nicht mittelbar oder unmittelbar unterstützen, etwa durch finanzielle Zuwendungen, Kampagnenarbeit oder durch Wahlempfehlungen. Das soll verdeckte Parteienfinanzierungen verhindern.

Der Begriff „politische Neutralität“ kommt in der Abgabenordnung nicht vor, ebenso wenig ein Verbot sachlicher politischer Äußerungen. Bei öffentlicher Projektförderung können in bestimmtem Maße politische Unparteilichkeitsforderungen oder thematische Einschränkungen Teil des Fördervertrages sein, die sich auf das geförderte Projekt beziehen, nicht auf die satzungsgemäßen Aktivitäten des Trägers insgesamt. Aktuell gibt es kaum Rechtsprechung zur Rechtmäßigkeit solcher Auflagen, was darauf hinweisen könnte, dass Träger mit diesen einverstanden sind oder den Klageweg scheuen.

Wer muss eingeladen werden?

Vereine sind nicht verpflichtet, Vertreter*innen aller Parteien zu ihren Veranstaltungen einzuladen. Sie entscheiden selbst, wer bei ihnen willkommen ist und wer nicht und unterliegen dabei nur dem Diskriminierungsverbot gemäß Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz. Unvereinbarkeitserklärungen, durch die rechtsextreme Akteur*innen von einer Vereinsmitgliedschaft ausgeschlossen sind, sind zulässig, da politische Überzeugungen im Sinne des Grundgesetzes keine „Weltanschauungen“ sind.

Zivilgesellschaftliche Organisationen bringen ihr Fachwissen in parlamentarische Verfahren ein und betreiben politische Arbeit im Rahmen ihrer Satzungszwecke. In einer parlamentarischen Demokratie ist das, Sachlichkeit und Transparenz vorausgesetzt, für die politische Willensbildung konstitutiv. Das Grundgesetz garantiert das Prinzip demokratischer Offenheit, das von der Chancengleichheit für politische Parteien, die staatliche Stellen garantieren müssen, nicht aufgehoben wird.

Gerichtlich bestätigt: Neutralitätsforderung ist gegenstandslos

Ein allgemeines Gebot „politischer Neutralität“ existiert also nicht, weder für zivilgesellschaftliche Organisationen noch für öffentliche Institutionen. Politische und juristische Entscheidungen haben das vielfach bestätigt: Anfang 2024 postete die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer auf Instagram, die AfD sei ein „Fall für die Verfassungsschutz- und Strafverfolgungsbehörden“. Die AfD sah darin einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot und klagte vor dem Landesverfassungsgericht. Der wies die Klage ab: Eine Landesregierung könne „an der öffentlichen Auseinandersetzung darüber teilzunehmen, ob Ziele und Verhalten einer Partei oder deren Mitglieder als verfassungsfeindlich einzuordnen sind“ und dürfe Warnungen aussprechen.

„Unparteilichkeit, nicht aber Wertefreiheit oder gar Positionslosigkeit“

Auch die Antwort der Bundesregierung auf die 551 Fragen der CDU-Fraktion fiel eindeutig aus: Zivilgesellschaftliches Engagement, das sich auch in Demonstrationen äußert, ist demokratiepolitisch erwünscht. Das Berliner Verwaltungsgericht entschied unlängst, dass das Aufhängen einer Pride-Flagge in einem Hort nicht gegen das Neutralitätsgebot verstößt. Bei der Erziehung in der Schule müsse nicht auf wertende Inhalte verzichtet werden.

Deutlicher noch formuliert es die Jugend- und Familienkonferenz der Länder, die „ein sogenanntes Neutralitätsgebot“ für die Jugendhilfe verfassungsrechtlich nicht normiert“ sieht. Die Verfassung verpflichte zu „Unparteilichkeit, nicht aber Wertefreiheit oder gar Positionslosigkeit“. Fachkräfte müssten Äußerungen und Handlungen aktiv entgegentreten, die gegen die demokratischen Werte gerichtet seien. Die Kultusministerkonferenz stellte bereits 2018 fest, der Beutelsbacher Konsens, ein anerkannter Fachstandard der politischen Bildung, der in den 1970er Jahren formuliert wurde und seither immer wieder fälschlich für eine “Neutralitätspflicht” von Pädagog*innen ins Spiel gebracht wird, verpflichte zu kritischer Auseinandersetzung und zur Vermittlung demokratischer, menschenrechtsorientierter Werte.

Wer die Neutralisierung der Zivilgesellschaft fordert, normalisiert rechtsextreme Diskurse

Der Begriff „Neutralität“ wird durch die politische Rechte in Dauerschleife irreführend genutzt, um Demokratiearbeit zu behindern, zivilgesellschaftliche Organisationen zu diffamieren und Demokrat*innen gezielt einzuschüchtern. Wer demokratische Werte verteidigt oder Rechtsextreme von antirassistischen Veranstaltungen ausschließt, gerät in Verdacht, „etwas zu verbergen“ oder als Teil einer „Schattenstruktur“ staatliche Gelder für politische Einflussnahme zu missbrauchen. Anklänge an Verschwörungserzählungen rund um „Deep State“ und „geheime Eliten“ sind in vielen Fällen offensichtlich.

Das verfängt: Obwohl die sogenannte „Neutralitätspflicht“ in der Regel juristisch unbegründet ist, scheuen sich Lehrer*innen, Beamt*innen, Mitarbeitende in Wohlfahrtsorganisationen oder Ehrenamtliche in Vereinen, sich sachlich-kritisch zu tagespolitischen Themen oder zum Programm von Parteien wie der AfD zu äußern.

Eine Studie von „Zivilgesellschaft in Zahlen” zeigt, dass rund 30.000 zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland aus Sorge um ihre Gemeinnützigkeit politisches Engagement unterlassen, wobei die Sorge mehrheitlich juristisch unbegründet sein dürfte. In ostdeutschen Kommunen, in denen die AfD politische Ämter innehat, ist der Anpassungsdruck besonders hoch. Längst wird die „Neutralität“ auch jenseits des juristischen Kontextes von Unternehmen betont, die weder gemeinnützig noch öffentlich gefördert sind. So verkündete das sächsische Unternehmen „Teigwaren Riesa”, man sei „politisch neutral“ und bekenne sich „dazu, keine politische Richtung, Bewegung oder Agenda zu unterstützen“, nachdem das Firmenlogo widerrechtlich auf einer Anti-AfD-Demo aufgetaucht war. Viele Kund*innen stimmten begeistert zu. Dass ausgerechnet in Sachsen die Nicht-Verurteilung von rechtsextremen Ideologien ein Verkaufsargument ist, zeigt, wie sehr die Nebelkerze “Neutralität” an Einfluss gewinnt.

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Als Kommunikationsstrategie ist die Beschwörung der Drohkulisse rund um die angebliche „Neutralität“ wesentlicher Kern eines Kulturkampfes: Kritik soll verstummen, rechte Positionen sollen weiter normalisiert werden. Dabei geht es nicht um die juristischen Feinheiten der Abgabenordnung, sondern darum, demokratische Grundprinzipien zu schwächen. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich: Menschenverachtende und rechtsextreme Äußerungen erscheinen als legitime Haltungen im Meinungswettbewerb, die man nicht zu kritisieren hat, will man nicht Fördermittel, Rechte oder gesellschaftliche Legitimität verlieren. Dass Diffamierungskampagnen gegen Kritiker*innen im Namen einer vermeintlichen „Neutralität“ selbst keineswegs „neutral“ sind – geschenkt! Die Aufhebung des Verbots des Compact-Magazins zeigt, dass menschenverachtende Aussagen der extremen Rechten in vielen Fällen zulässig und von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Für Menschen und Organisationen, die Demokratie und Grundgesetz verteidigen, dürfen keine härteren Regeln gelten.

Als Demokrat*innen sind wir gefordert, den Neutralitätsdiskurs als das zu entlarven, was er ist: antidemokratisch und verfassungsfeindlich. Dagegen müssen wir uns gemeinsam und solidarisch nicht nur juristisch, sondern auch politisch wehren.

Dieser Artikel ist am 11. Juli 2025 zuerst auf Belltower.News erschienen.

Brandanschläge: Rassismus tötet, der Staat schaut zu?

Symbolbild (Quelle: Kira Ayyadi)

Brandanschläge gegen migrantische Familien und BPoC sind keine Relikte der Vergangenheit – sie passieren jetzt: in Solingen, Eberswalde oder Altenburg.

Von Luisa Gehring

Im letzten Jahr wurden Häuser in Altenburg, Solingen, Eberswalde, St. Wendel und Wilhelmshaven gezielt angezündet. Dabei starben Kinder, Eltern wurden schwer verletzt, Familien verloren ihr Zuhause. Diese Taten sind nicht zufällig, sondern oftmals rassistisch oder rechtsextrem motiviert. Dennoch gibt es in den seltensten Fällen eine wirkliche Aufklärung. Das hat auch mit institutionellem Rassismus innerhalb der Behörden zu tun: Betroffene erleben, wie Notrufe mit Akzent ignoriert werden, Rettungskräfte zu spät kommen und Einsatzkräfte mit mangelnder Empathie oder offenen rassistischen Kommentaren reagieren. Die Ermittlungsbehörden schließen rechte Motive oft vorschnell aus und verdächtigen ähnlich wie im NSU-Komplex stattdessen die Betroffenen selbst. Zeug*innen werden entwertet, rassistische Hintergründe verdrängt.

Vor Gericht erfahren Überlebende und Angehörige wenig Anerkennung, werden in ihrer Glaubwürdigkeit infrage gestellt und erleben keine echte Aufarbeitung. Die rassistischen Motive der Täter werden selten benannt oder strafverschärfend berücksichtigt. Der institutionelle Rassismus hinterlässt tiefe Wunden, die weit über die Anschlagsnacht hinausreichen. Er sorgt dafür, dass viele dieser Taten nie als das erkannt werden, was sie sind: rechte Gewalt. Ohne den Druck und das Engagement einer aktiven demokratischen Zivilgesellschaft oder der Nebenklage blieben diese Fälle oft unsichtbar. Die Geschichte der „Baseballschlägerjahre“ ist kein abgeschlossenes Kapitel. Rassistische Brandanschläge und rechte Gewalt sind Realität und Kontinuität – gestern wie heute.

25. März 2024

Ein rechtsextremer Täter zündet in Solingen (NRW) ein Wohnhaus an, in dem vor allem migrantische Menschen leben. Ein dreijähriges Kind, ein Säugling sowie ihre Eltern kommen bei dem Anschlag ums Leben. Laut Ermittler*innen sei die Tat unpolitisch. Doch der Täter besaß rechtsextremes NS-Propaganda-Material und zündelte am selben Haus bereits am 9. November 2022.
https://www.belltower.news/solingen-toedlicher-brandanschlag-von-2024-doch-rechtsextrem-motiviert-159099/  

31. Juli 2024

In der Nacht werden zwei Häuser in Altenburg (Sachsen) angezündet, in denen ausschließlich migrantische Menschen leben und ein Integrationsverein seine Räumlichkeiten hat. Neun Bewohner*innen werden verletzt. Schon zwei Monate vorher war das Haus mit rassistischen Parolen beschmiert worden, die Angreifer verteilten zudem den stinkenden Inhalt einer Bio-Mülltonne.
https://www.lvz.de/lokales/altenburger-land/brandstifter-schlagen-in-altenburg-doppelt-zu-migranten-sind-das-ziel-7Z3JFX6UIFFTVE5LDDYO7IRXA4.html 

14. September 2024

In Eberswalde (Brandenburg) wird ein Wohnhaus angezündet, in dem Menschen mit Einwanderungsgeschichte lebten. Im Erdgeschoss befanden sich ein Dönerladen und ein Barbershop. Ein vierjähriges Kind und seine 45-jährige Mutter sterben bei dem Brandanschlag. Sechs weitere Menschen werden teilweise schwer verletzt.
https://taz.de/Brand-in-Eberswalde/!6034438/ 

3. April 2025

Ein 64-Jähriger zündet in St. Wendel (Saarland) Holzpaletten vor einem arabischen Lebensmittelmarkt an. Über dem Supermarkt lebt eine syrische Familie, die bereits zuvor von dem Täter rassistisch beleidigt wurde. Verletzt wurde niemand. Nachbar*innen gelingt es, das Feuer zu löschen.
https://taz.de/Brandstiftung-im-Saarland/!6079000/

23. Juni 2025

In Wilhelmshaven (Niedersachsen) wird ein Haus angezündet, in dem ausschließlich migrantische Menschen leben. Ein vierjähriges Kind kommt dabei ums Leben, weitere Bewohner*innen werden lebensbedrohlich verletzt. Die Familie des verstorbenen Kindes habe wiederholt unter rassistischen Anfeindungen gelitten – durch Nachbarn, und Verwaltung. Vom Hausmeister sei die Familie regelrecht schikaniert worden, berichtet die taz.
https://www.belltower.news/totes-kind-in-wilhelmshaven-wenn-rassistische-gewalt-auch-vor-kindern-nicht-halt-macht-160803/

26. Juni 2025

In Aachen (NRW) wird das indische Restaurant „Maharaja“ Opfer eines rassistischen Brandanschlags. Am Tatort: Hakenkreuze und rassistische Parolen, das Restaurant selbst verwüstet. Die Staatsanwaltschaft sieht kein rassistisches Motiv. U. a. weil auch Penisse an die Wand gemalt wurden. Eineinhalb Wochen später, am 8. Juli, kam es in Aachen erneut zu mehreren Bränden. Betroffen war unter anderem das chinesische Restaurant „Yangguofu“. Durch die starke Rauchentwicklung im Gebäude, konnten die Bewohner*innen des darüberliegenden Wohnhauses nicht eigenständig fliehen. Die Feuerwehr evakuierte 21 Personen, fünf wurden zur Sicherheit ins Krankenhaus gebracht. Die Kriminalpolizei kann Brandstiftung in diesem Fall nicht ausschließen. Die Fälle werden bisher nicht in Zusammenhang gebracht.
https://www.t-online.de/region/aachen/id_100795758/rassistischer-brandanschlag-auf-maharaja-in-aachen-hilfsaktionen-starten.html 

https://www.t-online.de/region/aachen/id_100809274/aachen-feuer-in-chinesischem-restaurant-ausgebrochen-menschen-verletzt.html 

Der Skandalfall Solingen

Der Brandanschlag in Solingen aus dem Jahr 2024 steht exemplarisch für das Versagen staatlicher Institutionen im Umgang mit rassistischer Gewalt. Das Tatmotiv wurde in großem Umfang vertuscht. Die Polizei entfernt den Hinweis „rechtsextrem“ aus den Akten – per Hand und ignorierte dann weitere Indizien. 166 Dateien mit Nazi-Inhalten (Hakenkreuze, Hitlerbilder, Hetztexte) werden zunächst für den Prozess nicht ausgewertet – erst nach Druck durch die Nebenklage. Zudem gibt es diverse Aktenlücken. Von der Polizei gefundene NS-Literatur, rassistische Gedichte und Chatverläufe tauchen nicht in den Ermittlungsakten auf. Trotz allem schließt die Staatsanwaltschaft ein rassistisches oder rechtsextremes Motiv lange aus – obwohl alles darauf hinweist. Die Betroffenen werden systematisch übergangen. Überlebende und Angehörige werden nicht ernst genommen – ihre Perspektive zählt nicht.

Institutioneller Rassismus am Einsatzort

Betroffene von rechtsextremer und rassistischer Gewalt berichten immer wieder von Rassismus am Einsatzort, durch die Ermittlungsbehörden und vor Gericht.

  • Notrufe werden ignoriert oder nicht ernst genommen, insbesondere wenn die Anrufenden gebrochen oder mit Akzent sprechen
  • Rettungskräfte treffen zu spät am Einsatzort ein
  • mangelnde Kommunikation und fehlende Empathie durch Einsatzkräfte
  • rassistische Kommentare
  • Opfer werden basierend auf rassistischen Zuschreibungen beschrieben, Zahlen zur Anzahl der Betroffenen sind oft falsch

Institutioneller Rassismus durch Ermittlungsbehörden

  • Rechtsextreme Tatmotive werden vorschnell ausgeschlossen, stattdessen wird in migrantische „Milieus“ oder Familiendynamiken hinein verdächtigt
  • Betroffene oder Angehörige geraten selbst ins Visier der Ermittlungen
  • Stereotype Annahmen, mangelndes Vertrauen und die Delegitimierung von Zeugenaussagen
  • Verdachtsmomente gegen rechtsextreme Täter werden heruntergespielt oder ignoriert
  • Oft gelingt es erst durch das Engagement der Nebenklage oder Recherchen aus der Zivilgesellschaft, die rechtsextreme Tatmotivation aufzudecken

Institutioneller Rassismus vor Gericht

  • Betroffene und Überlebende werden als Zeug*innen nicht ernst genommen, in ihrer Glaubwürdigkeit infrage gestellt oder sie werden retraumatisiert
  • Fragen des strukturellen Rassismus und der institutionellen Mitverantwortung werden systematisch ausgeklammert
  • Rassistische Motive der Täter werden nicht konsequent benannt oder strafverschärfend gewertet
  • Opferfamilien fühlen sich alleingelassen. Sie berichten von mangelnder Aufarbeitung und fehlender Empathie seitens der Justiz
  • Beamt*innen decken sich oft gegenseitig. Der institutionelle Korpsgeist verhindert interne Ermittlungen

Baseballschlägerjahre 2.0?

Wenn von den Baseballschlägerjahren die Rede ist, meint das die enorme rechte Gewalt der frühen 1990er Jahre nach der Wende. In dieser Zeit kam es verstärkt zu Angriffen auf Geflüchtete, Migrant*innen oder alternative Jugendliche – aber auch zu rassistischen Brandanschlägen. Neonazis dominierten vielerorts den öffentlichen Raum, mit offener Gewalt. Man denke nur an die Bilder der ausgebrannten Häuser in Mölln (1993) und Solingen (1993) oder das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (1992). Auch sie zählen zu den ikonischen Zeugnissen der „Baseballschlägerjahre“. Wenn wir also von einer Zunahme rechtsextremer Gewalt in Deutschland sprechen, dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass viele Fälle, wie Brandanschläge, nie als solche erfasst werden. Ohne eine aktive Zivilgesellschaft bliebe oft nicht einmal eine Aktennotiz. Wir müssen laut bleiben, sichtbar machen und gemeinsam gegen Rassismus und rechte Gewalt kämpfen.


Dieser Artikel ist am 10. Juli 2025 zuerst auf Belltower.News erschienen.

Gefördertes Projekt

„Wir lassen uns nicht vertreiben!“ – CSDs bleiben standhaft gegen rechte Angriffe

Beim CSD in Greifswald 2025. Foto: Aktionsbündnis Queer in Greifswald e.V.

Nach dem Pridemonth ist das Ende der CSD-Saison noch lange nicht in Sicht. Wir lassen Organisator*innen von sechs CSDs in ländlichen Regionen zu Wort kommen: Welche Anliegen sind ihnen wichtig? Wie gehen sie mit Anfeindungen um?

Von Vera Ohlendorf

Über 90 CSDs haben bundesweit in diesem Jahr bereits stattgefunden. Bei fast 20 davon kam es zu Störungen oder Übergriffen auf Teilnehmende, einige sahen sich mit organisierten Anti-CSD-Kundgebungen konfrontiert. Polizeischutz und Sicherheitskonzepte sind bei jedem CSD erforderlich. Über den Regenbogenschutzfonds konnten wir bisher schon über 30 Pride-Veranstaltungen finanziell unterstützen, die sich mit Bedrohungslagen auseinandersetzen müssen.

Wie haben Organisationsteams in Witzenhausen, Greifswald, Pforzheim, Wetzlar, Borna und Coburg ihre CSDs erlebt? Wir haben nachgefragt:

31. Mai: 1. CSD in Witzenhausen

Witzenhausen in Nordhessen ist als Kirschanbaugebiet bekannt. Der erste CSD wurde vielleicht auch deshalb von einem Traktor angeführt. Der ist aber nicht die einzige queere Veranstaltung in der Region. Im Mai findet seit zwei Jahren eine queere Gala statt, der „Feministische November“ umfasst vielfältige Veranstaltungen und im nahe gelegenen Bad Sooden-Allendorf hat sich ein queerer Jugendtreff etabliert. „Mit dem CSD wollen wir vor allem queeres Leben auf dem Land sichtbarer machen und mehr Vernetzung in der Region ermöglichen, auch zwischen jüngeren und älteren queeren Menschen“, sagt Noa vom Organisationsteam. Das ist gelungen: 300 Teilnehmende jeden Alters aus der Region Witzenhausen, aus Göttingen, Kassel, Hannover, Leinefelde und Erfurt ziehen während der Kundgebung durch die Straßen.

Der CSD in Witzenhausen 2025. Foto: Amadeu Antonio Stiftung/Vera Ohlendorf

Ist es leicht, sich in Witzenhausen für queere Anliegen zu engagieren? „Ich hatte lange das Gefühl, es ist ok, queer zu sein“, so Noa. „Jetzt habe ich Angst vor Angriffen auf queere Menschen und queere Räume durch Rechtsextreme und auch durch konservative Politik.“ Rechtsoffene und rechtsextreme Gruppen sind in Witzenhausen aktiv. Der CSD verläuft ohne Störungen. Akzeptanz ist dennoch keine Selbstverständlichkeit: Im letzten Jahr schrieben einige queerfeindliche „Feministinnen“ einen Brief an die Landrätin, als deren Teilnahme an der queeren Mai-Gala bekannt wurde. Sie positionierten sich gegen die Anliegen der Organisator*innen, trafen transfeindliche und antifeministische Aussagen und warnten vor Kindeswohlgefährdung. Die Landrätin äußerte sich zum Brief zwar nicht öffentlich, unterstützt aber die Anliegen der queeren Communities, ebenso wie der Witzenhausener Oberbürgermeister, der für den CSD die Regenbogenfahne am Rathaus hisste. Noa zieht für den 1. CSD ein positives Fazit: „Alles ist sehr gut und sicher gelaufen. Wir haben uns sehr gefreut, dass so viele Menschen da waren.“

14. Juni: CSD Greifswald – Tage der Akzeptanz

Fast ohne Störungen verlief der 2. CSD in Greifswald. Bis zu 950 Menschen nahmen an der Demonstration und am anschließenden Bühnenprogramm auf dem Markt teil. Seit 2011 gibt es einen jährlichen „Tag der Akzeptanz“ mit Veranstaltungen und Infoständen in der Stadt. „Nach der Pandemie wurde der Wunsch in der Community laut, in Greifswald einen CSD zu organisieren, mit Demo, Dragqueens, queeren Künstler*innen und allem was dazu gehört“, erinnert sich Thomas vom Aktionsbündnis Queer in Greifswald e.V. Ihm ist es wichtig, sich für die Akzeptanz queerer Menschen einzusetzen: „Wir gehören ganz normal zur Gesellschaft wie alle anderen auch. Wir bleiben hier und gehen nicht weg!“, betont er. Der CSD stehe für Solidarität mit allen Menschen, die Ausgrenzungen und Diskriminierungen erfahren.

Der CSD in Greifswald 2025. Foto: Aktionsbündnis Queer in Greifswald e.V.

Nachdem der CSD in Wismar 2024 durch 200 Rechtsextreme gestört und Teilnehmende queerfeindlich bedroht und beleidigt worden waren, erarbeitete der Verein ein Sicherheitskonzept für Greifswald. „Am 14.6. hat parallel zu unserem CSD eine Veranstaltung von Rechtsextremen in Anklam stattgefunden, das ist nur ca. 20 Kilometer von Greifswald entfernt. Wir haben das ernst genommen und waren im engen Kontakt mit der Polizei“, beschreibt Thomas. Vor der Demo seien drei Rechtsextreme am Bahnhof aufgefallen, die aber von der Polizei abgeschirmt wurden. Auf dem Fest am Markt wurden queere Teilnehmende durch fünf Personen beleidigt, die Thomas einer lokalen Burschenschaft zurechnet. Sie wurden aufgefordert, den Platz zu verlassen. Am Ende ist er zufrieden: „Es war schön zu sehen, dass sich viele Passant*innen spontan dem CSD angeschlossen und sich die Redebeiträge angehört haben. Aus vielen Fenstern wurden Regenbogenfahnen geschwenkt. Viele Leute sind auch beim Bühnenprogramm stehen geblieben“. Diese breite Unterstützung hat das Team bestärkt. Der nächste CSD in Greifswald findet 2027 statt.

14. Juni: CSD Pforzheim – Don’t be quiet, be a riot!

Deutliche Worte fanden die Organisierenden vom Spotlight Pforzheim e.V. für den Aufruf zum 3. CSD: „Pforzheim ist dafür bekannt hässlich zu sein und eine AfD Hochburg. Aber das ist nicht alles! Pforzheim ist auch queer und das wollen wir feiern!“ Nach dem Aufruf folgten Schlagzeilen: Die rechtsextreme Gruppe „Störtrupp Süd“ aus der Region rief zu einer Protestdemo auf. „Kurz hatten wir Panik, aber dann haben wir uns gesagt: Dann sollen sie doch kommen, dann machen wir unseren CSD noch größer. Wir lassen uns nicht vertreiben und nicht einschüchtern!“, sagt Caleb als Teil des Organisationsteams. Der Plan ging auf: Rund 1300 Menschen setzten ein klares Zeichen für queere Solidarität, Akzeptanz und Menschenrechte.

Aktivist*innen eines lokalen soziokulturellen Zentrums halfen kurzerhand bei der Entwicklung eines Sicherheitskonzeptes. Vertreter*innen verschiedener Parteien und Pforzheimer Kirchengemeinden riefen öffentlich zur Unterstützung des CSDs auf. Der Oberbürgermeister betonte die Weltoffenheit der Stadt, weigerte sich jedoch, die Regenbogenflagge am Rathaus zu hissen. „Der Nordschwarzwald ist eine ländliche, konservative Region“, erzählt Caleb. „Viele queere Menschen leben unter dem Radar und erleben Diskriminierungen. Insbesondere Transfeindlichkeit wird salonfähig. Deshalb haben wir mit dem CSD die Forderung an die Stadt verbunden, sich klar zu positionieren. Die Flagge nicht zu hissen, schickt leider ein deutliches Zeichen sowohl an queere als auch an queerfeindliche Personen in Pforzheim. Es geht darum, wer sichtbar sein darf und wer nicht“.

Der CSD in Pforzheim 2025. Foto: Janina_v.held_fotografie

Auch eine evangelikal-fundamentalistische Gruppe mobilisierte ca. 30 Personen gegen den CSD, eine Gruppe von ca. 20 Querdenker*innen meldete ebenfalls Protest an. Ein breites Bündnis aus CSD-Organisator*innen, Gemeindevertreter*innen, Kirchengemeinden und Bürger*innen hatte erfolglos versucht, ein Verbot der rechtsextremen Demonstration zu erwirken. Dank der breiten Unterstützung konnten die Anti-CSD-Kundgebungen abgeschirmt werden, so dass das Programm mit Theater, Redebeiträgen, Drag-Queens und Musik ohne Zwischenfälle über die Bühne gehen konnte. „Wir haben gesehen, dass rechtsextreme Gruppen frei durch Pforzheim laufen können. So lange das passiert, muss es auch einen CSD geben. Wir bleiben so lange politisch, bis alle gleiche Rechte haben und nicht mehr diskriminiert werden“, betont Caleb.

14. Juni: CSD Wetzlar – Nie wieder still!

Auch im mittelhessischen Wetzlar zogen hunderte Menschen für queere Sichtbarkeit und Akzeptanz durch die Straßen. „Wir haben von Beginn der Planungen an mit einer Störaktion gerechnet“, sagt Tobias vom CSD Mittelhessen. „Als dann Rechtsextreme von ‚Die Heimat‘ und, unabhängig davon, fundamentalistische Evangelikale Demonstrationen gegen den CSD angemeldet haben, hat uns das den Druck genommen. Wir konnten uns gut vorbereiten. Klar hatten einige auch Angst, aber uns hat das motiviert: Jetzt erst recht!“.

Tobias ist sich sicher, dass die Anfeindungen viele Menschen dazu motiviert haben, den CSD zu unterstützen – wohl auch, weil es die erste organisierte rechtsextreme Demonstration gegen einen CSD in Hessen war. Die Schirmherrschaft hatte der Wetzlarer Oberbürgermeister inne, der die Eröffnungsrede hielt. Zu den Anliegen des CSDs gehörten die Erweiterung des Diskriminierungsverbotes in Artikel 3 des Grundgesetzes um geschlechtliche und sexuelle Identität und die rechtliche Selbstbestimmung transgeschlechtlicher Menschen. Rund 40 Rechtsextreme von „Die Heimat“ konnten durch die Polizei abgeschirmt werden. „Sie waren kaum wahrzunehmen. Wir waren definitiv lauter“, sagt Tobias. Den etwa 20 evangelikalen Fundamentalisten ist es kurzzeitig gelungen, in Sichtweite des CSDs Schilder mit queerfeindlichen und beleidigenden Aussagen zu zeigen.

Der CSD in Wetzlar 2025. Foto: CSD Mittelhessen, Margays e.V

Beim Straßenfest sorgte ein Security-Dienst für Sicherheit, außerdem war ein Awarenessteam vor Ort. „Auf dem Straßenfest sind plötzlich zwei Personen rumgelaufen, die offensichtlich nicht zum CSD gehörten. Sie haben unsere Teilnehmenden gefilmt, was ziemlich unangenehm gewirkt hat. Wir konnten sie schnell des Platzes verweisen“, erzählt Tobias. Er freut sich, dass es zu keinen weiteren Zwischenfällen durch Rechtsextreme gekommen ist. Für ihn ist der CSD auch ein Weg, um sich gegen rechtsextreme Ideologien zu stellen und die Demokratie zu schützen. „Wir verurteilen die Haltung von Julia Klöckner, die die Pride-Flagge nicht auf dem Bundestag hissen will. Die Deutschlandflagge steht sicher nicht für Gleichstellung, Diversität und Selbstbestimmung. Deshalb sind CSDs wichtig: Sie schaffen Sichtbarkeit für queere Lebensrealitäten, auch in ländlichen Regionen“, sagt er.

21. Juni: 1. CSD Borna

Der 1. CSD im sächsischen Borna wurde spontan organisiert: Von der Idee bis zum CSD dauerte es nur vier Wochen. In kurzer Zeit schlossen sich Menschen zum CSD-Bündnis zusammen, die sich in lokalen Vereinen und demokratischen Parteien im Landkreis engagieren. Dabei war zunächst unklar, ob der CSD überhaupt stattfinden würde: Wegen anderer Veranstaltungen am gleichen Tag sah die Stadtverwaltung zunächst keine Kapazitäten und sah keine Möglichkeit für die Genehmigung einer Sondernutzung. Der CSD wurde deshalb als politische Versammlung angemeldet, die Ordnungsbehörde des Landkreises hatte keine Einwände. Der Bornaer Oberbürgermeister zeigte sich aber solidarisch und hisste drei Regenbogenfahnen am Rathaus. Wegen der kurzen Planungszeit verzichtete das Bündnis auf eine Laufdemo. Dafür gab es ein queeres Fest auf dem Marktplatz mit Bühne, Redebeiträgen, Infoständen, Musik und fast 300 Teilnehmenden.

Maximilian vom Organisationsteam ist in Borna zur Schule gegangen, wohnt jetzt wegen des Studiums in einer größeren Stadt und engagiert sich nach wie vor im Landkreis Leipzig. „Ich habe selber die Erfahrung gemacht, wie es ist, als queerer Mensch im ländlichen Raum aufzuwachsen. Man fühlt sich oft allein und denkt, man sei die einzige queere Person im Dorf. Im ländlichen Raum gibt es weniger Toleranz als in der Großstadt“, erzählt er. Vor dem CSD startete das Team einen Aufruf und bat queere Menschen aus der Region, von ihren Erfahrungen zu erzählen. Die Rückmeldungen bestätigten, dass Einsamkeit und Ausgrenzung für viele zum Alltag gehören.

Der CSD in Borna 2025. Foto: CSD Borna

„Der CSD schafft queere Sichtbarkeit im Landkreis. Wir wollen die Botschaft senden, dass es auch in Borna Unterstützung gibt. Du musst dich nicht verstecken und kannst sein wie du bist!“, fasst Maximilian das Anliegen des CSDs zusammen. Leider kam es auch zu rechtsextremen Provokationen: Zu Beginn der Kundgebung trugen zwei Personen ein Transparent mit queerfeindlicher Aufschrift über dem Platz, die Polizei schritt ein. Später zeigte ein 15-Jähriger den Hitlergruß. Weitere 20-30 rechtsextreme Jugendliche beobachteten das CSD-Geschehen vom Rand des Marktplatzes aus und wurden durch CSD-Teilnehmende abgeschirmt. Maximilian ist froh, dass sich die Störversuche in Grenzen hielten. Das Bündnis will auch 2026 einen CSD im Landkreis organisieren.

21. Juni: CSD Coburg – Pride is still a riot!

Seit dem 1. CSD in Coburg 2021 ist in der bayrischen Kleinstadt viel passiert: „Früher mussten Lesben, Schwule, Bisexuelle, transgeschlechtliche, nichtbinäre oder queere Menschen notgedrungen in größere Städte wie Nürnberg, Erlangen oder Erfurt fahren“, erzählt Michael, der den CSD mit organisiert hat. Heute ist das anders: Seitdem die AG Queer des CoMuN e.V. aktiv ist, sind weitere queere Angebote entstanden, etwa wöchentliche Stammtische, ein Queer-Café für Jugendliche, Veranstaltungen und Parties. „Coburg ist eine konservative Kleinstadt. Man überlegt sich zweimal, ob man mit seinem Partner auf der Straße Händchen hält. Für viele hier ist das eine Provokation, obwohl es eigentlich Normalität sein sollte“, erzählt Michael.

Während der Pride Week vor der CSD-Kundgebung standen Vorträge, ein Karaoke-Abend, ein queerer Gottesdienst, Spieleabend und Poetry Slam auf dem Programm. Das Motto: „Pride is still a riot“ meinen die Veranstaltenden ernst: Neben der Stärkung queerer Rechte forderte der CSD auch die Einführung einer Ansprechperson für queere Themen in der Stadtverwaltung. Eine abstrakte Bedrohungslage sei vor dem CSD schon zu spüren gewesen, sagt Michael.

Der CSD in Coburg 2025. Foto: CoMun e.V.

Die Auflagen von Stadt und Polizei zur Absicherung des Marktplatzes wurden im Rahmen der Sondernutzung verschärft, so dass höhere Kosten für den CSD entstanden sind. „Coburg liegt etwa 20 Minuten von Sonneberg in Thüringen entfernt. Dort gibt es einen AfD-Landrat und bei der letzten Bundestagswahl haben 50 % für die AfD gestimmt. Auch hier in Coburg ist die AfD mit 20 % Zustimmung stärker geworden“, berichtet Michael und erwähnt weitere rechtsextreme Gruppen und Burschenschaften, die in Coburg aktiv sind. In den letzten Jahren kam es öfter zu Anfeindungen durch radikale Christ*innen. Der CSD verläuft in diesem Jahr aber ohne Störungen. Schon im Herbst werden die Planungen für 2026 starten.

Achtung Reichelt: Nius und die NGO-Verschwörungslegende

In seiner Show „Achtung Reichelt“ wettert Julian Reichelt gegen NGOs. (Quelle: Screenshot)

Das rechte Krawallmedium „Nius“ um den ehemaligen „BILD“-Chefredakteur Julian Reichelt schürt weiter Stimmung gegen Nichtregierungsorganisationen. In einem Video entwirft Reichelt ein Zerrbild der Realität und markiert NGOs als „Schattenregierung“, die linke Narrative im Auftrag der Politik verbreite – bezahlt mit Steuergeldern.

Von Patrick Gensing

Polemik und pauschale Unterstellungen, die bekannten Kampfbegriffe und reichlich Empörung: Julian Reichelt zeigt sich in einem Video vom 10. Juni 2025 mal wieder in hysterischer Höchstform. Der „Nius“-Beitrag basiert auf einem durchgehend polemischen Narrativ, das NGOs pauschal diskreditiert. So versteigt sich Reichelt in dem Video, das nach zwei Tagen bereits mehr als 270.000 Aufrufe allein auf YouTube erreicht hatte, zu einer bemerkenswerten Behauptung, was die Bezeichnung NGOs betrifft:

„Schließlich heißen diese Organisationen ja Nichtregierungsorganisationen. Die Bezeichnung ist auf perfide Weise ganz bewusst irreführend gewählt.“ Und weiter: „Die Menschen sollen nicht merken, dass sie es mit der Regierung zu tun haben.“

Nochmal zum Mitschreiben: Reichelt behauptet, die Bezeichnung „Nichtregierungsorganisation“ sei hinterlistig und strategisch gewählt worden, um Menschen in die Irre zu führen. Damit solle verschleiert werden, dass die NGOs tatsächlich regierungsnahe Organisationen seien.

Erste NGO gegen Sklaverei im 19. Jahrhundert

Wer genau diesen perfiden Move gemacht haben soll, lässt Reichelt offen. Hier ist die Aufklärung: Es waren unter anderem die Vereinten Nationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem Begriff einem rechtlichen Rahmen gegeben haben. NGOs gibt es aber schon weit länger, wie das Staatslexikon festhält:

1823 wird die Foreign Anti-Slavery Society, 1874 der Weltpostverein und 1863 – als die älteste, heute noch bestehende humanitäre Organisation der Welt – das Rote Kreuz gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten NGOs einen rechtlichen Status innerhalb der UNO. Als „shooting star“ globaler Politik erscheinen sie bei den Weltkonferenzen der UNO in den 1990er Jahren. Ihre massive Präsenz bei diesen Konferenzen zur globalen Umwelt-, Menschenrechts- oder Sozialpolitik hat zu ausführlichen sozialwissenschaftlichen Debatten über die „NGOisierung der Weltpolitik“ angeregt. Ihr Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörungen und für eine lebenswertere Welt wird von Regierungen, internationalen Organisationen und in der Bevölkerung größtenteils positiv aufgenommen.

Reichelt ist da also einem ganz großen Skandal in der Weltgeschichte auf der Spur, denn es liegt ja auf der Hand, dass die Anti-Sklaverei-Organisation, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Großbritannien gegründet wurde, sicherlich eigentlich im Auftrag der britischen Regierung gehandelt hat. Möglicherweise muss die Geschichte neu geschrieben werden. Oder etwa nicht?

Selbstverständlich ergibt dies keinen Sinn. Und das Geraune, hier hätten irgendwelche geheimnisvollen Kräfte im Hintergrund einen Namen erfunden, um die Menschen in Deutschland zu überwachen, ist unbelegter Unsinn.

Zwischenfazit:

  • Aussage: Die Behauptung unterstellt eine bewusste Täuschungsabsicht. Der Begriff NGO (Non-Governmental Organization) ist international etabliert und bezeichnet Organisationen, die unabhängig vom Staat agieren – unabhängig davon, ob sie Fördermittel erhalten oder nicht.
  • Bewertung: Die Behauptung ist falsch. NGO ist eine formale Kategorisierung, keine Täuschung. Fördermittel bedeuten keine Weisungsgebundenheit.
  • Quelle: Die UN definiert NGOs als nichtstaatliche, gemeinnützige Akteure mit eigenständiger Zielsetzung.

NGOs als autoritärer Schattenstaat?!?

Es wird aber noch viel wilder in dem „Nius“-Video: Reichelt erklärt NGOs in Deutschland sinngemäß zu einer Art politisch-korrekter Stasi mit polizeilichen Befugnissen, die nebenbei auch noch Menschen umerzieht und die politische Agenda lenkt:

„Die Menschen sollen nicht merken, dass sie es mit der Regierung zu tun haben, wenn sie von ihrem eigenen Steuergeld eingeschüchtert, umerzogen und überwacht werden. Und genau das geschieht in diesen so genannten Nicht Regierungsorganisationen.“

Nachschlag gefällig?

„Diesen NGOs, die es sich unter dem eigentlich regierungskritischen Begriff Zivilgesellschaft zu ihrer Mission gemacht haben, Regierungskritik mit unerbittlicher Härte zu verfolgen und zu unterbinden. Nicht Regierungsorganisationen: Das ist Staatsmacht ohne die Regeln, an die sich der Staat eigentlich halten muss. Die Zivilgesellschaft: Das sind die Auftragsarbeiter, die Söldner des autoritären Geistes, der in unserem Land inzwischen weht. Wenn die Regierung sich gegen die eigenen Gesetze und Regeln wenden will, dann beauftragt sie NGOs mit der Schmutzarbeit.“

Es geht leider noch weiter; es ist wichtig, diese Ausführungen zu lesen, um zu verstehen, wie Reichelt hier eine Verschwörungslegende und akute Bedrohung samt Feindbild aufbaut – und spricht von einer:

„Welt, in der wir leben, diese ständige von linker Politik befeuerte, flirren und flimmern aus Panik und Angst ist in den letzten Jahren vom NGO-Komplex erschaffen worden. Es waren diese Leute, die steuerfinanziert die passenden Umfragen, die so genannte Wissenschaft, die verfälschten und zurecht gebogenen Fakten oder vielmehr Behauptungen geliefert haben, auf denen linke Ideologie und ihre zerstörerische Politik fußten.“

Im Folgenden kommt Reichelt – endlich – zum inhaltlichen Höhepunkt, zeichnet ein düsteres Bild einer geheimnisvollen Minderheit, die im Hintergrund agiert, um das Volk zu unterjochen: „All diese Parolen, mit denen Politik gegen die Mehrheit begründet wird, finden ihren Ursprung im NGO-Komplex.“

Zwischenfazit:

  • Aussage: Nichtregierungsorganisationen und Zivilgesellschaft – das sei Staatsmacht ohne die Regeln, an die sich der Staat eigentlich halten müsse. Eine steile These.
  • Bewertung: NGOs haben keinerlei exekutive Befugnisse. Sie handeln zivilgesellschaftlich und unterliegen dem Vereinsrecht, Spendenrecht und oft auch der Gemeinnützigkeitsprüfung durch das Finanzamt.
  • Faktenlage: Unbelegt, pauschal und falsch. NGOs sind weder mit Amtsgewalt ausgestattet noch rechtsfreier Raum. Aufklärung und Bildungsarbeit als „Umerziehung“ zu diskreditieren, ist ein beliebter rechtsradikaler Taschenspielertrick, der gut zu „Nius“ passt.

Schon stark, was diese NGOs angeblich alles können, möchte man Reichelt gedanklich folgen – was ich ausdrücklich nicht empfehle, da man sich sonst schnell im verschwörungsideologischen Sumpf verirren könnte.

Bemerkenswert ist neben der aggressiven Rhetorik, dass Reichelt sehr pauschal NGOs über einen Kamm schert. Sie alle sind demnach offenbar Teil eines geheimen Plans, um die Menschen in Panik und Angst zu versetzen. Diese Welt sei vom „NGO-Komplex“ geschaffen worden, behauptet Reichelt.

Diese Aussage gibt einer heterogenen Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen die Verantwortung für gesellschaftliche Debatten und Ängste. Sie unterstellt eine bewusste Steuerung durch NGOs. Belege für absichtliche Massenbeeinflussung oder zentral gesteuerte Koordination der NGOs? Die gibt es nicht. In diesem Kontext gewinnt dann aber die Geschichte der „Welt“ über Verträge zwischen EU und NGOs an Bedeutung, denn diese „Recherche“ dient nun dazu, diese Leerstelle zu füllen und eine vermeintliche Steuerung zu beweisen.

Feindbild ProAsyl, geflüchtete Menschen und Richter*innen

Was fehlt bei diesem verschwörungsideologischen Geraune noch? Richtig, das Thema Migration: „Aktivisten der NGO ProAsyl haben alles dafür getan, die sogenannte Migrationswende zu sabotieren.“

Das ist interessant; haben wir doch eben von Reichelt lernen dürfen, dass die NGOs im Auftrag der Regierenden die Schmutzarbeit verrichteten, sind sie nun aktiv, um die Regierungspolitik zu sabotieren. Klaffende Logiklöcher und eklatante Widersprüche, die in der Empörung und dem Getöse untergehen.

Nius präsentiert nun ein Schaltgespräch mit dem Autor des Buchs „Der NGO-Komplex“. Darin wird unter anderem der Anschein erweckt, der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin zu rechtswidrigen Zurückweisungen an deutschen Grenzen sei politisch motiviert – „mit einem Richter aus dem linksextremen Milieu“. In der Vergangenheit habe sich der Richter kritisch dazu geäußert, Flüchtlinge ausschließlich unter dem Aspekt der „inneren Sicherheit“ zu betrachten.

Selbst für Nius-Verhältnisse sind das sehr dünne Indizien, die keinen Vorwurf der Befangenheit begründen. Weder eine Parteimitgliedschaft noch empathische Äußerungen zum humanen Umgang mit geflüchteten Menschen reichen hierfür aus. Zudem wichtig ist in diesem Kontext: Die betreffenden Beschlüsse wurden von der Kammer gefasst – nicht von einem Einzelrichter. Die ursprünglich zuständigen Richterinnen hatten die Verfahren gemäß § 76 Abs. 4 Asylgesetz wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung an die Kammer verwiesen. Die beiden weiteren Berufsrichterinnen hätten den – angeblich befangenen – Vorsitzenden überstimmen können. Haben sie aber nicht. Der Beschluss wird von Fachleuten als solide und gut begründet gelobt.

Auch hier liefert „Nius“ also keine Belege, sondern versucht lediglich, den Eindruck einer Befangenheit zu konstruieren, um eine Gerichtsentscheidung zu delegitimieren. Der Co-Geschäftsführer von ProAsyl, Karl Kopp, sagte dazu in der taz:

„Der Vorwurf, wir hätten Einfluss auf das Gericht genommen, ist absurd. Es ist klar geregelt, dass das Verwaltungsgericht Berlin zuständig ist. Und im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts ist festgelegt, welche Kammer zuständig ist. Dramatisch ist in einem Rechtsstaat, wenn Rich­te­r*in­nen so massiv angegriffen werden. Es ist unser aller Aufgabe, den Rechtsstaat, die Unabhängigkeit der Gerichte, die bundesdeutsche Demokratie zu verteidigen.“

Zwischenfazit: „Der Vorsitzende der Kammer ist ein grüner Richter, schreibt in linken Fachzeitschriften – der Beschluss ist also ideologisch motiviert.“

  • Bewertung:
    Parteizugehörigkeit oder Meinungsäußerungen sind kein Ausschlusskriterium für Richter. Befangenheit wird durch Verfahren geprüft, nicht durch politische Zuschreibungen.
  • Faktenlage:
    Spekulation. Kein Beweis für Befangenheit.
  • Quelle:
    § 41 ZPO – Ausschluss wegen Befangenheit

Alles nur inszeniert?

Auch der wortreich vorgetragene Vorwurf von Nius gegen ProAsyl, drei Menschen aus Somalia in Polen versorgt und bei dem Antrag auf Asyl in Deutschland unterstützt zu haben, ist kein Skandal, auch wenn Reichelt sehr angestrengt empört schaut und den Kopf schüttelt. Denn NGOs wie Pro Asyl vertreten juristisch Geflüchtete. Dieses Recht ist grundgesetzlich geschützt. Dass NGOs Verfahren strategisch vorbereiten, ist legitim. Karl Kopp von ProAsyl stellt dazu fest:

„Unsere Aufgabe ist es, Schutzsuchende bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen. Das tun wir im Fall der drei somalischen Asylsuchenden genauso wie seit knapp 40 Jahren in Deutschland und Europa.“

Die jungen Menschen seien mittellos und obdachlos gewesen, führt Kopp aus, die Jugendliche unter ihnen „musste dringend medizinisch behandelt werden“. Ohne diese humanitäre Hilfe, ohne Gewährleistung von Menschenwürde, gäbe es „kein rechtsstaatliches Verfahren, weil die Betroffenen das gar nicht durchstehen würden. Die Kombination aus Rechtshilfe in beiden Staaten und Menschlichkeit ist keine Inszenierung, sondern ein menschenrechtlicher Ansatz“, so Kopp.

Der eigentliche Skandal sei, dass sie mehrfach europarechtswidrig zurückgewiesen wurden, betont der ProAsyl-Geschäftsführer: „Die drei haben eine harte Fluchtgeschichte und einen monatelangen Fluchtweg, begleitet von Gewalterfahrungen, hinter sich. Und hier wurden sie dann europarechtswidrig und unmenschlich behandelt. Wenn das kein Grund ist, dass eine Menschenrechtsorganisation tätig wird – was dann? Wir haben die rechtliche Vertretung der drei deshalb aus unserem Rechtshilfefonds unterstützt.“ Mit anderen Worten: ProAsyl hat das getan, wofür eine Menschenrechtsorganisation da ist – und was notwendig ist angesichts von EU-Staaten, die einen rücksichtslosen Kurs gegen Menschen in Not verfolgen.

Angriff auf NGOs

Es ist wahrlich kein Quell der Freude, sich Beiträge auf Nius anzuschauen und die Zitate zu lesen: Die gespielte Empörung, das andauernde Entwerfen von Skandalen und Verschwörungen, wo keine sind. Es ist eine anstrengende Welt des permanenten Ausnahmezustands. Dennoch ist es notwendig, sich mit diesen Inhalten zu beschäftigen, denn hier wird deutlich, wie Feindbilder geschaffen und markiert werden.

Nius vermischt reale Förderbeziehungen, politische Interpretationen und unbelegte Unterstellungen sowie schlicht falsche Behauptungen zu einem umfassenden Anti-NGO-Narrativ. „Die NGO-Kaste wird dahin gehen, wo sie hingehört – in die Arbeitslosigkeit und Bedeutungslosigkeit“, frohlockt Reichelt. Diese Rhetorik reiht sich ein in eine internationale Strategie autoritärer Kräfte, die gezielt Nichtregierungsorganisationen delegitimieren, diffamieren und finanziell austrocknen wollen. Es handelt sich um einen Angriff auf die demokratische Infrastruktur, denn NGOs helfen dabei, wie im Fall von ProAsyl, Regierungshandeln rechtsstaatlich zu hinterfragen.

Autoritäre Machtkonsolidierung

NGO-Feindlichkeit ist ein roter Faden autoritärer Machtkonsolidierung. Wo freie Presse, kritische Wissenschaft und unabhängige Gerichte attackiert und eingeschränkt werden, stehen NGOs als nächstes auf der Abschussliste. Die Kampagnen gegen NGOs in deutschen Medien übernehmen zunehmend Sprachmuster autoritärer Regime, dazu gehören abwertende Begriffe wie „NGO-Kaste“ oder „Schattenstaat“, die Unterstellung verdeckter Steuerung durch die Regierung und die Forderung nach finanzieller Entziehung und rechtlicher Einschränkung.

Nius treibt unter dem Deckmantel kritischer Aufklärung ein autoritär inspiriertes Framing voran. Menschenrechtsgruppen, Umweltverbände und weitere werden nicht als demokratischer Stützpfeiler betrachtet, sondern als Bedrohung. Diese Sichtweise gefährdet das Fundament offener Gesellschaften. Wer NGOs schwächt, stärkt nicht den Staat – sondern autoritäre Machtkonzentration.

Dieser Artikel ist am 3. Juli 2025 zuerst auf Belltower.News erschienen.

Gefördertes Projekt

25 Jahre nach dem Mord an Alberto Adriano: Warum Erinnern politisch ist

25 Jahre nach dem rassistischen Mord erinnern Freund*innen, Angehörige und zivilgesellschaftlich Engagierte in Dessau an Alberto Adriano – mit Trauer, politischen Forderungen und einem Blick auf die Kontinuitäten von Rassismus und rechter Gewalt. Das Multikulturelle Zentrum Dessau organisierte die Gedenkveranstaltung, unterstützt durch eine Förderung der Amadeu Antonio Stiftung.

Von Luisa Gerdsmeyer

Alberto Adriano lebte mit seiner Familie über zwölf Jahre in Dessau. 1988 war er als sogenannter Vertragsarbeiter aus Mosambik in die DDR gekommen. Auch nach der Wende blieb er in Dessau und arbeitete hier als Fleischermeister. 1990 lernte er seine Partnerin kennen, die er zwei Jahre später heiratete. Gemeinsam bekamen sie drei Kinder.

Am Abend des 10. Juni 2000 traf Adriano sich mit einigen Freunden, um mit ihnen ein Spiel der Fußball-Europameisterschaft zu schauen. Gleichzeitig feierte die Gruppe eine kleine Abschiedsfeier für Adriano, da dieser im Juli seine Eltern in Mosambik besuchen wollte. Die Flugtickets waren bereits gebucht. Nach dem Spiel machte sich Adriano zu Fuß auf den Heimweg, der auch durch den Dessauer Stadtpark führte. Hier begegnete er drei jugendliche Neonazis. Diese hatten sich zuvor zufällig am Dessauer Bahnhof getroffen und anhand ihrer Kleidung gegenseitig als Naziskinheads erkannt. Im Park grölten sie neonazistische, und gewaltverherrlichende Parolen und Lieder. Als sie Alberto Adriano sahen, beschimpften sie ihn rassistisch und griffen ihn mit extremer Brutalität gewaltsam an. Sie quälten und erniedrigten ihn – so lange, bis schließlich die Polizei eintraf, die Nachbar*innen aufgrund der Schreie alarmiert hatten. Drei Tage später, am 14. Juni 2000 starb Alberto Adriano an seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus.

„Warum Alberto Adriano?“ – Eine Frage, die zum Handeln aufruft

Teile der Stadtgesellschaft reagierten auf den brutalen rassistischen Mord mit Schweigen, Relativierung und Entpolisierung. Aber es entstand auch ein – vor allem von der migrantischen Community getragener – Protest. Bereits am Abend von Adrianos Todestag versammelten sich zahlreiche Freund*innen, Familienangehörige und antirassistisch und antifaschistisch Engagierte im Multikulturellen Zentrum Dessau. Gemeinsam trauerten sie – und organisierten eine Demonstration, die zwei Tage später, am 16. Juni 2000 unter dem Motto „Warum Alberto Adriano?“ stattfand. Die Frage richtete sich an die gesamte Gesellschaft und war gleichzeitig ein Aufruf zum Handeln: Die Gesellschaft hatte versagt, Alberto Adriano zu schützen. Umso dringlicher war die Forderung: Es muss alles dafür getan werden, solche grausamen rassistischen Morde in Zukunft zu verhindern.

Zwischen 3.000 und 4.000 Menschen kamen zusammen, um zu trauern, auf die Kontinuitäten rassistischer Gewalt in Dessau aufmerksam zu machen, gegen ihre Verharmlosung zu protestieren und Konsequenzen einzufordern. Für die Schwarze Community in Dessau war die Angst vor rassistischer Gewalt in den 1990er und 2000er Jahren ein ständiger Begleiter. Ihr Alltag war geprägt von Bedrohung durch Neonazis und Straßengewalt, von Alltagsrassismus, rassistischen politischen Diskursen, Verschärfungen von Asyl- und Aufenthaltsrecht und von Kriminalisierung und Schikanen durch die Polizei.

Der Gerichtsprozess gegen die Täter

Im November 2000 begann der Prozess gegen die drei Täter am Landgericht Dessau. Die rassistische Tatmotivation wurde dabei eindeutig benannt. Einer der Täter wurde zu lebenslanger Haft verurteilt – es war das erste Mal seit der Wiedervereinigung, dass in Deutschland nach einem rassistisch motivierten Mord die Höchststrafe verhängt wurde. Der Prozess offenbarte auch die Brutalität und Kälte der Täter. Keiner von ihnen zeigte Reue. Stattdessen äußerten sie sich weiterhin rassistisch – und verhöhnten Alberto Adriano selbst im Gerichtssaal.

Der jährliche Tag der Erinnerung an Alberto Adriano

Seit dem Jahr 2000 organisiert das Multikulturelle Zentrum Dessau immer am 11. Juni den Tag der Erinnerung zum Gedenken an Alberto Adriano. Das Multikulturelle Zentrum wurde 1993 als erste Migant*innenorganisation in Sachsen-Anhalt gegründet, es ist ein Ort des Austauschs sowie des interkulturellen- und interreligiösen Dialogs, eine starke Stimme gegen Rassismus und wichtiger Akteur in der lokalen Erinnerungsarbeit. Zum diesjährigen 25. Jahrestag des Mordes an Alberto Adriano wurde, gefördert durch die Amadeu Antonio Stiftung, ein mehrteiliges Programm organisiert.

Den Auftakt bildete eine Podiumsdiskussion im Bauhaus Museum Dessau. Dabei standen strukturelle Dimensionen von Rassismus und rechter Gewalt im Mittelpunkt. Die Teilnehmenden sprachen über das Erstarken von Rassismus und Rechtsextremismus in den letzten Jahren und die bedrohlichen Auswirkungen für Betroffene. Deutlich wurde: Rassismus ist tief in der Gesellschaft verankert, in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus. Seine Bekämpfung fordert nicht nur entschlossenes staatliches Handeln, sondern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung und die Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen gegen Rassismus.

Besonders betont wurde die Rolle migrantischer Selbstorganisationen, die nicht nur Schutzräume schaffen, sondern auch zentrale Akteurinnen im Kampf gegen Rassismus und für demokratische Teilhabe sind. Auf dem Podium sprachen Nathalie Schlenzka, Referatsleiterin bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Günter Piening, ehemaliger Integrationsbeauftragter in Sachsen-Anhalt und Berlin, Rimma Fil, Geschäftsführerin des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt, und Abdoul Coulibaly, Integrations- und Migrationsbeauftragter der Stadt Magdeburg.

Gemeinsames Erinnern am Tatort im Dessauer Stadtpark

Im Anschluss fand die Kranz- und Blumenniederlegung an der Gedenkstele im Dessauer Stadtpark statt. Aus Stein gefertigt trägt sie die schlichte Inschrift:

„Alberto Adriano

Opfer rechter Gewalt

11. Juni 2000“.

Das gemeinsame Erinnern und Innehalten stand im Mittelpunkt – begleitet von Musik und zwei Redebeiträgen. Es sprachen der ehemalige Bundestagsabgeordnete Dr. Karamba Diaby aus Halle und die Kreisoberpfarrerin von Dessau-Roßlau Annegret-Friedrich Berenbruch. Diaby machte in seiner Rede auf die aktuelle Bedrohung durch Rassismus und den Anstieg rechtsextremer Gewalttaten der letzten Jahre aufmerksam und betonte:

„Gerade deshalb ist unser Gedenken heute kein Ritual. Es ist eine politische Notwendigkeit. Denn wo das Erinnern endet, beginnt das Verdrängen. Und wo verdrängt wird, wiederholt sich Geschichte. Wenn wir heute an Alberto Adriano erinnern, dann dürfen wir nicht nur an das Opfer denken. Wir müssen auch an die vielen denken, die heute wieder in Angst leben. An die, die sich einsetzen, die ihre Stimme erheben, die Gesicht zeigen.“

Den Abschluss des Gedenktages bildete eine Filmvorführung am Abend, die die rassistischen Pogrome in Rostock Lichtenhagen 1992 thematisierte. Auch dadurch wurde deutlich gemacht: Der Mord an Alberto Adriano war kein Einzelfall, sondern Teil einer Kontinuität rassistischer und rechter Gewalt, die bis in die Gegenwart reicht.

Gedenken als Mahnung – gemeinsam gegen Rechtsextremismus und Rassismus

Mit seiner Ermordung verloren Alberto Adrianos Familie und Freund*innen einen geliebten Menschen – ihr Schmerz und ihre Trauer sind bis heute präsent. Ihm zu gedenken heißt, diesen Gefühlen Raum zu geben und die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Zugleich ist es ein politischer Auftrag: „Gerade heute – wo rassistische Hetze und Rechtsextremismus erstarken, auch hier in Dessau – ist es umso wichtiger, der Opfer zu gedenken und aufzuzeigen, wohin Hass und Menschenverachtung führen können“, so Jean-Luc Ahlgrimm vom Multikulturellen Zentrum Dessau.

In eigener Sache

Chronik Todesopfer rechter Gewalt: Heinz Mädel (58) – ermordet von Neonazis

Der Maurer Heinz Mädel wurde am 25. Juni 1990 in Erfurt von zwei jungen Frauen beschimpft und geschlagen. Die Täterinnen schlugen ihn zu Boden und traten auf den älteren Mann auf dem Boden gegen Kopf und Oberkörper. Am 1. Juli erlag er seinen Verletzungen.

Von Max Zarnojanczyk (Blinde Flecken Erfurt)

Der Maurer Heinz Mädel wurde am 25. Juni 1990 in Erfurt von zwei jungen Frauen beschimpft und geschlagen. Die Täterinnen schlugen ihn zu Boden und traten auf den älteren Mann auf dem Boden gegen Kopf und Oberkörper. Am 1. Juli erlag er seinen Verletzungen.

Wir wissen kaum etwas über sein Leben

Viel ist über das Leben von Heinz Mädel nicht bekannt. In den Presseberichten finden sich lediglich Informationen zu seinem Alter (58 Jahre), seinem ausgeübten Beruf (Maurer) und seiner Arbeitslosigkeit zur Zeit des Überfalls. In einem Zeitungsartikel des STERN von Peter Pragal und Dieter Krause wird Heinz Mädel als unverheirateter und scheuer Einzelgänger beschrieben. In diesem Artikel wird Mädel zusätzlich als „abgerissen wirkend„, also als „sozialrandständig“, beschrieben. Die bisherigen Recherchen zum Fall ergaben jedoch viele lose Enden, deren Bearbeitung es ermöglichen würden, Heinz Mädel als Person und nicht nur als Betroffenen von rechter Gewalt zu porträtieren. Wir wissen kaum etwas über sein Leben.

Heinz Mädel traf auf seinem allabendlichen Spaziergang am  25. Juni 1990 um 23 Uhr in der Erfurter Altstadt vom Erfurter Anger auf der damaligen Leninstraße (heute Johannesstraße) auf der Höhe der Futterstraße auf zwei junge Frauen, die ihn aus einer Gruppe junger Personen, darunter auch Skinheads, heraus beobachteten. Von hinten griffen die 17-Jährigen den älteren Mann unvermittelt an. Ihre Namen: Carina S. und Corinna K..

Heinz Mädel wurde von der Polizei vernommen, die Täterinnen flüchteten.

Zuerst stieß Corinna K. Heinz Mädel von hinten in den Rücken, schlug ihm die Mütze vom Kopf und zog ihn an den Haaren. Ob dieser Attacke ein Wortwechsel vorausgegangen war, ist heute unklar. Heinz Mädel wehrte sich, indem er sich an der Kleidung von Corinna K. festhielt. Daraufhin reißt Carina S. Heinz Mädel zu Boden, mit den Worten: „Lass meine Freundin in Ruhe!“. Die zwei Frauen traten auf den am Boden Liegenden ein. Dabei fokussierten sie den Oberkörper und den Kopf. Sie traten insgesamt 13 mal auf Mädel ein.

S. und K. ließen Heinz Mädel auf dem Boden liegend zurück und zogen die Futterstraße entlang weiter. Heinz Mädel stand auf, fiel jedoch sofort gegen ein geparktes Auto. Eine Person aus der umstehenden Jugendgruppe versuchte Heinz Mädel zu helfen. Da eine der Täterinnen ihre Tasche beim Angriff zurückließ, kehrten beide wieder um. Als sie den Helfenden vor Heinz Mädel sahen, sagte Carina S.: „Seit wann bist du gegen uns? Seit wann hilfst du Schwulen?“ Danach gingen sie zum Erfurter Anger, einem belebten Platz, und nahmen die Straßenbahn nach Hause.

Die beiden Angreiferinnen brachen Heinz Mädel neun Rippen. Heinz Mädel erlitt Prellungsblutungen in beiden Lungenflügeln, sowie ein Hämatom um das Auge herum. Die Lunge wurde punktiert, sodass sich Blut darin sammelte. Aus diesen Verletzungen heraus und organischen Vorschäden entwickelte sich in den Folgetagen für Heinz Mädel eine tödliche Lungenentzündung. An dieser Entzündung verstarb Heinz Mädel am 1. Juli 1990 um 14.10 Uhr.

„Er habe sich nicht gewehrt, um die Skinheads nicht weiter zu provozieren […].“

Die zwei Täterinnen waren in die Erfurter Altstadt gefahren, um „etwas zu erleben“, wie es im Gerichtsurteil hieß. Sie trafen sich gegen 18:30 Uhr und gingen in die Gaststätte „Stadt Berlin“ im Rieth, um vor der kurz bevorstehenden Währungsunion ihr verbliebenes DDR-Bargeld auszugeben. Sie tranken viel Alkohol (2,5 Promille Blutalkohol laut Gerichtsurteil) und verließen gegen 21:45 Uhr die Disko in Richtung Innenstadt: „Damit verband sich gedanklich die Möglichkeit, noch etwas zu erleben. Sie waren in der Vergangenheit wiederholt dabei, wie in der Leninstraße Leute angepöbelt wurden, von denen man meinte, es seien Homosexuelle, danach geschlagen, ins Gebüsch gezerrt oder übers Geländer geschubst worden sind. Sie empfanden das als Jux und Spaß. Beide Angeklagten haben keine ablehnende Haltung Homosexuellen gegenüber. Sie haben sich bisher keine tiefgründigeren Gedanken über diese Art der sexuellen Veranlagung gemacht.“ (131-274-90 KLs Jug.). Für die Tat brauchte es jedoch keine „tiefgründigeren Gedanken“. Es reichte der spontane Anlass, ihre schwulenfeindliche Einstellung in die Tat umzusetzen. S. und K. wollten als sozialrandständige, „fremde“, homosexuelle markierte Personen aus der Innenstadt mit Gewalt vertreiben.

In der Innenstadt angelangt, trafen sie sich mit einer Gruppe Jugendlicher an einem üblichen Treffpunkt, einem Bratwurststand in der Leninstraße. Dieser Imbiss war auch anderen Menschen in dieser Zeit als Treffpunkt von rechten Skinheads und Neonazis bekannt. Aus dieser Gruppe heraus beobachteten sie Heinz Mädel und gingen auf ihn zu. Die Gruppe aus Jugendlichen, Skinheads und Neonazis schaute der Tat zu. Kreiskriminalrat Eckhardt sagte in der Thüringer Allgemeine und im STERN damals, dass K. und S. diese Gruppe beeindrucken wollten.

Anwohner*innen aus der Futterstraße und Leninstraße riefen die Polizei, die auch am Tatort ankam. Heinz Mädel war zu diesem Zeitpunkt noch ansprechbar und wurde vernommen. So beschrieb er den Polizist*innen: „Er habe sich nicht weiter gewehrt, um die Skinheads nicht zu provozieren, die sich selbst nicht beteiligt hätten, sondern nur zugesehen hätten“ (TA 1990, 143, 06.07.1990, S. 2), fasst die Thüringer Allgemeine Heinz Mädels Aussage zusammen. Es blieb die einzige direkte Aussage Heinz Mädels.

Persönlichkeitsfremd – Das Gerichtsurteil

K. und S. wurden am 03. Juli 1990 festgenommen und blieben bis zum 22. November 1990 in Untersuchungshaft. Zum Zeitpunkt des Urteils am 23. Mai 1991 waren beide auf freiem Fuß und sollten es auch danach bleiben. Im Gerichtsprozess wurden S. und K. wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge, bei alkoholbedingter Schuldunzurechnungsfähigkeit unter Anwendung des DDR-Jugendstrafrechts zu jeweils 1 Jahr und 10 Monaten (K.) und 1 Jahr und 6 Monaten (S.) auf Bewährung verurteilt.

Im Gerichtsprozess wurde in weiten Teilen den Ausführungen der Täterinnen gefolgt.

Weitere Zeugenaussagen, die beispielsweise die Verbindung von K. und S. zur umstehenden Gruppe betrafen, wurden verworfen. Die Entschuldungs-Narrative bezogen sich auch auf die Sozialprognose der zwei Täterinnen. Sie seien durch ihre Eltern entweder vernachlässigt oder „verwöhnt“ worden und hätten zum Zeitpunkt der Tat durch die Wirrnisse des systemischen Umbruches und ihrer Arbeitslosigkeit keinen Ausweg für ihre Frustration gefunden. Der zu sich genommene Alkohol wurde als weitere Entschuldigung angeführt: „Ihr Hemmungsvermögen war so herabgesetzt, dass sie der Tat erheblich weniger Widerstand zu leisten vermochten.“ Mittlerweile hätten aber beide Täterinnen eine Ausbildung in Aussicht und es wäre für einen guten Lebensweg alles vorbereitet. So konstatierte das Gericht, dass den beiden Frauen die Tat „persönlichkeitsfremd“ sei, dass es eine „Ausnahme- oder Exzess-Handlung“ gewesen sei.

In der Gesamtschau des Gerichtsprozesses zeigte sich die aktive Verneinung von gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen als Tatmotiv für den Angriff auf Heinz Mädel. Ebenso wurde die Gruppendynamik dekonstruiert und die Tat zu einer Einzeltat ohne Vorläufer umgedeutet.

Post mortem. Was nach dem Tod übrig bleibt

Nach der Tat berichtete die Lokalzeitung in insgesamt drei Artikeln zu Heinz Mädel. Im ersten Artikel, der noch auf der Titelseite erschien, wurde der Überfall als „Höhepunkt der Gewalt“ in der Stadt durch Kriminalrat Klaus Eckardt bezeichnet. Im zweiten Artikel gab es etwas ausführlichere Details zum Vorfall und die umstehende Gruppe Skinheads wurde in einen eindeutigen Zusammenhang mit der Tat gebracht. In dem dritten Artikel verschwand Heinz Mädel aus der Berichterstattung, da sich der Artikel um den Verbleib der Täterinnen in Untersuchungshaft drehte. Über den Gerichtsprozess wurde nicht berichtet.

Überregionale erschien ein Artikel im STERN zu diesem Fall, die beiden Journalisten sprachen hier mit den Eltern der Täterinnen und mit Augenzeug*innen.

In der Literatur findet sich Heinz Mädel nur in drei Erwähnungen wieder: bei Andreas Borchers „Neue Nazis im Osten“ von 1992 als Auftakt einer Auflistung von rechter Gewalt in Ostdeutschland; bei Matthias Quent „Die Entwicklung der Neonazi–Szene in Thüringen“ (2011, hier) in Rückbezug auf Borchert, sowie bei Jörg Hafkemeyer „Brauner Sumpf in Thüringen“ (2011, hier). In den letzten Jahren kamen jedoch verschiedene Onlinepublikationen hinzu, die die Geschichte von Heinz Mädel aufgriffen und kontextualisiert haben  (hier, hier und hier).

Die Erinnerung an die Geschichte von Heinz Mädel verlief in mehreren Schritten: Zuerst verlor er seinen Namen, danach wurde er nicht mehr erwähnt, sondern die Täterinnen in den Blick genommen. Bis zu dem Punkt, dass über den Gerichtsprozess nicht mehr gesprochen und diese Tat nur noch zu kurzen Sätzen gemacht wurde.

Heute erinnert kaum etwas an Heinz Mädel. Darum:

Sagt seinen Namen: Heinz Mädel


Anmerkung:

Heinz Mädel wird in der Chronik der Todesopfer rechter Gewalt genannt, weil er aufgrund einer schwulenfeindlichen und sozialdarwinistischen Motivation der Täterinnen getötet wurde. Er wird jedoch außerhalb der Zählung geführt, weil eine Anerkennung von offizieller Seite durch die Bundesregierung ausgeschlossen werden kann. Die Bundesregierung führt eine Statistik über Todesopfer rechter Gewalt erst ab dem 3. Oktober 1990. Infolgedessen wird Heinz Mädel von der offiziellen Statistik nicht erfasst.

Hintergründe

Sieg für Compact – die rechtsextreme Normalisierung schreitet voran

Jürgen und Stephanie Elsässer nach der Urteilsverkündung (Quelle: Thomas Witzgall)

Am 24. Juni hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über das Verbot des rechtsextremen Magazins Compact entschieden – und zugunsten der rechtsextremen Propaganda-Plattform geurteilt. Diese fatale Entscheidung könnte weit über das Schicksal des rechtsextremen Mediums hinausreichen – insbesondere mit Blick auf die AfD und weitere Organisationen der Neuen Rechten, die sich nun bestärkt fühlen dürften.

Auslagerung an die Zivilgesellschaft

Der vorsitzende Richter Ingo Kraft entschied, die Inhalte von Compact seien als „überspitzte, aber zulässige Migrationskritik“ zu deuten. Ein Urteil, das bestätigt, wie weit die Grenzen des Sagbaren bereits zugunsten rechtsextremer Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschenleben, verschoben wurden. Das Gericht begründete seine Entscheidung am Dienstag mit dem „Vertrauen auf die Kraft der freien gesellschaftlichen Auseinandersetzung“, selbst im Umgang mit „den Feinden der Freiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit“. Es vertraue „mit der Vereinigungsfreiheit grundsätzlich auf die freie gesellschaftliche Gruppenbildung und die Kraft des bürgerschaftlichen Engagements im freien und offenen politischen Diskurs“. Damit ist es jetzt wieder – an der eh schon ausgelaugten – Zivilgesellschaft, den rechtsextremen Hass von Compact weiter zurückzudrängen und gesellschaftlich zu sanktionieren. Es ist einfach fatal, dass der Kampf gegen Demokratiefeinde und Rechtsextreme immer stärker auf die Zivilgesellschaft ausgelagert wird.

Der Verfassungsschutz stuft Compact seit 2021 als gesichert rechtsextrem ein. Im November 2023 hatte das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser die Compact-Magazin GmbH verboten – ein bislang einmaliger Vorgang gegen ein Unternehmen, das sich selbst als Presseorgan bezeichnet.

Wo hört die Meinungsfreiheit auf?

Compact verbreitet in Print- und Online-Ausgaben, auf Social Media und in Videos Inhalte, die antisemitisch, rassistisch, geschichtsrevisionistisch und verschwörungsideologisch sind – aber scheinbar durch das Vereins- und Presserecht gedeckt sind. Hass und Hetze gegen Andersdenkende und ausgemachte Feinde sind hier an der Tagesordnung. Diese Agitation richtet sich aktiv gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Das sieht auch das Bundesinnenministerium so. Laut dem Ministerium habe sich das Magazin also nicht auf journalistische Arbeit beschränkt. Das Gericht sieht dennoch keinen Grund, das Medium zu verbieten.

„Wir wollen das Regime stürzen“

Compact schreibt über Migrantinnen etwa von „kulturfremden Barbaren“ und impliziert damit, Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichten, insbesondere Musliminnen, seien unzivilisiert und eine Gefahr für „die deutsche Kultur“. 2018 schrieb Compact-Chef Jürgen Elsässer: „Aufgabe der oppositionellen Medien ist es, zum Sturz des Regimes beizutragen, und dabei gehen wir Schulter an Schulter.“ Die Rhetorik bei Compact lässt kaum Zweifel an der politischen Stoßrichtung: „Wir wollen dieses Regime stürzen“, sagte Elsässer abermals 2023 bei einer Spendengala.

Für die Compact-Anwälte Ulrich Vosgerau (Teilnehmer des Potsdamer Remigrations-Treffen), Laurens Nothdurft (einst in der HDJ) und Fabian Walser sind solche Aussagen, die Menschen aufgrund bestimmter äußerer Merkmale kategorisch abwerten und sie entwürdigen, „bloße Meinungsäußerungen“ – und damit „unproblematisch“.

Gericht prüfte Grundsatzfragen

Nun musste das Bundesverwaltungsgericht – derselbe Senat, der auch über die Einstufung der AfD durch den Verfassungsschutz urteilt – klären, ob das Verbot rechtlich Bestand hat. Konkret ging es hier um die Frage, ob das Vereinsgesetz auf eine GmbH angewandt werden kann.

Compact als rechtsextreme Kampagnenorganisation

Längst ist Compact nicht mehr nur ein Printprodukt, sondern ein medialer Knotenpunkt der extremen Rechten: Auf YouTube zählte Compact TV rund 515.000 Abonnentinnen, auf Telegram über 81.000. Inhaltlich werden dort rassistische, antisemitische und demokratiefeindliche Erzählungen verbreitet. Rassistische Narrative von einer angeblichen „Migrationswaffe“ und einem „kalten Genozid am deutschen Volk“ transportieren die rechtsextreme Verschwörungserzählung eines sogenannten „Bevölkerungsaustauschs“. Dabei soll eine geheime Elite (meist antisemitisch konnotiert, etwa in der Person George Soros) ein vermeintlich weiß-christliches Stammvolk durch Migrantinnen ersetzen, da diese sich besser beherrschen ließen. Es ist die Erzählung, auf der der moderne Rechtsextremismus fußt. Mit der Aktion „Blaue Welle“ unterstützte das Magazin offen den Wahlkampf der AfD, auch das rechte Netzwerk „Ein Prozent“ wurde beworben.

Das Compact-Magazin verfolgt seit Jahren eine eigene politische Agenda, die sich gegen das demokratische System richtet. Elsässer versucht mit seinen verschiedenen Medienkanälen seit Jahren, eine Art Querfront zu schaffen. Mit dieser Strategie verfolgt er das Ziel, unterschiedliche politische Lager jenseits der etablierten Parteienlandschaft gegen das demokratische System zu vereinen – und sucht dabei gezielt Anschluss an Figuren wie Sahra Wagenknecht. Die frühere Linken-Politikerin bedient mit ihrer national-sozialpatriotischen Rhetorik ähnliche Narrative wie Compact: Kritik an Globalisierung, NATO, „Eliten“ und Migrationspolitik.

Der AfD-Faschist Björn Höcke wird bei Compact bereits als „Friedens-Kanzler“ gelabelt. In der Darstellung von Compact verschwimmen so vermeintlich rechte und linke Positionen gezielt zugunsten eines gemeinsamen Feindbilds: der liberalen Demokratie. Das Querfront-Konzept wird dadurch zu einem gefährlichen ideologischen Katalysator, der legitime Systemkritik in autoritäre Sehnsüchte überführt.

Ein Urteil mit Signalwirkung

Dass das Compact-Verbot nun aufgehoben wurde, dürfte Signalwirkung für andere Akteure der extremen Rechten haben – und sie weiter in ihrem rechtsextremen Kulturkampf bestärken. Besonders die AfD dürfte das Verfahren genauestens verfolgen. Die Partei klagt aktuell gegen ihre Einstufung als „gesichert rechtsextrem“ durch den Verfassungsschutz – ebenfalls vor dem 6. Senat. Da das Gericht jetzt zugunsten von Compact geurteilt hat, könnte das der rechtsextremen Partei als Argumentationshilfe dienen.

Rechtsextreme Normalisierung stoppen

Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens gilt Compact vielen als Paradebeispiel für die mediale Normalisierung rechtsextremer Positionen in Deutschland. Lange Zeit war das Magazin bundesweit im Bahnhofsbuchhandel und in Supermärkten erhältlich. Mit professioneller Aufmachung, anschlussfähigen Verschwörungserzählungen zur Corona-Pandemie und klarem rechtsextremen Weltbild hat Compact eine Brückenfunktion in der gesellschaftlichen Radikalisierung übernommen – vom rechtskonservativen Zweifel bis zur demokratiefeindlichen Hetze.

Das aktuelle Urteil sendet ein Signal an jene, die Medienfreiheit missbrauchen, um die Demokratie von innen heraus zu bekämpfen. Und nun wurde die Aufgabe Rechtsextremismus zu bekämpfen wieder auf die Zivilgesellschaft abgewälzt.

Todesopfer rechter Gewalt

Obdachlosenfeindlichkeit: Die vergessenen Todesopfer rechter Gewalt

© Peter Cripps - stock.adobe.com

Immer wieder erfahren Obdachlose Gewalt – die Täter sind oft Rechtsextreme. Begünstigt durch ein gesellschaftliches Leistungsklima, das obdachlose Menschen abwertet, sind die Fälle meist von einer besonderen Grausamkeit und Enthemmtheit gekennzeichnet – und bleiben dennoch weitgehend unsichtbar.

Von Maximilian Honig

Inhaltswarnung: Drastische Gewalt

März 2023: Ein arbeitsloser und von Obdachlosigkeit bedrohter Mann will seine Sorgen loswerden. Er googelt „Gefängnis letzte Rettung“, packt daraufhin ein großes Küchenmesser ein, fährt in das Frankfurter Bahnhofsviertel und verletzt einen obdachlosen Rollstuhlfahrer mit mindestens zehn Stichen in den Rücken so schwer, dass dieser später im Krankenhaus stirbt. Um selbst nicht obdachlos zu werden, tötet der Mann einen Menschen, dessen Leben ihm weniger wert zu sein scheint, als sein eigenes.

Gewalt gegen Obdachlose – eine grausame Realität mit System

Gewalttaten gegen obdachlose Menschen sind keine Einzelfälle, sondern erschreckender Alltag. Das zeigt die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik 2024: 2.194 Straftaten wurden im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit erfasst – so viele wie nie zuvor. Seit Beginn der statistischen Erhebung im Jahr 2011 hat sich die Zahl der Gewalttaten gegen Obdachlose mehr als verdreifacht, wie auch Hinz&Kunzt berichtet. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen.

Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) werden viele Fälle gar nicht angezeigt – aus Misstrauen gegenüber den Behörden oder aus Angst vor Rache. Paul Neupert, Fach- und Organisationsreferent der BAGW, beschreibt in der Zeitschrift „Wohnungslos“, dass Gewalt gegen obdachlose Menschen Alltag ist: Bedrohungen, Demütigungen, Erpressung, Schläge, Tritte, Vergewaltigungen, Brandanschläge im Schlaf, Folter und sogar Mord.

Allein im Jahr 2025 wurden bereits mehrere grausame Fälle dokumentiert:

  • Am 4. Januar prügeln drei Jugendliche in Rostock einen obdachlosen Mann krankenhausreif.
  • Im Februar tritt ein Zehntklässler mit massiver Brutalität auf einen am Boden liegenden Obdachlosen ein – mindestens achtmal, teils mit Anlauf.
  • Anfang März wird ein schlafender Obdachloser in Göttingen so schwer attackiert, dass er Knochenbrüche erleidet.
  • Anfang April werfen Unbekannte in Berlin-Friedrichshain einen Obdachlosen in die Spree.

Diskriminierung beginnt lange vor der körperlichen Gewalt

Die Gewalt beginnt nicht erst bei körperlichen Angriffen. Schon die Verdrängung aus dem öffentlichen Raum oder der Ausschluss von öffentlicher Infrastruktur sind laut BAGW Formen der Gewalt gegen Obdachlose. Diese strukturelle Ausgrenzung basiert auf tief verankerter Obdachlosenfeindlichkeit – einer gesellschaftlich akzeptierten Diskriminierung.

Dabei ist „wohnungslos“ ein weiter gefasster Begriff als „obdachlos“. Wohnungslose haben keinen eigenen Wohnraum, leben jedoch mitunter in Notunterkünften. Obdachlose hingegen verbringen ihre Nächte im Freien – oft aus Angst oder Scham, ihre Situation öffentlich zu machen.

Zwar übt ein Teil der Täter*innen selbst Gewalt im Kontext von Wohnungslosigkeit aus – etwa bei Konflikten um Ressourcen (BAGW) –, doch das gesellschaftliche Klima spielt eine zentrale Rolle. In der aktuellen Mitte-Studie 2022/23 der Friedrich-Ebert-Stiftung geben rund 20 % der Befragten an, Obdachlose sollten aus Innenstädten entfernt werden – damit man sie „nicht sehen muss“.

Der Fall Horst Hennersdorf: Ein erschütterndes Beispiel

Wie entmenschlichend sich diese Haltung äußern kann, zeigt der Mord an Horst Hennersdorf in Fürstenwalde/Spree im Jahr 1993. Zwei jugendliche Skinheads quälten den Obdachlosen stundenlang, traten und schlugen ihn, warfen Möbel auf ihn, urinierten auf ihn und übergossen ihn mit Fäkalien. Zwei Frauen beobachteten die Tat, griffen jedoch nicht ein. Einer der Täter erklärte später, das Opfer habe für ihn „wie ein dreckiger Penner“ gewirkt – eine Aussage, die tief ins rechtsextreme und sozialdarwinistische Denken blicken lässt.

Obdachlosenfeindlichkeit – eng verknüpft mit Rechtsextremismus

Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt typische Merkmale der Gewalt gegen Obdachlose: Häufig von jungen Männern verübt, situativ eskalierend, enthemmt brutal – und häufig mit rechtsextremen Tatmotiven. Dennoch wird genau dieses Motiv bei Obdachlosen besonders oft ignoriert.

Eine Langzeitstudie der Universität Bielefeld von 2002 bis 2012 ordnet Obdachlosenfeindlichkeit dem Syndrom „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ zu. Menschen, die Obdachlose abwerten, tendieren dazu, auch anderen Gruppen wie Geflüchteten oder Menschen mit Behinderung Gleichwertigkeit abzusprechen. Die Ursache liegt oft in sozialdarwinistischen Weltbildern: Wer nicht leistungsfähig ist, gilt als „weniger wert“.

Gewalt gegen Obdachlose hat historische Wurzeln

Diese Denkweise hat eine lange Geschichte. Schon im Mittelalter wurde zwischen „wahren“ und „unwahren“ Armen unterschieden – je nachdem, ob jemand „arbeitswillig“ war. Seit dem 17. Jahrhundert dienten Wohnsitz und Arbeit als Ordnungskriterien. In der Kaiserzeit galten obdachlose Männer als „Vagabunden“ oder „Landstreicher“, obdachlose Frauen als „gefallene Mädchen“ – oft gleichgesetzt mit Prostituierten (Quelle zur Geschichte).

Auch heute noch ist das Stigma groß. Laut der Langzeitstudie der Uni Bielefeld glaubten im Jahr 2010 rund 28 Prozent der Befragten, Obdachlose seien „arbeitsscheu“. Diese Sichtweise geht einher mit einem sozialdarwinistischen Weltbild, das Armut als persönliches Versagen betrachtet – ein Bild, das auch in der Leistungsgesellschaft tief verankert ist.

Gewalt gegen Obdachlose bleibt unsichtbar

In den 1990er-Jahren, den sogenannten Baseballschlägerjahren nach der Wiedervereinigung, kam es immer wieder zu Gewalttaten gegen obdachlose Menschen. Obwohl die Täter häufig rechtsextrem waren, wurden diese Angriffe lange Zeit nicht als politisch motivierte Gewalt eingestuft. So erging es auch Jürgen S., der – wie zuvor Bernd Schmidt – am 9. Juli 2000 in einem Abrisshaus in Wismar zu Tode misshandelt wurde. Trotz rechtsextremer Tätowierungen bei den Tätern erkannte das Gericht kein politisches Motiv an: Aus den Tätowierungen könne nicht zweifelsfrei auf die Gesinnung geschlossen werden, so die Begründung des Richters.

Dass Gewalt gegen Obdachlose auch heute noch weitgehend im Verborgenen bleibt, liegt nicht zuletzt daran, dass Betroffene nach wie vor nur über ein vergleichsweise kleines politisches Unterstützungsnetzwerk verfügen. Lediglich die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) engagiert sich dauerhaft für ihre Belange. Sie fordert von der Politik die Förderung präventiver und nachsorgender Konzepte, eine stärkere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt gegen wohnungslose Menschen – sowie eine konsequente Strafverfolgung der Täter*innen.

Ein Beispiel für ein solches Strafmaß: Der Täter aus dem Frankfurter Bahnhofsviertel wurde am 25. April 2025 zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Dunkelziffer derartiger Gewalttaten dürfte seitdem jedoch weiter gestiegen sein.

 

Gefördertes Projekt

Über den Tellerrand hinaus: Solidarische Vernetzung gegen Rechtsextremismus von Nürnberg nach Südthüringen

Die Naturfreunde Nürnberg machen sich mit dem Fahrrad auf den Weg zu Engagierten in Südthüringen. Foto: Naturfreunde Nürnberg Mitte, Uli

Die Nürnberger Initiative „Vernetzung gegen Rechts“ knüpft Kontakte zu Initiativen in Südthüringen und zeigt so, wie wichtig Solidarität und Austausch zwischen der Großstadt und ländlichen Räumen sind. Dabei setzen sie auf gemeinsame Aktionen, Begegnungen und gegenseitiges Zuhören, um überregionale Netzwerke im Kampf gegen Rechtsextremismus zu stärken.

Von Luisa Gerdsmeyer

„Es reicht nicht, gegen Rechtsextremismus nur vor der eigenen Haustür aktiv zu sein.“ – Mit dieser Überzeugung macht sich die Nürnberger Initiative „Vernetzung gegen Rechts“ auf den Weg nach Südthüringen, um Kontakte zu knüpfen und solidarische Netzwerke aufzubauen. Die Initiative entstand Anfang 2024 im Zuge der bundesweiten Massenproteste gegen die rechtsextreme AfD. Seitdem trifft sich die „Vernetzung gegen Rechts“ regelmäßig im Nürnberger Naturfreundehaus und bringt unterschiedliche Akteur*innen aus der Stadtgesellschaft zusammen. „Für uns war von Anfang an klar, dass wir auch über die Stadtgrenzen hinausdenken und uns aus unserer Großstadtblase hinausbewegen wollen“, erzählt Lollo von den Naturfreunden Nürnberg, die die Initiative mitgegründet hat.

Gemeinsam organisieren sie nicht nur regelmäßige Diskussionsveranstaltungen, Gegenproteste zu rechtsextremen Aktionen in Nürnberg, sondern bauen auch gezielt Kontakte und Netzwerke in ländlichen Räume auf. Ziel ist es, den Kampf gegen Rechtsextremismus gemeinsam und solidarisch zu führen – mit Anerkennung und Respekt für unterschiedliche Lebensrealitäten.

Politische Radtour von Nürnberg nach Thüringen

„Erste Kontakte nach Thüringen bestanden bei einigen von uns bereits aus beruflichen Gründen. Es war super, dass wir daran anknüpfen konnten“, erzählt Lollo. Die erste konkrete Aktion zur Vernetzung war eine Radtour im Sommer 2024. Beim sogenannten Demo-Graveln, einer politischen Radtour mit Gravelbikes, besuchten die Nürnberger Naturfreunde Engagierte in Thüringen. Beim ersten Mal noch in kleiner Runde, doch bei der zweiten Auflage im Mai 2025, die die Amadeu Antonio Stiftung mit einer Förderung unterstützte, nahmen fast 20 Personen teil. Die Gruppe kam in einem Naturfreundehaus im Thüringer Wald unter und unternahm von dort aus Tagestouren zu befreundeten Initiativen.

Sonneberg – erster Halt der Vernetzungstour

Der erste Halt der diesjährigen Tour war Sonneberg. Dort trafen sie Marcel, der die „Gewölbebar“ betreibt und den Verein “Make Some Noise e.V.” gegründet hat. Nachdem im Juni 2023 der rechtsextreme Robert Sesselmann im Landkreis Sonneberg zum deutschlandweit ersten Landrat der AfD gewählt wurde, wurde Marcel aktiv. Mit seinem Verein setzt er sich seither für ein demokratisches Sonneberg ein – mit Konzerten, Lesungen und anderen Veranstaltungen in seiner Bar.

Damit bietet er eine Anlaufstelle für alle, die sich der rechtsextremen Normalisierung in der Stadt entgegenstellen wollen. „Es war für uns alle sehr beeindruckend zu hören, mit wie viel Mut sich Marcel und seine Mitstreiter*innen in Sonneberg engagieren, trotz aller Anfeindungen und Drohungen, die sie deshalb erhalten“, so Lollo. „Uns ist bewusst, dass der Preis, den man für so eine öffentliche Positionierung gegen Rechtsextremismus zahlt, in Sonneberg ein ganz anderer ist, als bei uns in Nürnberg. Gerade deshalb ist es für uns so wichtig, dieses Engagement sichtbar zu machen, sich kennenzulernen, einander zuzuhören und voneinander zu lernen und konkret vor Ort unsere Solidarität zu zeigen.“

Foto: Naturfreunde Nürnberg Mitte, Uli

Besuch in Kloster Veßra und Almerswind: Widerstand gegen Rechtsextreme und gelebte Demokratie

Der nächste Stopp der Tour war Kloster Veßra bei Themar. Dort trafen sich die Radfahrer*innen mit dem “Bündnis für Demokratie und Weltoffenheit Kloster Veßra”. Das Bündnis gründete sich 2015, als der bekannte Neonazi Tommy Frenck einen Gasthof im Ort eröffnete. In den Jahren danach fanden dort immer wieder rechtsextreme Veranstaltungen statt. 2017 und 2018 reisten Tausende Neonazis aus ganz Europa zu Rechts-Rock-Konzerte an. Das Bündnis hielt dagegen – mit Demos direkt vor dem Konzertgelände, Gedenkaktionen für Todesopfer rechter Gewalt oder Familienfesten, mit denen sie für Demokratie und Weltoffenheit in dem kleinen Ort einstehen. Dabei haben sie einen wichtigen Erfolg erzielt: Frenck musste mit seiner Gaststätte aus den Räumlichkeiten ausziehen, die Gemeinde hatte das Vorkaufsrecht gerichtlich erstritten. „Wir sind nach Kloster Veßra gefahren, um unsere Solidarität zu zeigen, aber auch, weil wir von den Leuten dort unglaublich viel lernen können“, sagt Lollo. „Uns ist es wichtig ins Gespräch zu kommen: was brauchen die Engagierten, die hier im ländlichen Thüringen diese wichtige Arbeit leisten? Und wie können wir aus der Großstadt konkret unterstützen?“

Der dritte und letzte Besuch der Radtour führte ins Flechtwerk Almerswind, ein Bildungs- und Begegnungshaus in der Nähe von Sonneberg. In der ländlichen Gegend schafft das Projekt Gelegenheiten, damit Menschen zusammenkommen – etwa bei Kulturveranstaltungen, Workshops oder Gesprächsrunden. Ziel ist es, dem Gefühl der Vereinzelung und politischen Sprachlosigkeit entgegenzuwirken und Dialog wieder möglich zu machen. Für die Besucher*innen aus Nürnberg war das Flechtwerk ein eindrückliches Beispiel, wie gelebte Demokratie vor Ort aussehen kann.

Abschlussveranstaltung in Nürnberg: „Aktiv ist Muss!“

Den Abschluss des von der Amadeu Antonio Stiftung geförderten Vernetzungsprojekts bildete eine Diskussionsveranstaltung in Nürnberg unter dem Motto „Aktiv ist Muss! – Gemeinsam gegen den Rechtsruck“, zu der die Naturfreunde gemeinsam mit den “Omas gegen Rechts” einluden. Aktive, die sich etwa in Gewerkschaften, migrantischen Selbstorganisationen oder in anderen Kontexten gegen Rechtsextremismus und Rassismus einsetzen, kamen zusammen, um sich über ihre Perspektiven, Erfahrungen und politischen Forderungen auszutauschen. Mit dabei war auch hier Marcel aus Sonneberg. Das Fazit: Nur, wenn wir Stadt und Land, Ost- und Westdeutschland zusammen denken und uns gegenseitig unterstützen, können wir dem erstarkenden Rechtsextremismus wirksam etwas entgegensetzen. „Die Demokratie geht uns alle etwas an – und verteidigen können wir sie nur gemeinsam, wenn wir keine Region damit alleine lassen“, betont Lollo.

Foto: Naturfreunde Nürnberg Mitte, Uli

Die Vernetzung geht weiter – Ideen für die nächsten gemeinsamen Projekte

Die Zusammenarbeit der Naturfreunde Nürnberg mit den Engagierten in Themar, Sonneberg und Almerswind soll weitergehen. Aktuell sind sie im Austausch, um gemeinsame Projektideen und Möglichkeiten der gegenseitigen Unterstützung zu planen, beispielsweise mit dem Bündnis für Demokratie und Weltoffenheit Kloster Veßra. „Das Bündnis plant bald ein Familienfest. Eine Idee ist, dass wir als Naturfreunde Nürnberg zur Unterstützung hinfahren, eine Kletterwand mitbringen und so sportliche Angebote mit politischer Bildung verbinden“, erzählt Lollo. „Gleichzeitig hat das Bündnis in Kloster Veßra bereits viel Erfahrung mit den unterschiedlichsten Aktionsformen. Von diesem Erfahrungswissen können wir sehr profitieren. Vielleicht lässt sich eine ihrer Protestaktionen so ähnlich auch in Nürnberg umsetzen, um gegen die rechtsextremen Demos zu protestieren, die hier jeden Montag in der Innenstadt stattfinden.“

Die Vernetzung zwischen Nürnberg und Südthüringen zeigt, welches Potenzial darin liegt, wenn Menschen aus unterschiedlichen Regionen sich zusammentun. Der Einsatz gegen Rechtsextremismus muss als gemeinsame Aufgabe verstanden werden. Es braucht solidarische Allianzen und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, sich zuzuhören und voneinander zu lernen.

Analyse

Zwischen Desinformation und Gewalt: Wie die AfD den Neonazi-Angriff in Bad Freienwalde für ihre Agenda umdeutet

Am vergangenen Sonntag wurde das Fest der Vielfalt in Bad Freienwalde, das als buntes Zeichen für Toleranz, Demokratie und gegen Rechtsextremismus geplant war, von einem brutalen Angriff überschattet. Vermummte Täter, mutmaßlich aus dem Umfeld der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“, stürmten mit Holzlatten und anderen Schlagwaffen die Veranstaltung, verletzten Teilnehmende und verbreiteten Angst unter den Besucher*innen – darunter viele Familien mit Kindern. Der Angriff offenbart einmal mehr die zunehmende Bedrohung durch rechte Gewalt und die gezielten Versuche, zivilgesellschaftliches Engagement zu diskreditieren und einzuschüchtern. Bereits im Februar geriet eine Veranstaltung von „Bad Freienwalde ist bunt“ zur Zielscheibe der rechtsextremen Kleinstpartei. Wenige Tage nach dem Angriff von Neonazis aus dem mutmaßlichen Umfeld des „III. Weg“veröffentlicht die AfD ein gezieltes Desinformationsvideo. Ziel dieses Videos ist es, die Veranstalter*innen zu diffamieren und den rechtsextremen Hintergrund des Angriffs in Zweifel zu ziehen.

Der AfD-Direktkandidat Lars Günther – selbst nicht vor Ort, ebenso wie sein fragwürdiger Gesprächspartner – behauptet darin, „aufzuklären, was wirklich in Bad Freienwalde passiert ist“. Günther ist tief in der rechtsextremen Szene verwurzelt: Er war Mitarbeiter des rechtsextremen Verlags Compact und gilt als enger Vertrauter von Andreas Kalbitz. Das Video ist durchzogen von offener Queer- und Transfeindlichkeit – genau dieses Feindbild wird gezielt bedient, weil es in ihrer Anhängerschaft auf Resonanz stößt. Dabei ging es bei der Veranstaltung „Bad Freienwalde ist bunt“ um weit mehr: ein kleines, lokales Demokratiefest, offen für alle. Ein Fest der demokratischen Zivilgesellschaft, das Menschenrechte feiert, Vielfalt lebt und niemanden ausschließt. Genau deshalb wurde es zum Ziel eines Angriffs. Es war ein Angriff auf all jene, die sich für ein friedliches, solidarisches und demokratisches Miteinander einsetzen – und sich trotz rechtsextremer Einschüchterung nicht zurückziehen.

„Bad Freienwalde ist bunt“: ein Fest für Demokratie und Vielfalt

Aus diesem Grund wird „Bad Freienwalde ist bunt“ nun von Günther und seinem Gesprächspartner als „Fest des Gender-Kults und der Regenbogenfahnen“ diffamiert und diskreditiert. Dabei bedienen sie sich nahezu aller gängigen rechtsextremen Narrative zur sexuellen und geschlechtlichen Selbstbestimmung. Unter dem Deckmantel des vermeintlichen Kinderschutzes und der angeblichen Frühsexualisierung werden trans* Menschen entmenschlicht und kriminalisiert. Queere und trans* Identität werden als „wider der Natur“ und „Fetisch“ bezeichnet – ein perfides und etabliertes Narrativ der extremen Rechten. Diese Hetze geht einher mit systematischer Faktenverdrehung: Presseberichte werden als parteiisch dargestellt, das Bildungssystem wird beschuldigt, Kinder zu ideologisieren.

Verschwörungsmythen und Täter-Opfer-Umkehr

Zusätzlich versucht die AfD, den rechtsextremen Angriff als Inszenierung zu verkaufen. So behauptet Günther, die Presse sei „schon vorher da gewesen“, Teilnehmende seien „angekarrt“ worden, und es wird über angebliche „Lohnlisten“ spekuliert, auf denen die Täter gestanden haben sollen. Solche absurden Verschwörungsmythen treffen jedoch auf offene Ohren in der AfD-Anhängerschaft.

Zwischen den Zeilen – und teils ganz offen – äußert das Video Verständnis für den Angriff. Günther macht keinen Hehl daraus, dass er das Fest ablehnt, und bietet den Angreifern sogar Unterstützung an: „Wir finden Mittel und Wege, wie man seinen Zorn kanalisieren kann!“ Die bewaffnete Gewalt der Neonazis wird verharmlost, während der Selbstschutz der Anwesenden als Selbstjustiz diffamiert wird. In typischer Hufeisenrhetorik ist die Rede von „gewaltbereiten Antifa-Kadern“ – eine klare Täter-Opfer-Umkehr. Besonders fatal ist die verharmlosende Entpolitisierung des Angriffs durch den Bürgermeister der Stadt, der die Tat lediglich als „Störung“ bezeichnet und den Medien vorwirft, die Geschehnisse „aufgebauscht“ zu haben. So entsteht ein gefährlicher Mix aus Relativierung, Desinformation und gezielter Hetze.

Doch es geht noch weiter: Günther behauptet, „Bad Freienwalde ist bunt genug“, und wirft der Initiative vor, sich nicht um die „wahren Probleme“ der Region zu kümmern. Dabei instrumentalisiert er den Neonazi-Angriff am helllichten Tag, um rassistische Stimmung gegen „kriminelle Migranten“ zu schüren.

Arbeitsteilung der extremen Hetze: Hetze, Gewalt und Desinformation

Was wir hier erleben, ist die arbeitsteilige Strategie der extremen Rechten: Die AfD hetzt gegen Queers*, Vielfalt und Demokratie – Neonazis greifen an. Durch Desinformation, Verschwörungsmythen und gezielte Skandalisierung soll die demokratische Zivilgesellschaft diskreditiert und delegitimiert werden.

Das ist brandgefährlich. Es muss immer wieder betont werden: Die AfD ist eine queer- und transfeindliche, antidemokratische und rechtsextreme Partei. Auch in diesem Fall nutzt sie ihre Reichweite und ihre Netzwerke gezielt, um die Gewalt von Neonazis zu relativieren – und demokratisches Engagement zu diskreditieren. Unsere Solidarität und unser Dank gelten allen engagierten Menschen in Bad Freienwalde, die sich trotz solcher Angriffe und Schmutzkampagnen nicht einschüchtern lassen – und mit Veranstaltungen wie dem Vielfaltsfest für eine offene, demokratische Gesellschaft einstehen.

Neuerscheinung

Die Rolle der UNO im Fokus – Neues Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus #14 veröffentlicht

Anlässlich des 80. Geburtstags der Vereinten Nationen blickt die Amadeu Antonio Stiftung auf die Schattenseiten einer Institution, deren einstiger Friedensanspruch heute immer häufiger infrage gestellt wird. Das neue zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus #14 beleuchtet, wie UN-Institutionen und ihre Vertreter*innen seit dem 7. Oktober 2023 zur Relativierung von Terror beitragen – und welche Folgen das für die Debatte über Israel und Antisemitismus in Deutschland hat.

Die Bilanz ist ernüchternd: Statt ein Ort für Frieden und Menschenrechte zu sein, wurde die UNO nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 vielfach zur Bühne für Verzerrung, Relativierung und Doppelmoral. UNRWA-Mitarbeiter*innen sollen direkt am Massaker beteiligt gewesen sein. Andere UN-Organisationen reagierten viel zu spät auf die sexualisierte Gewalt, die an diesem Tag dokumentiert wurde. Und israelische Geiseln berichten, in UN-Gebäuden festgehalten worden zu sein. Gleichzeitig scheut sich die Generalversammlung weiterhin davor, die Hamas als das zu benennen, was sie ist: eine Terrororganisation.

Was das mit Deutschland zu tun hat? Sehr viel. Denn UN-Resolutionen und Aussagen ranghoher UN-Vertreterinnen werden in Deutschland von antisemitischen Akteurinnen immer wieder als scheinbar neutrale Belege für israelfeindliche Narrative herangezogen – quer durch alle politischen Milieus. In Demonstrationen, auf Social Media oder im politischen Diskurs: Die Vereinten Nationen werden instrumentalisiert, um Antisemitismus unter dem Deckmantel der Israelkritik zu legitimieren.

Die Amadeu Antonio Stiftung dokumentiert, analysiert und bewertet antisemitische Vorfälle in Deutschland seit vielen Jahren. Mit dem Lagebild Antisemitismus #14 richten wir den Blick auf die internationale Bühne – und ihre Wirkung auf die deutsche Gesellschaft.

Die fünf Kernbeobachtungen im Überblick:

1. Resolution: Israelfeindschaft als Mehrheitsmeinung

Die UNO ist eine Versammlung ihrer Mitgliedstaaten – viele davon autokratisch regiert und demokratiefeindlich. In dieser Konstellation prägt eine israelfeindliche Mehrheit seit Jahrzehnten die Nahostpolitik der Vereinten Nationen. Nach dem 7. Oktober wurde deutlich, wie dysfunktional dieses System ist: Statt Israel zu unterstützen, kippte die Mehrheit Resolutionen, die Terror verurteilen sollten – oder formulierte diese bewusst einseitig.

2. Verkehrte Welt: Verharmlosung der Hamas, Delegitimierung Israels

Während Israel für seine Selbstverteidigung verurteilt wird, bleiben Verurteilungen der Hamas aus. UNO-Vertreter*innen sprechen von „Widerstand“, statt den Terror als solchen zu benennen. Diese Rhetorik verschleiert die Gräueltaten vom 7. Oktober und findet erschreckend viel Resonanz auch in deutschen Diskursen – sei es auf der Straße oder in den sozialen Medien.

3. UNO als Legitimationsinstanz für Antisemitismus

Antisemitische Narrative erhalten durch UN-Statements, Resolutionen und Berichte eine scheinbar moralische und politische Legitimität. Begriffe wie „Genozid“ oder „Menschenrechtsverletzungen“ gegen Israel werden oft unkritisch übernommen – während gleichzeitig sexualisierte Gewalt durch die Hamas kaum benannt wird. Diese Schieflage wirkt weit über die UN hinaus und prägt auch den deutschen Diskurs.

4. Beitrag zur Destabilisierung des Nahen Ostens

Statt Frieden zu fördern, verstärkt die UNO durch ihre einseitige Haltung bestehende Konfliktlinien. Besonders problematisch: das Verhalten des UN-Hilfswerks UNRWA, dessen Schulmaterialien und Personal wiederholt antisemitische Inhalte verbreitet haben. Die institutionelle Praxis der UNO trägt so zur langfristigen Destabilisierung der Region bei – und untergräbt das Vertrauen vieler Jüdinnen*Juden in diese internationale Institution.

5. Zahnlose Staatsräson: Deutschlands doppelte Standards

Trotz der oft zitierten Staatsräson – der besonderen Verantwortung gegenüber Israel – zeigt Deutschlands Verhalten in der UNO ein anderes Bild. Seit dem 7. Oktober hat die Bundesregierung mehreren israelkritischen Resolutionen zugestimmt oder sich enthalten – und gehört weiterhin zu den größten Geldgebern der UNRWA. Eine klare und verlässliche Haltung sieht anders aus.

Das Lagebild Antisemitismus #14 bietet eine tiefgehende Analyse der Rolle der UNO im Kontext des israelbezogenen Antisemitismus – und zeigt auf, wie internationale Politik antisemitische Diskurse in Deutschland beeinflusst.

Das vollständige Lagebild steht ab sofort digital und als Printversion zur Verfügung.

 Hier geht’s zur Publikation

 

Positionspapier

Bauen wir Zukunft: Mit Infrastruktur Demokratie stärken

Mit dem geplanten Infrastruktursondervermögen von bis zu 500 Milliarden Euro planen die Bundesregierung und Bundesländer eine der größten öffentlichen Investitionsoffensiven der Nachkriegsgeschichte. Das Sondervermögen bietet die einmalige Gelegenheit, Deutschland klimaneutral, wirtschaftlich und infrastrukturell zu modernisieren und dabei die Demokratie zu stärken.

Doch Zukunftsfähigkeit bedeutet mehr als Schienen, Stromtrassen und Serverkapazitäten. Wer die Transformation nachhaltig gestalten will, muss auch die demokratische Substanz des Landes stärken – insbesondere dort, wo das Vertrauen in Staat und Institutionen bereits brüchig ist.

Zum Download: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2025/06/Verbaende-und-Zivilgesellschaft_Bauen-wir-Zukunft.pdf

Demokratie ist Standortfaktor – und Sicherheitsfaktor

In vielen Regionen – insbesondere strukturschwachen – fehlt es nicht nur an technischer Infrastruktur, sondern auch an öffentlicher Sichtbarkeit, Beteiligung und demokratischer Anbindung. Gerade junge Menschen erleben den Staat zunehmend als fern und unzugänglich. In diesen Räumen gedeiht die populistische Erzählung vom Staatsversagen – und Lücken staatlicher Versorgung werden von rechtsextremen Kräften gezielt genutzt.

Diese Leerstelle ist sicherheitspolitisch relevant. Laut Verfassungsschutzbericht 2024 ist die Zahl rechtsextremistisch motivierter Straftaten um 47 % auf über 37.800 Fälle gestiegen. Besonders auffällig ist die Herausbildung einer neuen rechtsextremen Jugendkultur – digital vernetzt, aktionsorientiert, häufig gewaltbereit und sogar terroristisch vereinigt. Wachsende Gewalt gegen Kulturzentren und queere Räume, CSDs und die demokratische Zivilgesellschaft zeigt, dass diese Entwicklungen nicht marginal sind. Rußlands hybrider Krieg gegen die liberalen Demokratien verstärkt gezielt politische Polarisierung und die Verbreitung von Falschinformationen. Stärkung demokratischer Resilienz gegen Bedrohungen von innen und außen muss ein Ziel der umfassenden Investitionen sein.

Demokratieförderung – insbesondere durch soziale Orte, Jugendbeteiligung, politische Bildung, Medienkompetenz und zivilgesellschaftliche Infrastruktur – ist Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Sicherheit sowie Fachkräftegewinnung und wirtschaftliche Wachstumsfähigkeit. Wo Demokratie nicht funktioniert und Menschen Angst haben, gerät auch Transformation ins Stocken.

Investitionen müssen ankommen – und verbinden

Damit das Sondervermögen wirkt, muss es dort ankommen, wo Menschen die Transformation unmittelbar erleben. Es braucht Investitionen, die das Leben spürbar verbessern: durch funktionierenden ÖPNV, moderne Schulgebäude, oder neue Wärmenetze, die Zugang zu erneuerbarer Energie schaffen. Diese Maßnahmen sind mehr als die Summe ihrer Teile: Sie erhöhen nicht nur die Lebensqualität, sondern schaffen Vertrauen.

Doch Infrastruktur allein reicht nicht. Auch Orte der Begegnung, Beteiligung und Demokratie müssen entstehen – vor allem in Regionen, in denen sich viele Menschen abgewendet haben. Hier kann das Sondervermögen zeigen: Der Staat sieht euch, öffnet Räume, hört zu – und lässt mitgestalten.

Beteiligung schützt Demokratie

Die Demokratieforschung ist eindeutig: Beteiligung ist ein wirksamer Schutzfaktor gegen Radikalisierung. Studien des Berlin-Instituts, des WZB, der Bertelsmann Stiftung, des Instituts für Demokratieforschung in Göttingen, des IDZ Jena und der Universität Leipzig zeigen: Wer sich wirksam beteiligen kann, ist weniger anfällig für autoritäre, rechtsextreme und verschwörungsideologische Narrative. Besonders in strukturschwachen Räumen kann Beteiligung verlorenes Vertrauen zurückbringen – und demokratische Resilienz stärken.

Unsere Empfehlungen

Damit das Investitionspaket nicht nur Wachstum, sondern auch demokratische Resilienz stärkt, braucht es klare Leitplanken:

1. Demokratische Kultur als Querschnittsziel

Alle Maßnahmen des Sondervermögens sollten systematisch auf ihre Wirkung für gesellschaftliche Teilhabe, Repräsentanz und Zusammenhalt geprüft werden – analog zu Nachhaltigkeitskriterien.

2. Vorrang für strukturell benachteiligte Regionen und Einrichtungen

Die Mittelvergabe sollte dort ansetzen, wo das Vertrauen in staatliches Handeln besonders fragil ist – etwa über einen demokratiepolitisch sensiblen Sozialindex. Überdies bieten sich entlang der Fördermaßnahmen Chancen, gezielt Kompetenzen zu fördern und den Zugang zu Bildung und Beteiligung zu erweitern, die den Mehrwert eines modernen Deutschland für alle erfahrbar machen.

3. Feste Anteile für soziale Infrastruktur

Mindestens fünf Prozent des Gesamtvolumens sollten verpflichtend in demokratierelevante Räume fließen – darunter Jugendzentren und Orte der Jugendverbandsarbeit, Demokratieläden, Stadtteilforen und Orte der Begegnung.

4. Verbindliche Beteiligungsverfahren

Die Stärkung der Handlungsfähigkeit von Kommunen und Maßnahmen wie kommunale Investitionsbeiräte mit zivilgesellschaftlicher Beteiligung können sicherstellen, dass Maßnahmen vor Ort legitimiert, bedarfsorientiert und wirkungsvoll sind. Diese sollten wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden.

5. Synergien mit Programmen für politische Bildung und Gewaltprävention schaffen

Über das Infrastruktursondervermögen hinaus sollte weiterhin in Programme für politische Bildung, Medienkompetenz und präventive Jugendarbeit investiert werden. Die Förderung für junge Menschen in ländlichen und strukturschwachen Regionen mindert die Anfälligkeit für extremistische Narrative und stärkt Teilhabe- und Zukunftsperspektiven. Die Studie „Wer sind die Neuen?“ (Campact & DPZ 2025) zeigt: Demokratische Bildung ist ein zentraler Baustein, um Radikalisierung vorzubeugen – und gesellschaftliche Stabilität langfristig zu sichern.

Demokratie mitdenken heißt: Zukunft sichern

Wer heute in Infrastruktur investiert, gestaltet auch das gesellschaftliche Fundament von morgen. Demokratie darf dabei kein Nebengedanke bleiben. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass Wandel gelingt, Konflikte produktiv bearbeitet werden – und junge Menschen die Zukunft mitgestalten wollen.

Noch ist offen, wie die Mittel konkret vergeben werden. Noch ist Zeit, Demokratie mitzudenken.

Dieser Aufruf wird mitgetragen von:

Timo Reinfrank, Amadeu Antonio Stiftung

Julia Paaß, Netzwerk Zukunftsorte
Henning Flad, Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus (BAG K+R)

Gökay Sofuoglu und Aslihan Yesilkaya Yurtbay, Türkische Gemeinde in Deutschland

Heiko Klare, Bundesverband Mobile Beratung

Prof. Dr. Katrin Großmann, 

Forschungskollektiv Peripherie & Zentrum (FPZ), FH Erfurt

Dr. Romy Reimer, FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e.V., Bundesvereinigung

Olaf Ebert, Stiftung Bürger für Bürger

Matthias Petzold, SUPERBLOCKS Leipzig e.V.

CAIA Academy gGmbH

Sophie Renz, Leipzig+Kultur e.V.

Michael Nattke, Kulturbüro Sachsen e.V.

Jutta Hieronymus, ECOnGOOD / Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland e.V.

Michael Kreutzmann, ECOnGOOD Gemeinwohl-Ökonomie Hamburg

Ludger Lemper, KulturMarktHalle e.V. – Stadtteilzentrum Prenzlauer Berg OST

Friedrich Rohde, KIEZconnect e.V.
Frederik Fischer, Neulandia

Ariane Jedlitschka, Helden wider Willen e.V.

Andreas Stäbe, Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC)

 

Mamad Mohamad, Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e.V.

BI Wuhlheide, Berlin

Extinction Rebellion Bergedorf

André Kranich, Flechtwerk Almerswind Christian von Oppen, Gutshaus der Zukunft Altfriedland

Gero von Barnewitz, Bahnhofszeit, Nauen

Anna Mauersberger, Die Station (Kulturhafen Au e.V.), Windeck

Heiko Kolz, Alsenhof Kreativzentrum Lägerdorf

Stefan Willuda und Kristina Klessmann, Beta Hof, Rethem

Eltern gegen Rechts Facilitators for Future

Christine Becker, Salutoconsult

Bündnis LokalStark – Stadtteilzentren Pankow von Berlin
Hans-Albrecht Wiehler, CoWorkLand

Steffen Richter, German Coworking Federation e.V. – Bundesverband Coworking Deutschland

Martin Strobel, goals connect e.V.

Anselm Maria Sellen, HeartWire – Kreativlabor für gesellschaftliche Herzensbildung

Melissa Pirouzkar-Moser, ZOON e.V.

Grit Körmer, Dorfbewegung Brandenburg e.V.

Hand in Hand #WirSindDieBrandmauer

Silvia Harth, Urbane Nachbarschaft Mirke gGmbH

Nina Katz, diversu e.V.

Antares Reisky, Ulab DACH Hub
Jan Pehoviak, KLuG – Köln Leben & Gestalten e.V.

Elke Fein, Institut für integrale Studien (IFIS) e.V., Freiburg (Einzelzeichnung)

Matthias Lenssen, Brainpix GmbH

Florian Michaelis, Graadwies GmbH

Kasia Wojcik, Berlin Polyphon

Sebastian Schlecht, lala.ruhr

Adrian Schefer, Marktplatz Waldschänke GmbH, Stahnsdorf

Cyrus Dominik Khazaeli, Projektraum-Drahnsdorf GbR

Amelie Salameh, Himmel und Humus GbR

Dr. Inga Ganzer, raumdeuter GbR

Wiebke Wilkens, Ankerplatz Stade e.V.

Canan Aksu, Über den Tellerrand e.V.

Julia Nagel, Annika Heinrichs und Peter Neuberger, Ein Ding der Möglichkeit e.G.

Heiko Kolz, PEOPLE PLACES PURPOSE

Prof. Dr. Renée Tribble, StädteBauProzesse, TU Dortmund

Johannes Milke und Amelie Salameh, Wir bauen Zukunft eG

Hanna Stoff, fint e.V. Gemeinsam Wandel Gestalten

 

Diese Empfehlungen wurden von zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem Bereich der Demokratie- und Beteiligungsförderung, der politischen Bildung und des Engagements formuliert. Wir stehen für weiterführende Gespräche und Fachinput zur Verfügung.

Kontakt: Anne Isakowitsch, Zukunft Demokratie, anne@zukunftdemokratie.org 

Neuerscheinung

12 Vorfälle pro Woche: Höchststand antisemitischer Vorfälle in Niedersachsen

650 antisemitische Vorfälle in Niedersachsen – so viele wie nie zuvor. Der neue Jahresbericht von RIAS Niedersachsen zeigt eindrücklich: Antisemitismus ist keine Randerscheinung, sondern Alltag für viele Jüdinnen und Juden im Land.

Vor allem seit dem 7. Oktober 2023 hat sich das gesellschaftliche Klima dramatisch verändert. Das Massaker der Hamas und der Krieg in Israel und Gaza schufen eine Gelegenheitsstruktur, die antisemitische Vorfälle begünstigte. Diese ist nicht die Ursache, aber sie lieferte den Nährboden, auf dem antisemitische Äußerungen und Handlungen massenhaft auftraten – so auch in Niedersachsen.

„Antisemitismus war 2024 für viele Jüdinnen und Juden keine abstrakte Bedrohung, sondern brutale Realität – selbst an Schutzorten wie Synagogen“, sagt Katarzyna Miszkiel-Deppe, Leiterin von RIAS Niedersachsen.

Ein bedrückendes Bild – in Zahlen und Geschichten

Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der dokumentierten Vorfälle fast verdoppelt: von 349 auf 650. Die Spannbreite reicht von Beschimpfungen, Drohungen und Sachbeschädigungen bis hin zu körperlicher Gewalt – wie dem Brandanschlag auf die Synagoge in Oldenburg.

Besonders auffällig: Mehr als 400 der dokumentierten Vorfälle bezogen sich auf Israel – israelbezogener Antisemitismus ist inzwischen die häufigste Form. Er macht deutlich, wie stark antisemitische Einstellungen an aktuelle politische Entwicklungen andocken – unabhängig davon, ob Jüdinnen und Juden selbst damit zu tun haben.

RIAS Niedersachsen versucht mit seinem vierten Jahresbericht, das Dunkelfeld sichtbar zu machen. Die dokumentierten Vorfälle eröffnen Einblicke in die verschiedenen Dimensionen von Antisemitismus – von Alltagsfeindlichkeit über Verschwörungsideologien bis hin zu antisemitischer Gewalt. Im Zentrum stehen dabei die persönlichen Erfahrungen jüdischer Menschen in Niedersachsen, nicht nur als Zahlen, sondern als eindrückliche Geschichten.

Auch an Schulen und Hochschulen mehren sich antisemitische Vorfälle – oft subtil, manchmal offen aggressiv. 215 Personen wurden direkt angegriffen, beleidigt oder bedroht – ein massiver Anstieg gegenüber dem Vorjahr.

Ein Bericht, der zum Handeln auffordert

„Es reicht nicht mehr, Antisemitismus lediglich zu verurteilen oder routinemäßig Betroffenheit zu äußern“, sagt Michael Grünberg, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Osnabrück. „Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob der bisherige Umgang mit antisemitischen Straftaten noch angemessen ist.“

Der Bericht benennt Täterbilder, Tatorte, Ideologien – und zeigt auf, wo staatliches und zivilgesellschaftliches Handeln dringend nötig ist. Er liefert aber auch Anknüpfungspunkte für Schulen, Initiativen und politische Entscheidungsträger*innen.

Denn eines ist klar: Antisemitismus geht uns alle an.

Jetzt lesen – und nicht wegschauen

Der RIAS-Bericht 2024 ist ein Weckruf. Und er ist eine Einladung: sich zu informieren, hinzusehen, nicht gleichgültig zu bleiben. Wer verstehen will, wie sich Antisemitismus heute zeigt und warum Solidarität mit jüdischem Leben wichtiger ist denn je, sollte diesen Bericht lesen.

Zum Bericht: www.amadeu-antonio-stiftung.de/publikationen/antisemitische-vorfaelle-in-niedersachsen-2024

Analyse

Brandenburg: Jungnazis greifen Demokratiefest in Bad Freienwalde an

Mit Holzlatten und anderen Schlaggegenständen haben Jungnazis ein Vielfaltsfest im brandenburgischen Bad Freienwalde angegriffen. Antifaschistische Recherche vermutet die Täter aus dem Umfeld der neofaschistischen Partei „Der III. Weg“, die seit Jahren um junge Mitglieder wirbt.

Am Sonntag gegen 11:50 Uhr griff eine Gruppe Vermummter mit Schlagwerkzeugen ein Straßenfest in Bad Freienwalde an, kurz bevor die Veranstaltung offiziell begann. Rund 50 bereits Anwesende – darunter Familien mit Kindern – wollten ein buntes Fest mit Kuchenständen, Graffiti-Workshops und Kinderschminken feiern, veranstaltet vom Bündnis „Bad Freienwalde ist bunt“. Das Fest sollte ein klares Zeichen gegen Queerfeindlichkeit, Hass und den Rechtsruck setzen. Das Bündnis wurde im Jahr 2021 ins Leben gerufen. Am Sonntag fand das Fest bereits zum fünften Mal statt. Mit dabei waren unter anderem die Omas gegen Rechts, der VVN-BdA, das Bertolt-Brecht-Gymnasium vor Ort, die Stephanus-Stiftung, das Jugendtheater Theater am Rand sowie weitere engagierte Gruppen.

In einem Video des RBB ist zu sehen, wie einer der Angreifer mit Trainingshose und Sturmhaube einem Mann mit der Faust heftig ins Gesicht schlägt. Die Täter attackierten laut Zeug*innen mehrere Teilnehmende, die sich für die Sichtbarkeit queerer Lebensweisen einsetzen und gegen Rechtsextremismus in Brandenburg mobilisieren. 

Die Polizei spricht später von einer „Gruppe von männlichen Jugendlichen“, die das Fest attackierten. Es sollen zehn bis 15 Personen gewesen sein. Sie seien überwiegend schwarz gekleidet gewesen und waren vermummt. Nun wird wegen gefährlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz ermittelt. Die für politisch motivierte Straftaten zuständige Staatsschutz-Abteilung hat die Ermittlungen übernommen.

Die Wiederkehr des Skinhead-Nazi-Looks

Seit dem Ende der Corona-Maßnahmen ist ein neues rechtsextremes Phänomen sichtbar: Neonazistische und neofaschistische Gruppen von Jugendlichen, darunter etliche Minderjährige, stellen ihre Gesinnung und ihre Gewaltbereitschaft im öffentlichen Raum wieder offen zur Schau. Es ist das Revival der Springerstiefel, Bomberjacke und Glatze. Menschenverachtende Slogans und Symbolik werden auf Kleidung und Haut gezeigt. Auf Demonstrationen, die sich zurzeit insbesondere gegen queere Lebenswelten richten, treten sie vornehmlich einheitlich schwarz gekleidet und vermummt auf.

Ihr Stil erinnert nicht nur an die 1990er-Jahre, er nimmt direkt auf sie Bezug und verherrlicht die sogenannten Baseballschläger-Jahre, die mit rassistischen Pogromen und Todesopfern einhergingen. Dieser Look war nie ganz weg, wurde gesellschaftlich aber geächtet und nur noch in den Provinzen und auf neonazistischen Veranstaltungen offen gezeigt. Die neue alte Neonazi-Inszenierung zeugt von einem großen Selbstbewusstsein der Szene und soll bewusst einschüchternd wirken. Schließlich sind diese Jungnazis extrem gewaltbereit.

Kommen die Täter aus dem Umfeld des „III. Wegs“?

Laut dem antifaschistischen Rechercheblog „aus dem Weg“ handelt es sich bei den Tätern aus Bad Freienwalde um Aktivisten vom „III Weg“ – bestätigt wurden diese Informationen allerdings noch nicht. 

„Der III. Weg“ versteht sich als Neonazi-Elite, als Kaderpartei, als geschlossener Zirkel. Es ging den Parteistrateg*innen nie um eine große Anzahl an Mitgliedern. Ihr Selbstverständnis ist eher in bewusster Abgrenzung zu anderen Neonazi-Parteien geprägt, schließlich sehen sie sich selber als die wahren Nachfolger der NSDAP. Seit einiger Zeit werben sie recht unverhohlen um junge Mitglieder und besonders in Berlin und Brandenburg scheinen sie recht erfolgreich.

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Weitere Informationen

Seit einigen Jahren macht der „III. Weg“ rechtsextreme Jugendarbeit, um junge Menschen für faschistische Ideologie zu begeistern. Im Zentrum dieser rechtsextremen Jugendarbeit steht dabei nicht so sehr ein hedonistischer Lifestyle. Vielmehr geht es hier um Wehrhaftigkeit, Körperkult, Volksgemeinschaft und Umweltschutz. Die jungen Männer und wenigen Frauen gehen gemeinsam in der Natur wandern und betätigen sich auf ihre eigene Weise für Umweltschutz oder werden in Kampfkunst trainiert. Wobei Sport für die Aktivist*innen eine herausragende Rolle einnimmt, aber immer nur Mittel zum Zweck ist. Viele junge Aktivist*innen wurden bereits durch ihre Familien ideologisiert. Trotz ihres jungen Alters sind einige bereits mehrfach mit neonazistischen Gewalttaten aufgefallen.

Statt über Musik versucht der „III. Weg“ über Sport Jugendliche zu erreichen und zu rekrutieren. Ein Konzept, das erfolgversprechend scheint, schließlich erleben wir derzeit gesamtgesellschaftlich einen Fitnessboom, der alle Bereiche des Lebens abdeckt. Die Arbeitsgruppe „Körper und Geist“ für Kampfsport und Wehrhaftigkeit des „III. Wegs“ versucht gezielt über Sport die tödlichen Ideen des Rassismus und Faschismus in die Köpfe junger Menschen zu pflanzen. Das Angebot, das die Partei-Strateg*innen jungen Menschen machen, entspricht damit wohl dem Zeitgeist junger Neonazis, denen es nicht mehr so sehr ums Feiern, Alkohol und Musik geht. Stattdessen werden sie von militanten Aktivist*innen im Straßenkampf ausgebildet. Eine sehr gefährliche Tendenz.

Das Versprechen von Stärke im rechtsextremen Kollektiv

Angesichts des in den letzten Jahren vermehrten Auftretens sehr junger Rechtsextremer sowie der Wahlerfolge der AfD bei Erst- und Jungwähler*innen kann man sich fragen, ob Rechtsextremismus als Jugendkultur zurückgekommen ist. In den letzten Jahren haben sich etliche neonazistische Jugendgruppen gegründet, die bisher nicht direkt an rechtsextreme Parteien angegliedert sind. Hier findet viel Organisierung statt. Man verabredet sich zum Wandern und zum Demonstrieren. Nach Zählungen der ZEIT gibt es aktuell ungefähr 120 dieser Gruppierungen.

Rechtsextreme Akteur*innen haben es geschafft, Angebote zu machen, die insbesondere in Krisenzeiten viele Menschen ansprechen. In einer komplizierten Welt geben sie eine einfache Antwort: ‚Nur in der Gemeinschaft bist du stark und wir bieten dir diese Gemeinschaft‘. Ein rechtsextremer Kollektivgedanke, der verbunden ist mit einer klassischen Vorstellung von Männlichkeit und Stärke.

Dass am Sonntag auf dem Demokratiefest nichts Schlimmeres passiert ist, ist besonders dem beherzten Eingreifen der Anwesenden zu verdanken. Die taz schreibt: „Ordner*innen stellten sich den Angreifenden entschlossen entgegen. Sie seien auf die Vermummten zugelaufen, hätten sie angebrüllt, dass sie abhauen sollen, und sich gewehrt.“ Wenn diese jungen Rechtsextremen am helllichten Tag ein Demokratiefest angreifen, zeigt das auch, wie selbstbewusst sie auftreten. Vermutlich auch durch die Erfolge der AfD fühlen sie sich ermächtigt, ihre Gewalt offen auszuleben.

In einem Statement nach der Tat äußert sich das Bündnis: „Wir waren heute da. Wir sind morgen da. Wir werden uns auch weiterhin für eine vielfältige, solidarische Gesellschaft einsetzen.“

Screenshot von Instagram
Interview

Feindbild Demokratie – wie Rechtsextreme die Zivilgesellschaft angreifen

Der Druck auf zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine, die sich für Demokratie und gegen Rechtsextremismus engagieren, nimmt zu. Am Beispiel des Vereins „Buntes Meißen“ zeigt sich exemplarisch, wie gefährdet die demokratische Kultur in Ostdeutschland ist.

Von Luisa Gerdsmeyer

„Früher gab es auch Anfeindungen, immer wieder mal eine beleidigende E-Mail, aber nichts Bedrohliches, was uns wirklich Angst gemacht hat“, erzählt Sören Skalicks vom Verein Buntes Meißen. „Das hat sich seit der Kommunalwahl im Sommer 2024 geändert. Die Stimmung uns gegenüber ist feindseliger geworden. Die Angriffe auf unsere Arbeit kommen jetzt auch direkt aus dem Stadtrat heraus.“ Buntes Meißen – Bündnis Zivilcourage e.V. engagiert sich im sächsischen Meißen für ein solidarisches, demokratisches Miteinander. Der Verein betreibt eine Begegnungsstätte, bietet Sprachkurse für Geflüchtete an und organisiert Freizeitangebote für Alteingesessene und Zugezogene im „internationalen Garten“.

Nicht nur in Meißen konnten Rechtsextreme ihre Macht in den Kommunalparlamenten ausweiten. In ganz Sachsen erhielt die AfD bei den Kreistagswahlen die meisten Stimmen, ebenso in vielen Stadt- und Gemeinderäten. In vielen Bundesländern ging mit den Kommunalwahlen 2024 insgesamt eine deutliche Verschiebung nach rechts einher und die AfD konnte sich auf lokaler Ebene weiter verankern – mit weitreichenden Konsequenzen für die demokratische Zivilgesellschaft vor Ort. In den Wochen und Monaten nach der Kommunalwahl, bei der die AfD auch in Meißen stärkste Kraft wurde, wurde das Bunte Meißen zur Zielscheibe einer rechtsextremen Hasskampagne– mit Drohungen, Einschüchterung und Gewalt.

Hakenkreuzschmierereien, Drohbriefe, Brandanschläge – die Eskalation rechtsextremer Gewalt

Die Situation wurde für das Bunte Meißen nach den Kommunalwahlen immer bedrohlicher, die Mitglieder bekamen haufenweise Hassnachrichten und Drohmails, das Vereinsschild wurde mit Hakenkreuzen und Hundekot beschmiert und angezündet. Bis schließlich eine Handgranatenattrappe vor dem Vereinshaus abgelegt wurde. „Hier im Triebischtal, dem Stadtteil, in dem wir uns befinden, ist die rechtsextreme Szene stark verankert. Wir sind Anfeindungen also durchaus gewöhnt. So eine massive Bedrohung kannten wir jedoch bisher nicht. Die Message an uns ist eindeutig – wir sollen uns in Meißen nicht sicher fühlen können, wenn wir uns für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus engagieren“ berichtet Sören.

Seit einigen Monaten kommt es bundesweit vermehrt zu solchen gewaltsamen Angriffen auf Jugendzentren und zivilgesellschaftliche Einrichtungen. So griffen Anfang März 2025 circa 30 vermummte Rechtsextreme den Jugendclub „Jamm“ in Senftenberg gewaltsam an, während dort eine Veranstaltung stattfand. Nur durch die schnelle Reaktion der Betreiber*innen konnte verhindert werden, dass die Angreifer*innen in das Gebäude eindringen und Besucher*innen verletzten. Im März 2025 attackierten Rechtsextreme das Hausprojekt Zelle 79 in Cottbus. Ende Mai kam es erneut zu einem mutmaßlich rechtsextrem motivierten versuchten Brandanschlag auf das Haus. Die Fälle in Meißen, Senftenberg und Cottbus stehen exemplarisch für eine besorgniserregende Entwicklung: Rechtsextreme Gewalt gegen die demokratische Zivilgesellschaft nimmt bundesweit zu.

Diffamierungs- und Desinformationskampagnen schüren Misstrauen und Vorurteile

Mit aggressiver Hetze gegen das „Bunte Meißen“ fiel insbesondere der Parteilose René Jurisch auf. Er zog für die AfD in den Stadtrat ein, war ehemals in der NPD aktiv und gründete den mittlerweile nicht mehr bestehenden rechtsextremen „Verein zur germanischen Brauchtumspflege Schwarze Sonne Meißen“. Bei der Kommunalwahl erhielt er von allen Kandidat*innen in Meißen die meisten Stimmen. „Dieses Ergebnis ist eine klare Ansage gegen alles, wofür wir stehen“, stellt Sören fest.

Begleitet werden die Angriffe von Diffamierungen und Falschmeldungen. Immer wieder werden in Meißen Gerüchte gestreut: Der Verein wolle zusätzliche Immobilien kaufen, decke oder begehe Straftaten – alles haltlose Vorwürfe. Doch die Auswirkungen sind real. „Wenn Menschen solche Geschichten ständig hören, fangen sie an zu glauben, dass da was dran ist.“ Der Verein stellte die kursierenden Falschmeldungen in einer Pressemitteilung richtig. „Doch ist eine Behauptung einmal in der Welt, ist es extrem schwer, das wieder einzufangen“, so Sören. Jüngst rief René Jurisch dazu auf, ihm zu melden, ob rund um das Bunte Meißen verdächtige Aktivitäten beobachtet würden oder die Polizei dort gesehen würde. „Wir stehen hier unter ständiger Beobachtung und aus den kleinsten Dingen werden die absurdesten Behauptungen über uns gestrickt“, erzählt Sören.

Solche Diffamierungs- und Desinformationskampagnen sind kein Einzelfall. Im sächsischen Zwickau hält sich hartnäckig die längst widerlegte Falschmeldung, am Rande des CSDs im letzten Jahr habe es eine Messerstecherei gegeben. Das schürt Misstrauen und Vorurteile in der Bevölkerung und schreckt Menschen ab, am CSD teilzunehmen und sich zu solidarisieren. Im brandenburgischen Jüterbog wiederum kamen die Diffamierungen direkt aus dem Rathaus. Der damalige AfD-Bürgermeister Arne Raue verbreitete Anfang 2025 die haltlose Behauptung, das Bündnis „Gemeinsam für Jüterbog“, das Geflüchtete unterstützt und sich gegen Rassismus und Diskriminierung einsetzt, würde Straftaten decken und „den ganzen Tag hetzen und spalten“. Ein Angriff, der die Arbeit der Engagierten delegitimieren und rassistische Ressentiments in der Bevölkerung befeuern sollte.

Parlamentarische Anfragen als Mittel zur Einschüchterung

Ein weiteres Instrument, Druck auf die Zivilgesellschaft aufzubauen und Engagierte einzuschüchtern, sind parlamentarische Anfragen. Nachdem die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag im Februar 2025 mit ihrer Anfrage zur „politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen“ einen offenen Angriff auf die demokratische Zivilgesellschaft startete, häufen sich ähnliche parlamentarische Anfragen zur Delegitimierung demokratiefördernder zivilgesellschaftlicher Arbeit in Landtagen und Kommunalparlamenten. „Auf diesen Zug sprangen CDU- und AfD-Abgeordnete in Meißen direkt mit auf“, erzählt Sören. Anfang 2025 fragte die CDU-Politikerin Daniela Kuge im sächsischen Landtag nach der Förderung des Bunten Meißen. Die AfD legte nach – mit detaillierten Fragen zu Anzahl, Gehalt, Beschäftigungsverhältnissen und –dauer der hauptamtlichen Mitarbeitenden des Vereins. „Ziel dieser Anfrage war wohl, wieder irgendwelche Informationen zu bekommen, auf deren Grundlage Unruhe gestiftet und Stimmung gegen uns gemacht werden soll. Dass es dieses Mal auch auf einer persönlichen Ebene um die Mitarbeitenden unseres Vereins ging, war für uns sehr belastend“, so Sören.

Auch in zahlreichen anderen Orte sind zivilgesellschaftliche Initiativen von dieser Strategie der Delegitimierung betroffen: In Mainz nennt die AfD über 50 zivilgesellschaftliche Initiativen in einer Liste angeblich „linksradikaler“ Gruppen und fragt nach ihrer Finanzierung. In Brandenburg zielt eine AfD-Anfrage auf die Förderung angeblich „linksextremer Strukturen“ – darunter der Senftenberger Jugendclub „Jamm“, der im März gewaltsam angegriffen wurde.

Demokratische Parteien setzen gemeinsam mit Rechtsextremen Fördermittelkürzungen durch

Existenzbedrohend wird es, wenn demokratische Parteien mit Rechtsextremen gemeinsame Sache machen. „Im Oktober 2024 wurden wir von einer kommunalen Vorschlagsliste für eine dreijährige Förderung des Europäischen Sozialfonds gestrichen – durch eine gemeinsame Entscheidung von AfD, FDP, FreieBürger und Teilen der CDU. Somit hatten wir keine Chance mehr auf die EU-Förderung, die für uns eine wichtige Stütze zur Aufrechterhaltung unserer Arbeit gewesen wäre“, erzählt Sören. Ähnlich ging eine weitere Abstimmung im April 2025 aus: Durch gemeinsame Abstimmung von AfD und CDU verweigerte der Meißener Stadtrat dem Verein auch die kommunale Förderung.

Vor der Frage, wie sie ihre Arbeit angesichts gestrichener Förderung fortführen können, steht aktuell auch der Verein Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. im sächsischen Wurzen. Mitte April 2025 entschied der Wurzener Stadtrat, die kommunale Kofinanzierung für eine Förderung des Kulturraums einzustellen. Dadurch verliert der Verein nicht nur die städtische Unterstützung, sondern auch die gesamte Kulturraumförderung, da der Zuschuss der Kommune eine Voraussetzung für die Förderung ist. Vorausgegangen war auch hier eine gezielte Stimmungsmache der AfD gegen den Verein.

Was auf dem Spiel steht – und was es jetzt braucht

„Gerade in ländlichen Räumen, wo rechtsextreme Strukturen verankert sind und Rechtsextreme den Ton in den Kommunalparlamenten angeben, braucht es Orte wie das Bunte Meißen – als Schutzraum, als Anlaufstelle für alle, die sich der rechtsextremen Normalisierung entgegensetzen wollen und als Ort, an dem Demokratie praktisch gelebt werden kann“, so Sören. Doch diesen Kampf können die Initiativen nicht alleine führen. Es braucht überregionale praktische Solidarität, einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt und mediale Aufmerksamkeit. Angriffe aus die Zivilgesellschaft und die systematische Schwächung demokratischer Strukturen dürfen nicht zur Normalität werden.

Durch große Spendenbereitschaft konnte die Arbeit des Bunten Meißen zunächst gerettet werden. „Es ist toll zu erleben, dass es Menschen gibt, die uns unterstützen und wichtig finden, was wir machen. Gleichzeitig ist eine langfristige Planung auf dieser Finanzierungsbasis nicht möglich. Wir hangeln uns von Spende zu Spende und wissen langfristig nicht, wie es weitergeht“, berichtet Sören.

Im September stehen in Meißen die Oberbürgermeisterwahlen an. Für die AfD kandidiert René Jurisch. Wie viel Raum wird demokratisches Engagement in Meißen künftig noch haben?

Stellungnahme

Israel greift das iranische Atomprogramm an: Ein Konflikt mit weitreichenden Folgen auch für Jüdinnen und Juden in Deutschland

Die erneute Eskalation zwischen Israel, das in der Nacht Angriffe auf das iranische Atomprogramm geflogen hat und dem iranischen Regime stellt nicht nur eine dramatische Zuspitzung im Nahen Osten dar, sondern hat direkte Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Während Israel gezielt gegen die nuklearen Ambitionen des Mullah-Regimes vorgeht, richtet sich die Antwort aus Teheran nicht nur gegen den jüdischen Staat, sondern zunehmend auch gegen jüdisches Leben weltweit. 

Der Angriff gilt den Atomanlagen des diktatorischen Regimes, nicht dem iranischen Volk, das seit Langem mutig gegen Unterdrückung und für Freiheit kämpft. Diese Differenzierung ist zentral – wird aber in der öffentlichen Debatte oft ausgeblendet. Denn: Die israelischen Angriffe sind eine Reaktion auf ein Atomwaffenprogramm, das von der Internationalen Atomenergiebehörde als ernsthafte Bedrohung eingestuft wird. Das Regime selbst hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass es die Vernichtung Israels zum Ziel hat – eine antisemitische Staatsräson, die sich nicht nur gegen den jüdischen Staat richtet, sondern auch gegen Jüdinnen und Juden weltweit. Diese Bedrohung ist längst in Europa angekommen – der lange Arm aus Teheran reicht auch nach Deutschland. Der Iran unterhält enge Verbindungen zu terroristischen Organisationen wie der Hamas und Hisbollah

Seit Jahren spionieren Agenten des islamistischen Regimes im Iran in Europa jüdische und (pro)israelische Ziele aus. Diese systematischen Ausspäh-Aktivitäten dienen der Vorbereitung gezielter Mordanschläge im Falle einer militärischen Eskalation mit dem Westen. Im Visier stehen jüdische und israelische Einrichtungen ebenso wie prominente Einzelpersonen. Die geplanten Anschläge machen in erschütternder Deutlichkeit klar, wie real die Bedrohung durch den antisemitischen Terror der Islamischen Republik Iran auch hier in Deutschland ist.

Wir nehmen diese Gefahr sehr ernst. Nun, da es zu einer militärischen Konfrontation zwischen Israel und dem iranischen Regime gekommen ist, stehen wir als Amadeu Antonio Stiftung fest und uneingeschränkt an der Seite der jüdischen Gemeinden in Deutschland sowie aller jüdischen und israelischen Einrichtungen.

Die Drohungen aus Teheran sind keine abstrakten Worte – sie zielen auf unsere Freund*innen Kolleg*innen und Mitbürger*innen. Wir lassen sie nicht allein. Wir sagen klar und unmissverständlich: Wir stehen ein für ihre Sicherheit, ihre Freiheit und ihr Recht auf ein Leben ohne Angst. Das ist der Maßstab unseres Handelns.

Wir verurteilen die antisemitische Politik des iranischen Regimes aufs Schärfste. Und wir fordern von Politik, Sicherheitsbehörden und Zivilgesellschaft in Deutschland eine deutliche Haltung: Gegen Antisemitismus. Gegen Terror. Für das Leben.

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