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In eigener Sache

“Es reicht, es muss sich gehörig was ändern!” Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus 2021 starten

Mit 150 Veranstaltungen in allen Bundesländern und digital sowie einer bundesweiten Plakat- und Online-Kampagne machen die Aktionswochen in den kommenden Wochen auf den alltäglichen Antisemitismus aufmerksam und machen deutlich: Es reicht! Es muss sich gehörig was ändern! 

Seit 2003 und auch in diesem Jahr machen die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus mit einer bundesweiten Kampagne und zahlreichen Veranstaltungen den antisemitischen Alltag in Deutschland sichtbar, zeigen Möglichkeiten auf, was dagegen zu tun ist und unterstützen die Zivilgesellschaft in ihrem tagtäglichen Kampf gegen Antisemitismus.

Aber nach den Anschlägen in Halle und Hanau, nach den massiven antisemitischen Ausschreitungen der letzten Jahre im Mai 2021 unter dem Deckmantel der “Israelkritik” und auch nach zahlreichen Versuchen, die Errungenschaften der Anti-Antisemitismusbekämpfung rückgängig zu machen und einen Schlussstrich zu ziehen, lautet die Botschaft in diesem Jahr: machen und einen Schlussstrich zu ziehen, lautet die Botschaft in diesem Jahr: Ja, wir machen endlich Schluss. Schluss mit Antisemitismus und Schluss mit Shalom Deutschland: mit den Phrasendrescher:innen, die große Sonntagsreden schwingen und sich bei konkreten Handlungen zurückhalten, Schluss mit Goysplainer:innen, die Jüdinnen:Juden erklären, was Antisemitismus ist und auch Schluss mit den Israelkritiker:innen, die angeblich nichts gegen Juden haben, aber Israel von der Landkarte tilgen wollen.

Und das alles im Jahr 2021, eigentlich einem Festjahr: Gefeiert werden 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Die Stimmung wird aber getrübt. 2021 ist ein Festjahr mit Beigeschmack. Gleichzeitig waren aber auch die 1699 Jahre jüdisches Leben in Deutschland vor der Corona-Pandemie – gelinde gesagt – nicht einfach. Denn Antisemitismus hat eine lange Geschichte, Verfolgungen, Vertreibungen, Morde prägen die deutsch-jüdische Geschichte.

Vielleicht ist das Festjahr aber auch gerade durch die aktuelle Gleichzeitigkeit von alltäglichem Antisemitismus und resilientem jüdischem Leben repräsentativ für die letzten 1700 Jahre: Ja, es gibt jüdisches Leben in Deutschland, es gibt jüdische Perspektiven und es gibt auch Verbündete, die sich gegen Antisemitismus engagieren, trotz alledem. Deshalb senden die Aktionswochen gleichzeitig ein <3 Shalom Deutschland <3 an diejenigen, die tagtäglich gegen diesen Antisemitismus kämpfen. Wir brauchen Standhafte und Verbündete, – wie euch – mit denen wir Schulter an Schulter gegen Antisemitismus stehen und ohne die wir unsere Arbeit nicht machen könnten.

Aus Gesprächen mit v.a. jüdischen Netzwerk- und Kooperationspartner:innen wurde diese Stimmung deutlich und floss in die Kampagnengestaltung mit ein. “Es reicht, es muss sich gehörig was ändern!“, erläutert der Projektleiter der Aktionswochen Nikolas Lelle. “Nach Hanau, nach Halle, nach antisemitischen Ausschreitungen darf sich niemand ausruhen und denken, wir hätten Antisemitismus im Griff. Es muss mehr passieren. Die jüdische Community findet sich zwischen Lobhudelei und Ignoranz wieder.” Das Ziel der Aktionswochen ist es also weiterhin den jüdischen Perspektiven Sichtbarkeit zu verschaffen. “Wo Anschläge wie Halle erst Monate her sind, kann Harmonie auf Knopfdruck keine Realität sein. Stattdessen blicken wir auf die Praktiken jüdischer Widerständigkeit, die jüdisches Leben in diesem Land überhaupt erst ermöglicht haben”, erläutert Lelle.

Diese Haltung spiegelt sich nicht nur in der Plakat- und Online-Kampagne, sondern auch in zahlreichen Kooperationsveranstaltungen, die im Rahmen der diesjährigen Aktionswochen stattfinden:

Eine Übersicht der weiteren Veranstaltungen, Hintergrundtexte zu den Plakaten, und erschienenen Publikationen im Rahmen der diesjährigen Aktionswochen finden Sie hier: www.shalom-deutschland.de

Bei Fragen wenden Sie sich an: aktionswochen@amadeu-antonio-stiftung.de

Stellungnahme

Die Bedrohungen gegen Jasmina Kuhnke sind Angriffe auf die Zivilgesellschaft

Die Schwarze Aktivistin und vierfache Mutter Jasmina Kuhnke setzt sich unter dem Social Media Synonym Quattromilf seit Jahren unentwegt und entschlossen gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit ein. Nun wurde ihre Adresse mit den Worten „Massakriert Jasmina Kuhnke“ veröffentlicht. Dies zwang sie und Ihre Familie aus der eigenen Wohnung zu fliehen und unterzutauchen.

Aktivist*innen, Politiker*innen und Organisationen, die offen die Zivilgesellschaft und demokratische Werte verteidigen, waren schon immer Ziel und Opfer von rechten Hetzkampagnen. Doch seit einigen Jahren müssen wir beobachten, wie sich menschenfeindliche Sprache im Netz derart etabliert, dass Menschen von Rassist*innen und der extremen Rechten offen bedroht und sogar körperlich angegriffen werden.

Die Verteidigung von Menschenrechten und Aktionen, sind schon Anlass für Hass und Hetze. Dabei werden Menschen, nach dem Geist des Grundgesetzes, die für die Demokratie und das Gleichwertigkeitsprinzip einstehen, zum Feindbild gemacht.

Insbesondere Frauen werden besonders häufig attackiert und gelten den Angreifer*innen als Dorn im Auge: Das Frauenbild der extremen Rechten reagiert besonders hasserfüllt auf Frauen, die sich für emanzipatorische Werte engagieren.

Ein aktuelles und besonders brutales Beispiel ist die Markierung der Frau und Mutter Jasmina Kuhnke als Zielscheibe. Nach dem jahre langem Engagement der Schwarzen Aktivistin, wurde sie nicht nur rassistisch und antifeminitsich attackiert, ihre Adresse wurde veröffentlicht und schließlich erhielt sie Morddrohungen mit dem Aufruf „Massakriert Jasmina Kuhnke“. Daraufhin musste sie mit ihrer sechsköpfigen Familie fluchtartig ihre Wohnung verlassen und schließlich umziehen. Dabei musste sie nicht nur die gesamten Kosten des Unttertauchens zahlen, sondern ebenso die Anwält*innen zur Verfolgung der Straftaten und zur Durchsetzung des Polizeischutzes.

Als seien die Anfeindungen der extremen Rechten nicht genug, kamen im Falle von Jasmina Kuhnke auch noch rechtskonservative Medien hinzu, die durch Behauptungen wie „der Kampf gegen Rassismus sei für Betroffene und Unterstützer*innen zum lukrativen ‚Geschäftsmodell‘ geworden“, die Wut und Gewaltphantasien jener Personen befeuerten, die nur allzu bereit waren Worten auch Taten folgen zu lassen.

Besonders skandalös ist, dass die Polizei die Bedrohung nicht ernst genommen und Hilfe abgelehnt hat. Es kann nicht sein, dass engagierte Personen wie Jasmina Kuhnke vom Staat nicht beschützt werden. Es sollte nach den Fällen von Hanau, Halle und dem Mord an Walter Lübcke auch der Polizei bekannt sein, dass Rechtsextremist*innen durchaus dazu in der Lage sind, Menschen zu töten. Diese unterlassene Hilfeleistung ist sowohl ein Skandal gegenüber Jasmina, aber auch gegenüber allen, die sich gegen Rechtsextremismus exponieren.

Doch Aktivist*innen wie Jasmina Kuhnke sind keine Opfer, sie sind Held*innen. Auch weil sie und viele andere aktivistische Mütter nicht nur sich selbst schützen müssen, sondern ebenso die Sicherheit ihrer Familien verantworten, ist der Schutz dieser tapferen Frauen auch unsere Verantwortung.

Deshalb unterstützen wir den Spendenaufruf unter dem Motto „SHEROES Fund“, die Aktivist*innen wie Jasmina Kuhnke unterstützen soll, die durch das fluchtartige Untertauchen, die Finanzierung von Anwält*innen und den zeitgleichen Umzug Kosten von 50.000€ tragen musste. Nachdem das Fundraising-Ziel von 50.000 € für die Unterstützung von Jasmina Kuhnke erreicht ist, soll der “Sheroes Fund” ebenso andere Sheroes unterstützen.

Sie und viele andere Sheroes werden nicht die Letzten sein, die im Kampf gegen Menschenfeindlichkeit Bedrohungen erfahren werden und keine von ihnen sollte allein gelassen werden. Deshalb rufen wir jede Person dazu auf, den Aufruf mitzutragen und zu spenden!

Unter dem Link finden Sie den Spendenaufruf und die Beschreibung zu Jasmina Kuhnkes Situation.

https://www.betterplace.org/de/projects/93203-deine-spende-fuer-shero-jasmina-kuhnke

Illustrationscredits: Beno Meli

Stellungnahme

Zum Safer Internet Day 2021: Für ein Internet, in dem sich alle sicher fühlen!

Verschwörungsideologien in Sozialen Netzwerken mobilisieren Menschen. Der “Sturm auf das Kapitol” in den USA und ein halbes Jahr davor der „Sturm auf den Reichstag“ hier in Berlin haben das gezeigt. Online-Hetze, Desinformation und Radikalisierung kann sehr reale und tödliche Folgen haben. In Christchurch, Neuseeland, tötete im Januar 2019 ein online radikalisierter Täter 51 Menschen und streamte die Tat live in Sozialen Netzwerken. Und es gab Folgetaten: die Attentate von Halle im Oktober 2019 und Hanau im Februar 2020 sind Beispiele dafür.

Neben Facebook, Youtube und Co. ist besonders Telegram ein Hotspot für die Verbreitung von Verschwörungsmythen und die Markierung von politischen Feind*innen. Was dieses hybride Medium besonders macht: Es gibt so gut wie kein Handeln der Betreiber*innen – keine Moderation, keine Sperrungen, keine Löschungen. In Kanälen mit zum Teil mehr als 100.000 Abonnent*innen, verbreiten Akteur*innen der extremen Rechten und Verschwörungsideolog*innen die Adressen von politischen Gegner*innen oder ihre Dienstanschriften. Wir wissen, dass sich Berliner Jüdinnen und Juden von den Inhalten in Atilla Hildmanns Telegram-Kanal mit rund 114.000 Abonnent*innen bedroht fühlen.

Was macht digitale Gewalt mit den betroffenen Organisationen und Einzelpersonen?

Menschen, die von solchen Anfeindungen betroffen sind, ziehen sich zurück, äußern sich weniger in Sozialen Netzwerken. So sind engagierte Frauen besonders häufig von misogynen Attacken betroffen. Die Täter veröffentlichen Telefonnummern, Mailadressen und private Anschriften – wir sprechen hier von „Doxing“. Viele Betroffene lassen sich dazu drängen, ihre Social Media-Profile zu schließen oder geben beispielsweise ihren Beruf auf. So ein Rückzug bedeutet: Den Betroffenen wird ein Teil ihres Lebens- und Informationsraums genommen. Die Folgen können wie bei anderen Gewalterfahrungen traumatisch sein. Sie reichen von Stress, Angst, Unruhe bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken. Doch auch erzwungene Umzüge oder Arbeitsplatzverluste sind sehr konkrete, schwerwiegende Lebensveränderungen – selbst wenn es nicht zu offline-Gewalt kommt.

Was sind die Auswirkungen für unsere Gesellschaft als Ganze?

In einer Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft von 2019 haben 44% der Berliner Befragten angegeben, dass sie wegen drohender und tatsächlicher Hasskommentare seltener ihre politische Meinung bei Diskussionen im Internet einbringen. Auf Organisationsebene ist es übrigens so, dass zum Beispiel ganze Medienhäuser ihre Kommentarfunktion auf Plattformen oder ihrer Website abschalten. Hassrede ist somit eine Einschränkung der Meinungsvielfalt: Denn die Stimmen von marginalisierten und diskriminierten Gruppen fehlen zunehmend. So verschieben sich auch gefühlte Mehrheiten im Land.  Denn wenn sich ganze Gruppen von besonders häufig angefeindeten Menschen aus Angst von Diskussionen zurückziehen, fehlt ihre Perspektive. Das ist für die Meinungsvielfalt besonders deshalb problematisch, weil die Stimmen marginalisierter Gruppen schon per Definition im Diskurs unterrepräsentiert sind. Wir müssen daher gegensteuern.

Was können Zivilgesellschaft, Politik und Strafverfolgung tun?

Aus Sicht der Betroffenen ist bei strafbaren Inhalten ein schneller zuverlässiger Schutz und effiziente Strafverfolgung am Wichtigsten. Wir empfehlen deshalb, Ansprechpersonen zum Thema Digitale Gewalt bei Polizei und Staatsanwaltschaft zu benennen. An sie könnten sich Betroffene und Zivilgesellschaft wenden. Sinnvoll ist ebenso, wenn das Land Berlin eine Ansprechperson zu digitaler Gewalt benennt. Diese könnte eine Brückenfunktion zwischen Politik, Verwaltung, Strafverfolgung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft bilden.

Wir empfehlen, dass die Polizei proaktiv entsprechenden Kanäle, z.B. bei Telegram in Form von Online-Streifen in den Blick nimmt, auch um mögliche zukünftige Anschläge zu verhindern. Das wird aber nicht reichen: Online-Communities mit radikalisierenden Dynamiken gibt es im Internet überall. Es gibt aber auch überall Menschen, denen solche Aktivitäten auffallen. Bitte nehmen sie deren Warnungen ernst. Dafür ist aus unserer Sicht wichtig, dass Mitarbeitende aller Polizeidienststellen für das Thema digitale Gewalt sensibilisiert werden.

Transparenz und Wirksamkeit von Meldewegen verbessern: Viele Menschen wissen nicht, dass sie Online Anzeigen erstatten oder hetzerische Kommentare melden können. Hier benötigt es weitere Aufklärung. Zur Verbesserung der Prozesse empfehlen wir eine wissenschaftliche Evaluation.

Gegen Diskriminierung in digitalen Räumen hilft am Effektivsten zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit und Bildung. Deshalb bietet unser Projekt Workshops zu Gegenrede und Moderation an. Darüber hinaus braucht es aus unserer Sicht Digital Streetwork, also die 1-zu-1-Ansprache von radikalisierungsgefährdeten Personen.

Digitale Räume dürfen nicht als etwas betrachtet werden, das getrennt von der Offline-Welt funktioniert. Für Täter*innen wie Betroffene sind digitale Räume ein ganz normaler Lebensraum, der sich mit dem Offline-Bereich verschränkt. Menschenfeindlichkeit im digitalen Raum hat Auswirkungen auf die offline-Welt und andersherum. Betroffene von digitaler Gewalt verdienen die gleiche Anerkennung, Schutz und Unterstützung wie andere Gewaltopfer.

Das Internet muss endlich ein Ort werden, an dem sich alle Menschen sicher fühlen!

Unser Mitarbeiter Oliver Saal vom Projekt „Civic.net – Aktiv gegen Hass im Netz“ war am 20. Januar 2021 als Sachverständiger zur öffentlichen Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz beim Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Dies ist die gekürzte und redigierte Version seiner Rede.

Seit 2004 findet jährlich im Februar der internationale Safer Internet Day (SID) statt. Über die Jahre hat sich der Aktionstag als wichtiger Bestandteil im Kalender all derjenigen etabliert, die sich für Online-Sicherheit und ein besseres Internet engagieren.

Rechtsextremismus 2025: Gewalt, Gewöhnung, Gegenwehr

Jahresrückblick des Kompetenzzentrums Rechtsextremismus: 2025 war ein Jahr der Auseinandersetzung und ein Gradmesser dafür, wie viel Widerstandskraft die offene Gesellschaft noch besitzt.

Von Lisa Geffken, Jan Riebe und Hannes Müller

2025 fühlte sich erneut an, als hätte jemand den Takt des Landes verschoben. Es war das Jahr, in dem sich Rechtsextremismus zur neuen Normalität verdichtete. Und es war das Jahr, nachdem in Thüringen 2024 erstmals nach 1945 eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft wurde und die politische Öffentlichkeit aufhörte, sich darüber zu empören. Ein Jahr, in dem sich sehr deutlich zeigte, dass der Kampf um die Demokratie nicht nur an Wahlurnen entschieden wird, sondern auf Straßen, Schulhöfen und in Kommentarspalten. Und es war womöglich, wenn man den Blick nach Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern richtet, das letzte Jahr seit 1945 ohne eine rechtsextreme Partei in Regierungsverantwortung.

Während die AfD ihre Machtbasis professionalisiert, ihre Auftritte perfektioniert und ihre Wortwahl in die Alltagssprache diffundiert, zeigt die Zivilgesellschaft eine neue Beharrlichkeit: Menschen gehen auf die Straße, gründen Bündnisse, wehren sich. 2025 war deshalb kein Jahr der Entscheidung, sondern eines der Auseinandersetzung. Und nicht zuletzt ein Gradmesser dafür, wie viel Widerstandskraft eine offene Gesellschaft noch besitzt.


Lisa Geffken, Hannes Müller und Jan Riebe arbeiten im Kompetenzzentrum Rechtsextremismus und Demokratieschutz der Amadeu Antonio Stiftung und befassen sich dort mit aktuellen Entwicklungen im Rechtsextremismus und zivilgesellschaftlichen Gegenstrategien. 


Parteiförmiger Rechtsextremismus

Die AfD bleibt der Motor für die gegenwärtige gesellschaftliche Etablierung des Rechtsextremismus. Mit dem besten Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte, doppelt so stark wie 2021, markiert sie den Übergang zur Machtoption. Die Bundestagswahl im Februar 2025 hat auch gezeigt: Rechtsextremismus ist schon lange kein rein ostdeutsches Phänomen mehr. Der Westen holt rasant auf und ist nur noch vier Jahre hinter der Entwicklung im Osten hinterher – wenn nicht sogar noch weniger. Die AfD etabliert sich als die erfolgreichste Partei der Arbeiter*innen, obwohl keine andere Partei im Bundestag eine stärkere Lobby der Reichsten der Reichen im Land ist.

In vielen Kreistagen ist sie bereits stärkste Fraktion, und lokale Funktionär*innen arbeiten daran, Normalisierung durch Präsenz zu erzeugen: auf Dorffesten, in Bürgerhäusern, in Vereinen. Laut dem Bundesverband mobiler Beratungen ist die AfD in etwa der Hälfte aller ostdeutschen Kreistage und kreisfreien Städte die größte Fraktion oder gleichauf mit anderen. Hierdurch kann sich rechtsextreme Politik weiter etablieren und normalisieren, selbst wenn keine Landrats- oder Bürgermeisterämter gewonnen wurden.

Begleitet wird dieser Aufstieg von einem Netzwerk parteinaher Online-Medien wie NiUS oder Apollo-News. Sie fungieren als Echokammern, die Diskurse verschieben und Empörung in Engagement gegen Vielfalt und Demokratie verwandeln.

Transatlantische Rückkopplung

Das Jahr 2025 brachte auch eine neue internationale Bühne. Mit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus suchte die AfD die Nähe zur Macht und konnte einen starken außenpolitischen Verbündeten für sich gewinnen. US-Vizepräsident J.D. Vance trat bei der Münchner Sicherheitskonferenz als Stichwortgeber auf, indem er europäische Demokratien pauschal delegitimierte; kurz darauf traf AfD-Chefin Alice Weidel ihn für eine Unterredung.

Selbst Elon Musk mischte mit: Sein Online-Gespräch mit Weidel, viral verbreitet, war weniger politisch als symbolträchtig. Ein digitaler Schulterschluss der selbsternannten „Tabubrecher“, trotz kruder Thesen und reichlich Fremdscham-Potenzial, ein Vernetzungserfolg der AfD. Zwei Wochen später ließ sich Musk per Videoschalte zum Wahlkampfauftritt der AfD zuschalten. Im Dezember reisten gleich zehn AfD-Abgeordnete auf Steuerzahler*innenkosten zur weiteren Annäherung an die Trump-Regierung in die USA. Diese transatlantische Lichterschneise markierte das neue Selbstbewusstsein einer Partei, die längst Anschluss an den globalen Rechtspopulismus gefunden hat.

Und doch: Die AfD strauchelt lokal. Trotz hoher Umfragewerte scheitern viele Kandidat*innen in Bürgermeister- und Landratswahlen. Diese Misserfolge zeigen, dass es bisher erst sehr wenige Orte rechtsextremer Hegemonie gibt.

Und auch die Auflösung der Jugendorganisation „Junge Alternative“ aus Angst vor deren Verbot, ist Ausdruck eines Scheiterns der rechtsextremen Partei. Es zeigt sich, dass die Debatte um eine Prüfung eines Parteiverbots die AfD in ihrer Etablierung behindert. Aus der „Jungen Alternative“ ist die „Generation Deutschland“ entstanden – die kein bisschen weniger radikal ist. Die Neugründung der Jugendorganisation, jetzt als integraler Bestandteil der Partei, könnte sich als Bumerang erweisen und ihr in einem Verbotsverfahren massiv schaden.

Türkischer Rechtsextremismus

Zum Bild des Jahres 2025 gehört auch ein Phänomen, das in Debatten oft als Randthema behandelt wird: türkischer Rechtsextremismus. Die „Grauen Wölfe“ bzw. die Ülkücü-Bewegung bilden hier eine der größten, am besten organisierten rechtsextremen Strukturen, deren Ideologie autoritär, ultranationalistisch, antisemitisch, antikurdisch, anti-alevitisch und queerfeindlich ist. 2025 wurde sichtbarer, wie sehr dieser Rechtsextremismus transnational funktioniert: Über Dachverbände, Moschee- und Kulturvereine, Jugendgruppen, Kampfsport- und Freizeitangebote, aber auch Social Media werden autoritäre, türkisch-nationalistische und religiös aufgeladene Narrative in Community-Strukturen hineingetragen. Oft unter dem Radar der Mehrheitsgesellschaft.

​Besonders brisant ist, dass sich die Szene gezielt an Kinder und Jugendliche richtet, die selbst Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen machen und damit anfällig für Angebote von Stärke, Stolz und Zugehörigkeit sind. In Protesten rund um Israel und Palästina, bei antisemitischen Narrativen und in der Mobilisierung gegen kurdische, alevitische oder oppositionelle Stimmen zeigen sich 2025 Überschneidungen zu anderen extremistischen Milieus. Genau hier braucht es eine betroffenenorientierte Auseinandersetzung, die türkischen Rechtsextremismus nicht länger verharmlost, sondern als festen Bestandteil der extremen Rechten in Deutschland mitdenkt.

Generation Rechtsextrem?

Die Jugend des Jahres 2025 ist mit der AfD aufgewachsen. Sie kennt den Bundestag nur mit rechtsextremer Präsenz, Reels voller männlicher Wutreden und Telegram-Kanäle im Stil von Lifestyle-Magazinen. Das prägt und erklärt, warum rechtsextreme Jugendgruppen seit wenigen Jahren einen Zulauf erleben, wie man ihn in der Geschichte der Bundesrepublik nur selten erlebt hat. Für 2025 lässt sich konstatieren: Nie seit den Baseballschlägerjahren war rechtsextreme Jugendgewalt so organisiert, nie war der Anschluss an soziale Medien so nahtlos. Neonazis gab es schon immer in Schulklassen, aber aktuell sind sie mancherorts zum ersten Mal seit den 1990er Jahren wieder dominierend. Die Situation in Schulen in Ost und West ist mehr als alarmierend.

Neonazistische Jugendgruppen von „Die Heimat“ (früher NPD) oder Splitterparteien wie der „III. Weg“ füllen Lücken, wo Schule, Familie und Politik versagen. Sie bieten Zugehörigkeit, Abenteuer und Weltbilder in Schwarzweiß. Die positive Nachricht ist, dass einige der neugegründeten Jugendgruppen auch ziemlich schnell wieder zerfallen. Das hat mal politische, öfter aber private Gründe. Aber die Gefahr ist keineswegs gebannt: Viele neugegründete rechtsextreme Jugendorganisationen fielen anfänglich durch einen fast nicht vorhandenen Organisierungsgrad auf. Das ändert sich aktuell.

Der gestiegene Organisierungsgrad spiegelt sich teils auch in einer zunehmenden Radikalisierung wider. Die Razzien im Mai gegen die Terrorzelle „Letzte Verteidigungswelle“ (14 bis 18 Jahre alt) zeigen, wie Kinder in apokalyptische Kampfvorstellungen abrutschen können. Ihnen werden durchgeführte und geplante Anschläge auf eine bewohnte Asylbewerber*innenunterkunft und ein Kulturzentrum vorgeworfen. Auch der Angriff auf das Vielfaltsfest „Bad Freienwalde ist bunt“ zeigt, wie selbstbewusst rechtsextreme Täter auftreten und zivilgesellschaftliches Engagement angreifen.

Feindbild Queer

Kaum ein Thema wurde 2025 so zur Projektionsfläche des Hasses wie Queerness. Die rechtsextreme „Bewegung“ gegen CSDs hat bereits im letzten Jahr begonnen, doch noch nie wurden so viele CSDs angegriffen, gestört, diffamiert, wie 2025. Die Demos gegen Pride-Paraden, oft von Jugendlichen und jungen Männern getragen, folgten einer Choreografie digitaler Mobilisierung: Memes, Hashtags, Livestreams. Rechtsextreme Influencer inszenierten „Widerstand gegen Genderwahn“ als jugendliche Rebellion.

Doch jede Attacke hatte eine Gegenseite. 2025 fanden über 40 CSDs zum ersten Mal statt – viele in Kleinstädten, wo Menschen sagten: Jetzt erst recht.

Alltag der Normalisierung

Besonders im ländlichen Raum verdichten sich die Trends. Die Etablierung und Normalisierung der AfD gehen mit zunehmender Gewalt einher. Beispiele wie brennende Kreuze für Vielfalt der Gruppe beherzt am Rande einer „privaten“ Feier eines AfD-Lokalpolitikers bei Gardelegen sind dafür Belege. An der Feier nahmen hunderte Rechtsextreme aus ganz Deutschland teil.

Doch nicht nur die AfD macht sich in ländlichen Räumen breit. Dörfer in der Altmark, in Vorpommern oder der Oberlausitz werden zu Laboren rechtsextremer Gegenkultur. Völkische Siedlerfamilien kaufen Höfe, gründen Heimatschulen, veranstalten vermeintlich unpolitische Dorffeste und erziehen ihre Kinder in einer Ideologie, die Abstammung über Menschenrecht stellt. Hier wird kein Aufstand geprobt, sondern Normalität gebaut. Ein besonderes Augenmerk der völkischen Familien ist die ideologische Schulung ihres Nachwuchses. In völkischen Jugendbünden werden Kinder und Jugendliche bei Outdoor-Survival-Camps oder gemeinsamen Ausflügen von klein auf ideologisch gefestigt erzogen.

Recherchen zeigen, wie rechtsextreme Jugendbünde wie der „Jungadler“ seit vielen Jahren als rechtsextreme Kaderschmieden fungieren, oft mit Verbindungen zum Umfeld der 2009 verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“, einer Nachfolgeorganisation der Hitlerjugend. Neonazi-Kleinstparteien wie der „III. Weg“ sichern sich über kommunale Mandate Strukturen und Ressourcen. Suppenküchen, Freizeitangebote, Nachbarschaftshilfen: Leistungen, mit denen sie Räume erobern, aus denen sich staatliche Strukturen längst zurückgezogen haben und die demokratische Zivilgesellschaft schleichend verdrängt wird. Diese Strategie funktioniert mittlerweile auch im Westen: In Hilchenbach im Siegerland (NRW) hat der „III. Weg“ ein Haus erworben, nachdem sie eine Immobilie im benachbarten Siegen abgeben mussten. Auch wenn das Haus selten für Propagandaaktionen genutzt wird, zeigt selbst die unregelmäßige Präsenz Erfolg: So ist der „III. Weg“ seit der Kommunalwahl im September erstmals in einem westdeutschen Stadtrat vertreten. Im Wahlbezirk Vormwald wählten 12,32 Prozent die Neonazipartei, in Hilchenbach-Nord 11,76 Prozent.

Eskalierende Gewalt, wachsende Gegenwehr

Rechtsextreme Straftaten stiegen 2025 um fast 50 Prozent, Gewalttaten um 17 Prozent. Täter*innen werden jünger, vernetzter, ideologischer. Besonders erschreckend ist die wachsende Gewaltbereitschaft aus dem Umfeld von AfD-Funktionär*innen.

Dem gegenüber steht aber ein neues Selbstbewusstsein der demokratischen Zivilgesellschaft. Von Großdemonstrationen gegen Kooperationen mit der AfD bis zum kontinuierlichen Widerstand der „Omas gegen Rechts“, welche fast jede Woche eine regionale Neugründung zu verzeichnen haben: Das Jahr brachte eine Welle von Beharrlichkeit.

Diese Energie zeigt Wirkung. Das Veranstaltungsverbot auf dem Heimathof Eschede, nach jahrelangem Engagement, wurde 2025 zum Symbol dafür, dass ziviler Druck wirkt, wenn er nicht nachlässt.

Zwischen Zorn und Zuversicht

2025 war auch das Jahr, in dem sich die politische Stimmung fühlbar veränderte. Nach Jahren der Fragmentierung begann etwas Neues: eine neue Direktheit, eine Lust auf Haltung.

Der sogenannte „Vibeshift“, viel diskutiert im Netz, beschreibt genau dieses Phänomen: Werte rücken wieder ins Zentrum, aber sie polarisieren stärker. Rechtsextreme nutzen Emotionalität strategisch, Zivilgesellschaft antwortet mit Empathie und Solidarität. Im Kern ist das kein Streit um Zahlen, sondern um Deutungshoheit: Wer erzählt die Geschichte dieses Landes?

Was bleibt

2025 wird als Jahr in Erinnerung bleiben, in dem der Rechtsextremismus sich weiter etabliert hat, er immer weniger als Skandal in einer Demokratie wahrgenommen wird, aber auch als ein Jahr, in dem die demokratische Zivilgesellschaft gezeigt hat, dass sie sich dieser Entwicklung entschlossen entgegensetzen wird.

Ob daraus ein neuer demokratischer Aufbruch oder ein weiterer Rückzug ins Zynische entsteht, entscheidet sich 2026. Denn das kommende Wahljahr wird zeigen, ob Deutschland bereit ist, aus der Erschütterung Konsequenzen zu ziehen oder ob das Gewöhnliche endgültig kippt.

Gefördertes Projekt

Druck auf die Zivilgesellschaft: Aufgeben ist keine Option

Foto: Buntes Meißen e.V.

Dass die Zivilgesellschaft „unter Druck“ steht, ist seit einiger Zeit überall zu hören. Was aber bedeutet es, sich in diesen Zeiten gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu engagieren?

Von Vera Ohlendorf

Wir haben in diesem Jahr über 300 Projekte gefördert, die wirksam und nachhaltig auf konkrete Konflikte und Probleme reagieren, Ideen umsetzen und Menschen in Kontakt und ins Handeln bringen.

Einige der geförderten Träger haben wir gefragt, wie sie auf das Jahr 2025 zurückblicken, welche Herausforderungen in Erinnerung bleiben werden, wie sie mit rechtsextremen Verleumdungsstrategien, Angriffen und Gewalt gegen ihre Arbeit umgehen und was sie sich für 2026 wünschen, um weiterhin für solidarischen Zusammenhalt, Menschenrechte und Minderheitenschutz einzustehen.

Klar ist: Der Kampf für die Demokratie kann nur erfolgreich sein, wenn wir alle Verantwortung übernehmen und niemanden allein lassen. Verhältnisse lassen sich ändern – mit Engagement, Haltung, Einfluss oder mit finanzieller Unterstützung.

Buntes Meißen e.V. (Sachsen)

Der Verein Buntes Meißen e.V. betreibt eine Begegnungsstätte, bietet Sprachkurse für Geflüchtete an und organisiert Freizeitangebote für Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte. Ende 2024 strichen Vertreter*innen von AfD, FDP, Freien Bürgern und Teilen der CDU den Verein von einer kommunalen Vorschlagsliste für den europäischen Sozialfonds. Im April verweigerte der Stadtrat nach gemeinsamer Abstimmung von CDU und AfD auch die kommunale Förderung. Vorausgegangen waren rechtsextrem motivierte Diffamierungskampagnen, Hakenkreuzschmierereien am Gebäude, eine kleine Anfrage der CDU im Landtag zur Finanzierungsstruktur, ein Brandanschlag auf das Vereinsgelände sowie gewalttätige Angriffe und zahlreiche Drohschreiben gegen Engagierte. Das Bunte Meißen muss Konsequenzen ziehen und wird zum Jahresende den derzeitigen Sitz der Geschäftsstelle auflösen. „Das ist eine drastische, aber notwendige Entscheidung“, sagt Geschäftsführer Sören Skalicks. „Die Vielzahl der Vorfälle hat zu einer erheblichen Verunsicherung bei den Mitarbeitenden geführt.“ Auch weil Fördergelder weggefallen sind, muss der Verein seine Räumlichkeiten zusammenlegen. Die Geschäftsstelle wird Teil des Treff25 in der Meißener Innenstadt.

Was wünschen sich die Mitarbeitenden für das nächste Jahr? „Vor allem ein deutlich sichtbares Bekenntnis zu unserem Verein seitens der Stadt, der Behörden und der Zivilgesellschaft“, betont Sören. „Darüber hinaus benötigen wir finanzielle Unterstützung, um unsere Demokratie- und Präventionsprojekte weiterhin verlässlich durchführen und ausbauen zu können.“

Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e.V.

Am 20. Dezember 2024 raste ein Mann mit dem Auto absichtlich auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt, tötete sechs Menschen und verletzte mehr als 300. Der Täter stammt aus Saudi-Arabien und vertritt rassistische, islamfeindliche und rechtextreme Narrative. Es fällt Behörden und Öffentlichkeit bis heute schwer, die Motivlage einzuordnen, da der Täter nicht in die üblichen Raster passt. Rechtsextreme instrumentalisieren die Tat für ihre Interessen und machen Stimmung gegen Geflüchtete. Beim Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e.V. gingen im Dezember 2024 und im Januar 2025 zahlreiche rassistische Hassmails zu dem Fall ein, in denen ein Zusammenhang zwischen Migration und Terrorismus hergestellt und Geflüchtete und Muslime zu Sündenböcken für soziale Probleme, Kriminalität und wirtschaftliche Belastungen gemacht wurden. LAMSA sah sich mit Vorwürfen konfrontiert, Extremismus zu fördern und die Demokratie zu untergraben. „Die Emails sind Teil einer groß angelegten Anstrengung, Spaltung zu schüren, Menschenrechte zu untergraben und demokratische Prinzipien zu destabilisieren“, schreibt LAMSA in einer Analyse. Die Anfeindungen haben bei den Mitarbeitenden Spuren hinterlassen: Viele sind emotional belastet und verunsichert. Technische Schutzmaßnahmen wie Spamfilter, IT-Sicherheit oder Monitoring reichen nicht aus, um angemessen mit der Bedrohungslage umzugehen. Nötig sind umfassende Sicherheits- und Präventionsstrategien, die juristische Beratung und einen engen Austausch mit Polizei und Justiz ebenso umfassen wie resilienzfördernde Workshops zu Krisenkommunikation und Stressbewältigung für das Team. LAMSA wünscht sich klare Statements aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft, die Angriffe auf Integrations- und Antirassismusarbeit verurteilen und plädiert für eine langfristige Finanzierung für demokratiefördernde Arbeit.

Queeres Netzwerk Gifhorn e.V. (Niedersachsen)

Das Queere Netzwerk Gifhorn e.V. betreibt ein soziales Zentrum für junge Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche, nichtbinäre und queere Menschen und organisiert den örtlichen CSD. Rechtsextreme Anfeindungen gehören für das Team zum Alltag. „In den letzten Jahren kam es mehrfach vor, dass an unserem Zentrum rechtsextreme oder queerfeindliche Sticker angebracht wurden. Online wurden wir als ‚Regenbogen-Mafia‘ bezeichnet“, erzählt Geschäftsführer Dominik Ruder. „Kürzlich haben Unbekannte ein weißes Hakenkreuz aus Gaffa-Tape an unser Schaufenster geklebt. Das hatte eine besonders einschüchternde Wirkung – sowohl auf das Team als auch auf die Jugendlichen, die unser Zentrum nutzen.“ Auf kommunalpolitischer Ebene versucht die AfD, die Arbeit zu diskreditieren und die öffentliche Förderung infrage zu stellen. Der Verein wehrt sich – mit präventiver Arbeit: Bei Veranstaltungen klärt das Team über Rechtsextremismus und Diskriminierungen auf und sensibilisiert für demokratische Werte. Rechtsextreme Anfeindungen werden konsequent dokumentiert, gemeldet und angezeigt. „Einige Jugendliche nehmen aus Angst vor Anfeindungen seltener oder gar nicht mehr an unseren Angeboten teil“, berichtet Dominik. Er wünscht sich mehr öffentliche Anerkennung für die Arbeit des Vereins. „Wir brauchen mehr finanzielle und personelle Ressourcen, um queeren Jugendlichen Sicherheit zu geben und unsere Beratungsangebote ausbauen zu können. Sie dürfen mit dem Problem nicht allein bleiben.“

Welcome In! Fulda e.V. (Hessen)

Beim Welcome In! Fulda e.V. engagieren sich Menschen mit und ohne Fluchterfahrung, öffnen Räume für Begegnungen und bieten Hilfe im Asyl- und Integrationsprozess. Nachdem der Verein eine politische Podiumsdiskussion unter Ausschluss der AfD organisiert hatte, warf diese den Engagierten „fehlende Neutralität“, intransparente parteipolitische Interessen und Fördermittelmissbrauch vor. Die AfD-Stadtfraktion berief einen Akteneinsichtsausschuss ein. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos. „Wir haben entschieden, nicht mehr auf jede Provokation der AfD einzugehen, um ihre Agenda nicht zu verstärken und unsere Energie auf unsere Vereinsarbeit zu konzentrieren“, stellt Jochen Kohlert von „Welcome In!“ klar. „Wir wollen die Angriffe nicht allein aushalten, sondern bauen starke Allianzen mit anderen betroffenen Vereinen auf und zeigen gemeinsam Haltung. Wir planen gerade eine gemeinsame Veranstaltungsreihe zu Demokratiethemen, die in eine große Demonstration vor den Kommunalwahlen münden wird. Damit setzen wir bewusst auf eine positive Gegenkraft statt auf reaktive Abwehr.“ Die größte Herausforderung bestehe darin, die Polarisierung zu durchbrechen und echte Begegnungen zu ermöglichen. Dafür und für die Umsetzung nötiger Sicherheitsmaßnahmen sind mehr personelle Ressourcen nötig.

Kreisjugendring Oberhavel e.V.

Der Kreisjugendring im brandenburgischen Oberhavel sah sich im Jahr 2024 mit Vorwürfen der AfD-Fraktion im Kreistag konfrontiert. Dem Verein wurde vorgeworfen, Hass, Hetze und Spaltung zu fördern; zudem wurde das Team als „linksextrem“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang wurden sowohl die öffentliche Förderung als auch die Trägerschaft des Kreisjugendrings für die externe Koordinierungs- und Fachstelle der Lokalen Partnerschaft für Demokratie im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ wiederholt infrage gestellt.

Die Koordinatorin des Kreisjugendrings intensivierte daraufhin den Austausch mit den demokratischen Parteien, um den Dachverband sowie seine 32 Mitgliedsorganisationen abzusichern. Der Kreisjugendring ist im Rahmen der CSD Oberhavel Initiative an der Organisation des CSD in Oranienburg beteiligt und weist neben der angespannten allgemeinen Sicherheitslage und dem rechten Gegenprotest im Jahr 2024 darauf hin, dass es im Landkreis weder queere Jugendtreffs noch etablierte Schutzstrukturen für queere Menschen gibt. Vor diesem Hintergrund sprach sich das Team für eine Fortführung des Regenbogenschutzfonds aus.

Losmachen e.V., Cottbus (Brandenburg)

Die Lausitz ist eine Region im Strukturwandel, die sich mit rechtsextremer Dominanz konfrontiert sieht. Losmachen e.V. stärkt die regionale demokratische Zivilgesellschaft in herausfordernden Zeiten und engagiert sich für eine solidarische Gesellschaft. Unter anderem betreibt der Verein einen zivilgesellschaftlichen Co-Working-Space in der Cottbuser Innenstadt. Beleidigungen und Drohungen von Nazis hat es bereits gegeben, auch kleine Anfragen der AfD zur Förderung im Brandenburger Landtag. Das Team sorgt sich vor allem um Orte und Menschen aus dem weiteren Netzwerk, die mehrfach gewaltsam angegriffen wurden. In diesem Jahr wurde ein Sicherheitskonzept erarbeitet, das Handlungsanweisungen für Angriffsfälle gibt. Außerdem haben die Engagierten gemeinsam mit anderen, die von rechter Gewalt betroffen sind, die „Initiative Sichere Orte“ ins Leben gerufen. Hier organisieren sich bedrohte Jugendclubs, Kulturzentren und Hausprojekte in der Region. Gemeinsam machen sie Angriffe öffentlich und organisieren gegenseitige Hilfe, auch finanziell. Die solidarische Netzwerkarbeit bringt neue Herausforderungen mit sich: „Wir stellen fest, dass Sicherheit ein kontinuierlicher Prozess ist, mit dem wir uns immer beschäftigen müssen. Neue Ereignisse mitdenken, Verhalten anpassen und in- und miteinander Vertrauen entwickeln, mit dem wir uns sicher fühlen können. Dabei wollen wir uns auch selbst empowern“, beschreibt Lukas, der im Verein und in der „Initiative Sichere Orte“ aktiv ist. Ziel sei es, das Thema Sicherheit nicht nur defensiv zu denken, sondern angesichts des wachsenden rechtsextremen Einflusses den solidarischen Zusammenhalt zu stärken.

Kontaktstelle Holler e.V., Kusel (Rheinland-Pfalz)

Die Kontaktstelle Holler engagiert sich in der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Kusel in der offenen Kinder- und Jugendarbeit und setzt sich für politische Bildung sowie gegen rechtsextreme Normalisierungstendenzen ein. „Es gibt regelmäßig rechtsextrem motivierte Klebeaktionen an unserer Einrichtung“, erzählt Bastian aus dem Team. „Wir erhalten Morddrohungen per E-Mail, Hasskommentare bei Facebook und wir werden auf offener Straße angefeindet. Die fortschreitende Normalisierung rechtsextremer Strukturen macht unser Engagement schwierig, immer wieder müssen wir unsere Arbeit erklären und rechtfertigen.“ Hilfreich seien Vernetzungen und gelebte Solidaritätsbeziehungen mit anderen Vereinen und Gruppen, denen es ähnlich geht. Gemeinsam ist es leichter, klare Statements gegen lokale rechtsextreme Gruppen zu setzen. „Wir möchten unseren Safe Space erhalten und benötigen mehr finanzielle Mittel, um den Selbstschutz besser zu organisieren“, sagt Bastian.

Rabryka Görlitz (Sachsen)

Die Rabryka in Görlitz ist ein Kultur- und Kreativzentrum, das einen offenen Raum für alle bietet, die Veranstaltungen organisieren oder das Miteinander in der Stadt gestalten wollen. Die Rabryka steht für Diversität, Inklusion und positioniert sich klar gegen rechtsextreme Äußerungen. Immer wieder steht sie deshalb im Fokus von Anfeindungen. Schon 2024 wurde der Betreiberverein durch die AfD im Stadtrat mit einem Kündigungsantrag zum Entzug der Konzession für den Betrieb des Geländes konfrontiert. Rechtsextreme Störungen von Veranstaltungen und verfassungsfeindliche, rechtsextreme Sticker und Schmierereien am Gebäude kommen seit Jahren immer wieder vor. Das Team lässt sich jedoch nicht einschüchtern, sondern holt Rechtsberatung ein, erarbeitet Notfallpläne für Angriffssituationen und erhöht die Sicherheitsvorkehrungen bei Veranstaltungen. Ein regelmäßiges Monitoring der Social-Media-Kanäle und die Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizeidirektion haben sich als hilfreich erwiesen. Dennoch: Das von politischen Kräften strategische Framing der Vereinsarbeit als „links“ verfängt in der Stadtbevölkerung und erschwert die Arbeit. Die Engagierten machen trotzdem weiter, denn Aufgeben ist keine Option.

Antisemitismus 2025: Die Geiseln sind frei, der Hass bleibt

Am 27. September demonstrieren noch Zehntausende in Berlin, gegen Israel, gegen Krieg, gegen einen angeblichen Genozid, angeführt von der Linkspartei. Foto: Nikolas Lelle

Jahresrückblick: Zwischen Aufatmen nach der Rückkehr der Geiseln, steigenden Antisemitismus-Fallzahlen und Geschichtsrevisionismus von rechts.

Von Nikolas Lelle

Der Blick aufs Jahr 2025 ist nicht ganz hoffnungslos. Die antiisraelische Massenmobilisierung könnte an ihr Ende gelangt sein. Mit der Beruhigung der Lage im Nahen Osten dürfte das Thema auch hierzulande an Relevanz verlieren. Der Terroranschlag auf eine Chanukka-Feier in Sydney zeigt aber, wie tödlich weiterhin Antisemitismus ist. Generell gilt: Die antisemitischen Vorfälle haben ein neues Hoch erreicht. Und niemand sollte die rechtsextreme Raumnahme unterschätzen, die in Deutschland immer mit einer Zunahme an Antisemitismus einherging.

Am 13. Oktober 2025 ist es so weit: Nach jüdischem Kalender, auf den Tag genau zwei Jahre nach ihrer Entführung, kommen die noch lebenden israelischen Geiseln an Simchat Thora endlich aus der islamistischen Geiselhaft frei. In Gaza herrscht Waffenruhe. Der Krieg ist offiziell vorbei.

„Wie geht es euch?“, habe ich im Sommer noch Sigmount Königsberg, den Antisemitismusbeauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, in einem Telefonat gefragt, um die Stimmung innerhalb der jüdischen Communitys besser zu verstehen. „Wir warten“, war seine kurze Antwort. „Wir warten darauf, dass die Geiseln endlich freikommen.“ Das erste Mal seit dem 7. Oktober 2023 ist jetzt, nach der Freilassung, ein erstes Aufatmen unter Jüdinnen*Juden zu vernehmen.


Nikolas Lelle leitet seit 2020 die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus bei der Amadeu Antonio Stiftung. Er beschäftigt sich vornehmlich mit Antisemitismuskritik, Erinnerungskultur und Gesellschaftstheorie. Er hat in Frankfurt am Main und Mainz Philosophie und Soziologie studiert und an der HU Berlin promoviert. Zuletzt erschien von Lelle „,Arbeit macht frei’. Annäherungen an eine NS-Devise“. 2026 kommt „Antisemitismus definieren. Eine Anleitung zum Abgrenzen“ zusammen mit Tom Uhlig.


Ich sitze an diesem Tag in der Amadeu Antonio Stiftung, zusammen mit Kolleg*innen schauen wir uns die Freilassung der Geiseln an. Seit zwei Jahren bewegt uns das Schicksal dieser Menschen. Jetzt sind sie endlich wieder frei. Hoffnung mischt sich unter das Gefühl von Wut und Ohnmacht, das uns so lange begleitet. Wenige Tage zuvor haben wir die Aktionswochen gegen Antisemitismus eröffnet, größer denn je, mit 200 Veranstaltungen in über 60 Städten. Nach zwei Jahren der antisemitischen Eskalation tut es gut zu sehen, wie viele sich deutschlandweit gegen Antisemitismus engagieren. Gegen Vereinzelung und Einsamkeit festigen wir ein 22 Jahre währendes, nachhaltiges Netzwerk von jüdischen und antisemitismuskritischen Akteur*innen.

Mit dem Ende der Kriegshandlungen in Gaza und der Freilassung der Geiseln drängt sich die Frage auf, wie es jetzt in Deutschland weitergeht? Wird die antiisraelische Szene sich weiter radikalisieren? Kommt es zu Gewalt, zu Terroranschlägen? Während ich diese Zeilen schreibe, erreichen mich die Nachrichten aus Sydney: Eine Chanukka-Feier wurde angegriffen, zwei islamistische Attentäter, Vater und Sohn, ermordeten 16 Menschen, verletzten weitere 40 Personen, teils schwer. Dunkelheit legt sich über das Fest des Lichts. Der Demospruch „Globalize the Intifada“ drängt sich auf. Ist so etwas auch in Deutschland denkbar? Es könnte doch auch anders kommen. Mit dem Ende der Kriegshandlungen in Gaza und der Freilassung der Geiseln könnte der antiisraelischen Bewegung Wind aus den Segeln genommen werden? Erleben wir vielleicht den Anfang vom Ende der antiisraelischen Massenbewegung nach dem 7. Oktober? Auch Ende 2025 gibt es keine abschließenden Antworten auf diese Fragen. Es zeichnet sich zwar ab, dass der harte Kern der Szene weitermacht und versucht, das Thema am Laufen zu halten. Ihnen spielt in die Karten, dass Antisemitismus in Form des Antiisraelismus mittlerweile in Mode gekommen ist, also zu einem kulturellen Code wurde. Es bleibt aber zu hoffen, dass die Massenbewegung an ihr Ende gelangt ist.

Erst wenige Wochen vor der Freilassung der Geiseln erlebte sie ihren Höhepunkt: Am 27. September demonstrieren noch Zehntausende in Berlin, gegen Israel, gegen Krieg, gegen einen angeblichen Genozid, angeführt von der Linkspartei. Ich mache mir vor Ort ein Bild. Die Stimmung ist ausgelassen, die Sonne scheint. Für diesen Artikel schaue ich nochmal über meine Fotos. Auf Schildern und Transparenten zeigt sich das breite Spektrum von Narrativen. „The people want the fall of Germany’s Staatsräson“ steht hier ebenso auf Schildern wie „Von Westsahara bis Palästina: Stoppt Siedlerkolonialismus“ und „Es ist alles die Besatzung“; Friedenstauben und Kalashnikovs sollen „antikolonialen Widerstand“ symbolisieren, zur Holocaust-Relativierung im Slogan „Wollt ihr den totalen Völkermord?“ gesellt sich die Behauptung „There is only one Solution: Intifada Revolution“.

Während Zehntausende mit moralischer Selbstgewissheit Einigkeit demonstrieren, stehen auf der Handvoll Gegenkundgebungen entlang der Route nur wenige Menschen. Das Zahlenverhältnis zeigt eindrücklich die Lage im Herbst 2025. Solidarität mit von Antisemitismus Betroffenen zeigen die Wenigsten. Die Mehrheit der Demonstrierenden hat kein Problem damit, mit oder neben antisemitischen Parolen und islamistischen Symbolen durch die Stadt zu ziehen. „Shame on you“, rufen sie den Teilnehmer*innen einer israelsolidarischen und antisemitismuskritischen Kundgebung im Berliner Lustgarten zu.

Viele scheinen noch kurz vor dem Ende auf die richtige Seite wechseln zu wollen. Influencer*innen und Aktivist*innen haben in den Tagen vor der Demo Videos veröffentlicht, in denen sie bekennen, sie hätten zum angeblichen Genozid zu lange geschwiegen, seien aber jetzt endlich aufgewacht. Auf der Demonstration selbst wird vom Lautsprecherwagen verkündet, es sei nicht schlimm, wenn es die erste Demo gegen Israel sei, die man besuche; schlimm sei bloß, wenn es die letzte bleibe. An diesem Samstag hat die Mobilisierung funktioniert. Unter den Demonstrant*innen sind sicherlich viele, die es gut meinen, die gegen Ungerechtigkeiten auf die Straße gehen wollen. Diese Geisterfahrer des guten Willens bilden hier die Masse für antiisraelische und antisemitische Agitation.

Für Jüdinnen*Juden war die Demonstration der schlagende Beweis, dass ihr Schicksal auch zwei Jahre nach dem 7. Oktober nicht allzu viele Menschen in diesem Land interessiert. Dabei ist die Lage katastrophal. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Das Bundeskriminalamt hat 2025 6.236 Straftaten dokumentiert, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) 8.627 antisemitische Vorfälle. Die Gedenkstätten berichten von zunehmenden Sachbeschädigungen und Übergriffen, jüdische Studierende skandalisieren die weiterhin desolate Lage an deutschen Hochschulen, der Zentralrat der Juden in Deutschland prangert an, wo er nur kann: Es nutzt alles nichts. Der Antisemitismus grassiert und wird doch kleingeredet. In der Chronik antisemitischer Vorfälle gibt die Amadeu Antonio Stiftung einen fast tagesaktuellen Eindruck. Mehr als 300 Vorfälle wurden hier dieses Jahr dokumentiert. Eine Auswahl:

Kurz nach Silvester wird in Apolda an einem jüdischen Erinnerungsort ein Schweinekopf abgelegt. Im Februar wird auf einer Demonstration in Berlin gefordert, Jüdinnen*Juden zu erschießen. In Köln werden Anfang April 23 Stolpersteine unkenntlich gemacht. In Hamburg hat im Mai jemand versucht, ein Auto von der Fahrbahn abzudrängen, aus dem hebräische Musik zu hören war. In Kleinmachnow verbietet eine Schneiderei im Juni via Facebook-Post Israelis und Jüdinnen*Juden den Zutritt. In Frankfurt am Main attackieren Aktivist*innen im August während eines Klima-Camps Mitglieder der Jüdischen Gemeinde mit Farbe und in Göttingen steht Anfang September am Universitätsgebäude „ZIONISTEN TÖTEN“. Am 9. November wird in Hamburg eine ältere Dame attackiert, während sie Stolpersteine putzt und Ende November ein Rabbiner in Offenbach auf offener Straße beleidigt. Das ist die neue Normalität. Jeden Tag passieren im Schnitt mehr als 20 solcher Vorfälle.

Nicht übersehen werden dürfen die rechtsextremen Alltagskulturen und parlamentarischen Raumgewinne in diesem Land, die Schlussstrichrufe ebenso mit sich bringen wie Verschwörungsideologien. Der Leiter einer KZ-Gedenkstätte berichtete mir im Sommer, dass fast täglich Jugendliche, die mit ihren Schulklassen durch die Gedenkstätte geführt werden, durch neonazistische Marken oder Symbole auffallen. Die Höckesche „erinnerungspolitische Wende“ wird praktisch umgesetzt und zeigt sich auch in antisemitischen Vorfällen wie beschmierten Gedenkorten, geschändeten Grabstätten oder herausgerissenen Stolpersteinen. Aus den Landtagswahlen 2026 könnte die sogenannte Alternative für Deutschland als Gewinnerin hervorgehen.

Die Beruhigung im Nahen Osten, die sich womöglich darin übersetzt, dass die antiisraelische Massenbewegung an ihr Ende gelangt, wird Antisemitismus aber nicht verschwinden lassen. Aus antisemitismuskritischer Perspektive bleibt das Motto für die nächsten Jahre daher: weitermachen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Belltower.News.

Rechtsextreme und der erfundene „War on Christmas“

Jedes Jahr zur Adventszeit wiederholt sich ein bekanntes Muster: Rechte und rechtsextreme Akteur*innen inszenieren sich als angebliche Verteidiger*innen von Weihnachten, christlicher Tradition und „abendländischer Kultur“. Tatsächlich geht es dabei weniger um Religion oder Brauchtum – sondern um die Mobilisierung von Ressentiments, insbesondere gegen Muslim*innen, Migrant*innen und eine offene Gesellschaft. Weihnachtszeit ist auch Kulturkampfzeit.

Advent, Weihnachten und das „christliche Abendland“

Die Adventszeit besitzt für viele Menschen eine hohe emotionale Bedeutung – auch unabhängig von persönlicher Religiosität. Genau diese emotionale Resonanz macht Weihnachten für rechte Akteur*innen so attraktiv. Sie knüpfen an diffuse Gefühle von Vertrautheit, Nostalgie und Zugehörigkeit an und verknüpfen sie mit politischen Feindbildern. Anstatt sich an der Wärme der Weihnachtszeit zu berauschen, geht es in erster Linie um Ausgrenzung.

Unter dem Schlagwort des „christlichen Abendlandes“ werden dabei nicht christliche Werte wie Nächstenliebe oder Solidarität betont, sondern vor allem Abgrenzung: gegen Muslim*innen, gegen Migration, gegen gesellschaftliche Vielfalt. Weihnachten wird so zu einem identitätspolitischen Marker umgedeutet.

Der Mythos vom „War on Christmas“

Zentral für diese Erzählungen ist der angebliche „War on Christmas“ – also die Behauptung, Weihnachten werde systematisch abgeschafft, umbenannt oder verdrängt. In rechten Narrativen sind dafür wahlweise „Political Correctness“, „der Islam“ oder eine vermeintlich „links-grüne Elite“ verantwortlich.

In der Realität handelt es sich bei den angeführten Beispielen jedoch fast immer um:

  • Missverständnisse,
  • gezielte Falschdarstellungen,
  • Marketingentscheidungen von Unternehmen oder
  • sachliche Gründe wie Sicherheits- oder Brandschutzauflagen.

Der „War on Christmas“ ist keine reale Entwicklung, sondern eine Verschwörungserzählung. Sie funktioniert über Angsterzeugung: „Unsere Tradition wird uns genommen.“

Deutschland und USA: Unterschiedliche Feindbilder, gleiche Logik

Während in den USA der „War on Christmas“ häufig als Angriff eines säkularen, progressiven Liberalismus dargestellt wird, verschiebt sich die Erzählung in Deutschland stärker auf eine angebliche „Islamisierung“. Gemeinsam ist beiden Kontexten, dass kulturelle Identität über Alltags- und Konsumpraktiken verhandelt wird: Weihnachtsmärkte, Dekoration, Süßigkeiten oder Begriffe auf Verpackungen werden politisiert und überhöht.

Typische Skandalisierungen – und was wirklich dahintersteckt

Jahr für Jahr kursieren ähnliche Empörungswellen:

  • Ein Discounter verkauft einen „Herbststern“ – tatsächlich handelt es sich um eine neue Pflanzensorte, nicht um die Abschaffung des Weihnachtssterns.
  • Auf der Rückseite eines Adventskalenders steht „Geschenke-Lager“ – die Vorderseite ist weiterhin eindeutig weihnachtlich gestaltet.
  • Weihnachtsmärkte oder Feste sollen angeblich umbenannt worden sein – oft hat es diese Umbenennungen nie gegeben oder sie hatten sachliche Gründe.
  • Ein Christbaum wird in einer Klinik versetzt – aus Brandschutzgründen, nicht aus religiöser Ablehnung.

In diesem Jahr dominierten vor allem Videos von Demonstrationen, die den Sturz des Assad Regimes in Syrien feierten, die als „Sturm“ auf den Weihnachtsmarkt verkauft wurden, um muslimfeindliche Ressentiments zu schüren. Wasser auf den Mühlen einer Ressentiment-getriebenen „Stadtbild-Debatte“. Solche Einzelbeispiele werden aus dem Kontext gerissen, emotional aufgeladen und als Beleg für einen angeblichen Kulturkampf präsentiert.

Strategien rechter Stimmungsmache

Rechte Akteur*innen nutzen dabei wiederkehrende Kommunikationsmuster:

  • selektive Darstellung: Fotos, Videos oder Zitate ohne Einordnung.
  • Framing: Sachliche Korrekturen werden als „Unterwerfung“ oder „Kapitulation“ gedeutet.
  • Emotionalisierung: Begriffe wie „Säuberung“, „Auslöschung“ oder „Islamisierung“ sollen Bedrohung suggerieren.
  • Vereinfachung: Komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge werden auf simple Schuldzuweisungen reduziert.

Wenn Rassismus christliche Werte ersetzt

Besonders deutlich wird die Instrumentalisierung dort, wo christliche Werte offen konterkariert werden. So etwa im Fall einer St.-Martins-Feier in Rheidt, bei der eine muslimische Mutter abwertend angesprochen wurde. Rechte Medien stellten anschließend nicht die Ausgrenzung in den Mittelpunkt, sondern stilisierten die Täter*innen zu Opfern angeblicher „Überempfindlichkeit“.

Hier zeigt sich: Es geht nicht um gelebte Nächstenliebe, sondern um Abwertung und Ausschluss.

Wenn Traditionen tatsächlich gelebt werden

Dass rechte Empörung nichts mit Religion zu tun hat, zeigt sich auch dann, wenn christliche Traditionen von Menschen gelebt werden, die nicht ins völkische Weltbild passen. Als das Nürnberger Christkind rassistisch angefeindet wurde, weil es nicht weiß war, wurde offensichtlich: Entscheidend ist nicht der christliche Bezug, sondern eine ethnisch definierte Vorstellung von „Deutschsein“.

Widersprüche der rechten Inszenierung

Besonders widersprüchlich ist die gleichzeitige Berufung auf christliche Werte und die Verherrlichung von Gewalt. In rechten Milieus werden Weihnachtsmotive mit Waffenästhetik kombiniert, etwa durch Geschenke in Form von Sturmgewehren oder martialische Symbolik. Advent und Weihnachten werden hier nicht spirituell gelebt, sondern politisch instrumentalisiert.

Weihnachtsmärkte als Ort des Kulturkampfes

Weihnachtsmärkte gelten für Rechtsextreme als besonders geeignete Orte des Kulturkampfes. Sie sind öffentlich, emotional aufgeladen und für viele Menschen ein zentraler Bestandteil der Vorweihnachtszeit – auch für jene, die sonst wenig Bezug zum Christentum haben. Rechtsextreme Musik auf Weihnachtsmärkten oder gezielte Provokationen sollen Normalität verschieben und Zugehörigkeit neu definieren.

Das Märchen vom „Weihnachtsmarktsterben“

Eng verknüpft mit dem „War on Christmas“ ist die Erzählung vom angeblichen Sterben der Weihnachtsmärkte. Ausgangspunkt waren sachliche Berichte über steigende Sicherheitskosten, etwa in Dresden. Daraus wurde in sozialen Netzwerken schnell die Behauptung, Weihnachtsmärkte würden massenhaft abgesagt.

Die Fakten sprechen eine andere Sprache:

  • In Deutschland finden jedes Jahr mehrere Tausend Weihnachtsmärkte statt.
  • 2025 wurden lediglich zwei Veranstaltungen wegen Sicherheitskosten abgesagt.
  • Weitere vereinzelte Absagen hatten andere Gründe, etwa Baustellen oder fehlende Nachfrage.
  • Branchenverbände stellen klar: Von einem flächendeckenden Sterben kann keine Rede sein.

Ein reales Kostenproblem wird hier gezielt zu einer kulturellen Katastrophe umgedeutet.

Sicherheit, Angst und Realität

Es ist unbestritten, dass es eine islamistische Bedrohungslage gibt und dass Weihnachtsmärkte seit dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz als potenzielle Anschlagsziele gelten. Diese Realität anzuerkennen, ist legitim. Sie wird jedoch von rechtsextremen und rechts-alternativen Akteur*innen instrumentalisiert, um pauschale Feindbilder zu bedienen.

Gleichzeitig unternehmen Staat, Kommunen und Sicherheitsbehörden erhebliche Anstrengungen, um Weihnachtsmärkte bestmöglich zu schützen. Angst ist gerechtfertigt und sollte als solche benannt werden – sie darf aber nicht zur Legitimation von Rassismus missbraucht werden.

Fazit: Kein Kulturkampf, sondern rechte Mobilisierung

Der angebliche „War on Christmas“ ist kein realer Angriff auf Weihnachten. Er ist ein politisches Narrativ, das gezielt Empörung erzeugt, um antimuslimische und rassistische Stimmung zu machen. Gerade in einer Zeit, die für Besinnung, Gemeinschaft und Nächstenliebe stehen sollte, wird Weihnachten so zum Werkzeug rechter Mobilisierung.

Dem gilt es mit Aufklärung, Fakten und einer klaren Haltung für eine offene, solidarische Gesellschaft entgegenzutreten.

Kommentar

Wie die Debatte über „unabhängige NGOs“ politisch instrumentalisiert wird

Timo Reinfrank, Geschäftsführender Vorstand der Amadeu Antonio Stiftung (Quelle: Peter van Heesen)

Die scheinbar sachliche Frage nach Transparenz ist Teil einer autoritären Strategie. Die Zivilgesellschaft soll als demokratische Gegenmacht geschwächt werden.

Von Timo Reinfrank

Die jüngste Ausgabe der ARD-Sendung titel, thesen, temperamente griff eine Debatte auf, die in Deutschland seit Monaten vor allem von Rechtsextremen befeuert wird: Die Behauptung, Nichtregierungsorganisationen seien nicht unabhängig genug, arbeiteten politisch voreingenommen oder seien gar von der Regierung gesteuert. Was als scheinbar sachliche Frage nach Transparenz präsentiert wird, ist längst Teil des autoritären Playbooks, wie wir es aus den USA kennen. Es ist eine Strategie, die darauf abzielt, die Zivilgesellschaft als demokratische Gegenmacht zu schwächen.

Passend zur medialen Erzählung versucht die AfD, das Thema im Bundestag weiterzutreiben. Mit einem wohl aussichtslosen Antrag auf einen Untersuchungsausschuss mit dem Titel „Mögliche parteipolitische Beeinflussung durch steuerfinanzierte Nichtregierungsorganisationen“ möchte sie die vermeintliche Skandalisierung demokratischen Engagements erneut institutionalisieren. Schon der Titel zeigt, dass es hier nicht um Aufklärung geht. Die Schlussfolgerung steht bereits im Antrag, lange bevor irgendetwas untersucht wurde.

Dass die Debatte um staatliche Förderungen von demokratischem Engagement Fahrt aufnahm, liegt auch daran, dass die CDU/CSU im Bundestagswahlkampf 2025 eine umfangreiche Anfrage an die Bundesregierung gestellt hatte: 551 Fragen zu angeblichen politischen Verflechtungen von gemeinnützigen Organisationen. Wer die Liste las, fand dort ein buntes Sammelsurium von ganz unterschiedlichen Organisationen, die miteinander kaum etwas gemein hatten – außer der Tatsache, dass sie in irgendeiner Form Teil der demokratischen Zivilgesellschaft sind. Die meisten von ihnen wussten nicht einmal, warum sie genannt wurden. Dennoch bildeten sie plötzlich das Herzstück einer Erzählung über angebliche politische Einflussnahme und einen „NGO-Schattenstaat“. Eine Erzählung, die ursprünglich in Staaten wie Russland, Ungarn oder der Türkei, im Zuge autoritärer Ermächtigung ihren Ursprung fand. Dort wurden NGOs seit den 2010er-Jahren zunehmend als „ausländische Agenten“ diffamiert. Damit sollten kritische zivilgesellschaftliche Organisationen geschwächt und vor allem kriminalisiert werden. Aber auch in den USA konnte sich spätestens seit der Tea-Party-Bewegung ein Anti-NGO-Narrativ etablieren, durch die verschwörungsideologische QAnon-Bewegung wird die Erzählung ergänzt und zu einem kohärenten Narrativ, dass vor allem George Soros und die Open Societies Foundations in den Vordergrund rückt. Dieser Wandel macht sich auch sprachlich bemerkbar: In Deutschland spricht man mittlerweile nicht mehr von Vereinen, Verbänden oder Stiftungen, sondern von NGOs, als Chiffre für undurchsichtige Macht- und Finanzierungsstrukturen.

Ebenfalls fehlte in der ttt-Sendung wichtiger Kontext: Die Amadeu Antonio Stiftung hat nicht zu den Demonstrationen aufgerufen, die in der Anfrage als Anlass genannt wurden. Auch fast alle anderen Organisationen auf der 551-Fragen-Anfrage hatten mit den Protesten nichts zu tun. Tatsächlich waren es nur wenige zivilgesellschaftliche Akteure wie Campact und Ortsgruppen von Omas gegen Rechts, die im Frühjahr 2025 zu Protesten aufriefen und das aus einem klar nachvollziehbaren Grund: Die CDU/CSU hatte im Bundestag in Kauf genommen, mit Stimmen der AfD einen Antrag durchzubringen. Das war ein politischer Tabubruch, den rückblickend selbst CSU-Chef Markus Söder kritisch sieht. Dass demokratische Organisationen dagegen mobilisierten, ist ihr gutes Recht – ja, es ist Ausdruck demokratischer Wachsamkeit. Dies nun als vermeintlichen Beleg für mangelnde Unabhängigkeit zu instrumentalisieren, ist eine gefährliche Verdrehung demokratischer Grundsätze – zumal insbesondere Campact nicht gemeinnützig ist, keine staatlichen Mittel bekommt und auch nur ein kleiner Teil der Omas gegen Rechts jemals eine Kleinstförderung bekommen haben.

Zugleich ist bemerkenswert, dass die Union nach der Wahl ihre eigene Rhetorik relativiert hat. Heute bekennt sie sich auch im Koalitionsvertrag klar zur Bedeutung zivilgesellschaftlicher Demokratieförderung. Der ttt-Beitrag bildet nach wie vor die aufgeheizte Wahlkampflogik ab – nicht die politische Realität danach.

Dass die Erzählung von der angeblich fehlenden Kontrolle von NGOs sachlich falsch ist, hätte ebenfalls klarer benannt werden können. Die Programme zur Demokratieförderung gehören zu den am besten evaluierten Bereichen des Bundeshaushalts. Wirkungsüberprüfungen, detaillierte Verwendungsnachweise und strenge Qualitätsanforderungen sind der Standard, nicht die Ausnahme. Wer behauptet, NGOs agierten in einem rechtsfreien Raum, ignoriert bewusst, wie engmaschig diese Programme beaufsichtigt sind.

In der ttt-Sendung wurde auch der Vorschlag diskutiert, eine unabhängige Kommission solle künftig über die Vergabe von Fördermitteln entscheiden. Was technokratisch klingt, wäre in Wahrheit ein tiefgreifender Angriff auf die parlamentarische Demokratie. Wenn demokratisch gewählte Abgeordnete Kontroll- und Entscheidungsrechte an eine externe Instanz abgeben, verlieren sie nicht nur Einfluss – sie entziehen dem demokratischen Prozess seine Legitimation und Kontrolle. Kein funktionierender demokratischer Staat der Welt lagert diese Kernaufgabe seiner politischen Ordnung aus. Es wäre ein gefährlicher Präzedenzfall.

Der politische Kern dieser Debatte ist jedoch ein anderer: Es geht nicht um Neutralität, sondern darum, das Engagement gegen Rechtsextremismus umzudeuten. Genau jene Organisationen, die rechte Gewalt dokumentieren, Betroffene unterstützen, Präventionsarbeit leisten und demokratische Proteste organisieren, geraten ins Visier. Die AfD stört sich nicht an NGOs im Allgemeinen – sie stört sich an jenen, die sichtbar machen, was sie selbst verharmlosen oder leugnen möchte. Und je erfolgreicher diese Arbeit ist, desto härter werden die Angriffe.

Der von der AfD gewünschte Untersuchungsausschuss zeigt, wie offensiv diese Strategie inzwischen verfolgt wird. Er soll den Eindruck erwecken, es gebe ein strukturelles Problem, das nur eine parlamentarische Sonderkommission klären könne. Tatsächlich soll jedoch die Zivilgesellschaft in eine defensive Position gedrängt werden. Wenn kritische Akteure befürchten müssen, jederzeit Gegenstand eines politischen Tribunals zu werden, erfüllt das den Zweck in der Strategie: Abschreckung, Verunsicherung, Schweigen.

Die entscheidende Frage lautet also nicht, ob NGOs unabhängig genug sind. Die entscheidende Frage lautet, ob wir bereit sind, jene zu schützen, die durch ihr Engagement täglich dazu beitragen, dass Demokratie nicht nur ein Verfassungsbegriff ist, sondern gelebte Praxis. Die ttt-Sendung hätte diese politische Dimension deutlich stärker herausarbeiten können. Die Debatte über die Unabhängigkeit von NGOs ist kein abstrakter Diskurs, sondern ein Versuch, eine der zentralen Säulen der demokratischen Kultur anzugreifen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Belltower.News.

Gefördertes Projekt

Baseballschlägerjahre: Kammerspiele Magdeburg arbeiten rechtsextreme Gewalt auf

Foto: Nilz Böhme

In den 1990er Jahren setzte in Ostdeutschland ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel ein, der mit Hass, Rassismus und Hetzjagden verbunden war. Das Ein-Personenstück „Herrentage“ der Magdeburger Kammerspiele beschäftigt sich mit Ursachen und Folgen der rechten Gewalt, die Generationen prägten und bis heute fortwirken.

Von Vera Ohlendorf

„Die Füße haben gebrannt… vom Rennen. Wenn du daran denkst, wie das war… damals… dann erinnerst du dich zuerst an das Rennen. Scheiße… du hättest auf ner Sportschule sein können so viel bist du gerannt…“

Ein kurzes Video zeigt den Magdeburger Jugendclub „Knast“, in den 1990er Jahren Rückzugsort für viele junge Punks und häufiges Angriffsziel von Neonazis. Dann betritt ein Mann die Bühne, vielleicht Ende 30. Er trägt ein schlabberiges T-Shirt, Jogginghose und Turnschuhe. Eine Glatze hat er nicht. Er übt mit einem Baseballschläger und denkt laut nach. Über seine Jugend in Magdeburg und über das „Werkzeug“ in seiner Hand: „Eigentlich ist der Baseballschläger nicht für Gewalttäter erfunden worden, sondern für Künstler*innen. Er bringt eine der größten Herausforderungen mit sich, die es im Sport überhaupt gibt: Den Ball so zu treffen, dass er aus dem Spielfeld katapultiert wird.“ Es bleibt zunächst unklar, ob er aus der Täter- oder der Opferperspektive spricht.

Rechtsfreie Räume

Der Schläger steht symbolisch für ein Lebensgefühl der 1990er Jahre, besonders in Ostdeutschland. Hier spielte Baseball keine Rolle. Nach dem Ende der DDR brach eine andere Zeit an: Neue Freiheiten einerseits, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven andererseits. Viele junge Menschen zogen in die westdeutschen Bundesländer, deutlich mehr Frauen als Männer. Ein Vakuum entstand, das von rechtsextremen Gruppen gefüllt wurde. Menschen mit Migrationsgeschichte, Wohnungslose, linke Jugendliche und alle, die als „anders“ oder „nicht-deutsch“ galten, wurden zur Zielscheibe. Der Baseballschläger bedeutete Gefahr und ständige Angst. Polizei, Behörden und die Mehrheitsgesellschaft bagatellisierten den Hass oder kapitulierten angesichts der rechtsextremen Gewalt. Für die Betroffenen gab es kaum Unterstützung.

„Herrentag“ von Autor und Regisseur Jochen Gehle widmet sich der Zeit von 1990 bis 1997 in Magdeburg. Auf Grundlage von Recherchen und Gesprächen mit Zeitzeug*innen ist, gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung, ein fiktionales Stück entstanden, das auf Tatsachen beruht, an die sich viele Magdeburger*innen erinnern. Adäquat aufgearbeitet wurden die „Himmelfahrtskrawalle“ bisher aber kaum. Wohl auch deshalb ist die Premiere der Uraufführung Anfang Oktober 2025 an zwei Abenden ausverkauft. Als Kooperationspartner sind die Landeszentrale für politische Bildung und Miteinander e.V. als Beratungs- und Bildungsinitiative im Bereich Rechtsextremismus und Prävention beteiligt.

„Es ist unser Kernanliegen, Geschichten für die Menschen hier zu erzählen, am besten mit Geschichten von hier“, erzählt Betty Magel, Produktionsleiterin der Magdeburger Kammerspiele. „Die Baseballschlägerjahre sind in Magdeburg ein gesellschaftlich sehr randständig behandeltes Kapitel. Wir wollen den Magdeburger*innen damit einen Gesprächsanlass bieten, über rechtsradikale Gewalt zu sprechen.“

„Himmelfahrtskrawalle“ 1994

In Magdeburg stehen die Baseballschlägerjahre vor allem mit den sogenannten „Himmelfahrtskrawallen“ am 12. Mai 1994 in Verbindung. Bei dem rassistischen Pogrom wurden Migrant*innen von bis zu 200 Neonazis über Stunden nahezu ungestört vor laufenden TV-Kameras und unter Beifall von Passant*innen durch die Innenstadt gehetzt. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, Geschäfte zerstört. Der 30jährige Algerier Farid Boukhit erlitt schwere Verletzungen durch zahlreiche Schläge mit Baseballschlägern und Knüppeln. Er verstarb vier Monate später am 27. September 1994. Da die Staatsanwaltschaft einen Zusammenhang zwischen der Körperverletzung und dem Tod ausschloss, wurde der Leichnam nicht obduziert. Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt setzte sich vergeblich für eine Überprüfung der Todesursachen ein. Bis heute ist Farid Boukhit nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Wer ihn getötet hat, wurde bis heute nicht ermittelt. Polizei und Behörden leugneten die rassistische Motivation der Hetzjagd. Ermittlungen wegen Fehlverhaltens von Polizeibeamt*innen wurden schnell wieder eingestellt. Von 86 ermittelten mutmaßlichen Tätern wurden nur acht zu Haftstrafen verurteilt.

Im Stück werden die Schilderungen der Hetzjagd und ihrer Folgen flankiert von fiktionalisierten Aussagen eines Politikers und eines Polizisten, die die rassistischen Ausreden für das Behördenversagen der Zeit widergeben, darunter auch die zynische Aussage des damaligen Polizeichefs, „Sonne und Alkohol“ seien Gründe für die gewalttätigen Ausschreitungen gewesen, „die Afrikaner“ seien selbst verantwortlich und Asylrechtsverschärfungen unumgänglich. Im Theater bleibt es jedoch nicht beim Beschreiben der rassistischen Realität. Der fiktive Politiker hält eine alternative Rede, die bis heute nicht zu hören war und die vielleicht gerade deshalb 30 Jahre später betroffen macht:

„Ein Staat, der nicht in der Lage ist, allen Personen gleichermaßen das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu sichern, ist das Papier nicht wert, auf dem seine Verfassung geschrieben ist. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die Problematik durch ein konsequenteres Einschreiten der Polizei oberflächlich einzudämmen ist, allerdings wird das nicht helfen, die toxische Mischung aus Perspektivlosigkeit, Frustration und tief verinnerlichtem Rassismus und Hass aus den Köpfen und Herzen der oft sehr jungen Gewalttäter herauszubekommen.“

15 Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt seit 1992

Rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte beschränkten sich in Magdeburg nicht auf den Himmelfahrtstag 1994. Am 9. Mai 1992 wurde der 23-jährige Punk Torsten Lamprecht während eines Überfalls von 60 Neonazis auf eine Geburtstagsfeier in der Gaststätte „Elbterrassen“ getötet. Die Täter waren mit Stahlrohren, Baseballschlägern und Leuchtkugeln bewaffnet. Die Polizei wartete zunächst ab und griff erst ein, als die Angreifer bereits geflüchtet waren. Drei Jahre später wurde ein 24-jähriger Wolfsburger wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Haft verurteilt. Wer genau Lamprecht tötete, wurde nie ermittelt. Auch diese Geschichte ist Teil des Stücks, ebenso wie die von Frank Böttcher. Der 17-jährige Punk wurde im Februar 1997 Opfer eines rechtsextremen Angriffs, als er auf dem Weg von einem Krankenhaus nach Hause war. Er wurde durch Stiefeltritte und Messerstiche getötet. Der Täter wurde zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren verurteilt. Der Schauspieler Kevin Schulz spielt diese Szene mit quälender Langsamkeit und vielen Details, die für viele Gäste im Publikum nur schwer zu ertragen sind.

Die drei Personen stehen stellvertretend für insgesamt 15 Opfer, die seit 1992 in Sachsen-Anhalt getötet wurden. Nur sieben von ihnen sind durch die Bundesregierung offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.

Angst und Gewalt

Die gleichzeitig dokumentarische und fiktionalisierte Erzählform erlaubt es den Zuschauenden, einen emotionalen Zugang in die Welt der 1990er Jahre in Magdeburg zu finden. Die fiktionale Person Andi erzählt eindrücklich von der ständigen Angst junger Menschen, die zur Zielscheibe werden und ihr Leben präventiv einschränken. Eine ähnliche Funktion hat auch die fiktive Figur des Sportlehrers, der den Sportunterricht kurzerhand anpasst und nur noch den Umgang mit rechtsextremer Straßengewalt unterrichtet. Zynisch und an manchen Stellen überspitzt wird einem jüngeren Publikum heute so verständlich, wie ausweglos die Situation für viele Jugendliche in Magdeburg und in ganz Ostdeutschland gewesen ist, angesichts fehlenden Schutzes durch Erwachsene oder die Schule.

Das Stück stößt in Magdeburg nicht überall auf Zustimmung. „Wir haben einen Förderantrag bei der Stadt gestellt. Die AfD-Stadtratsfraktion hat daraufhin nachgefragt, weshalb ein so „politisch einseitiges Projekt“ Geld erhalten solle, wurde aber überstimmt“, erzählt Betty Magel. Die Vorstellungen wurden auf Anraten des Miteinander e.V. durch einen professionellen Security-Dienst abgesichert.

Das Schweigen brechen

„Herrentag“ erzählt auch davon, wie die Baseballschlägerjahre zwei Generationen bis heute prägen. Viele Menschen leben mit traumatischen Erinnerungen an Bedrohungen, eingeschränkte Bewegungsräume oder erlittene Körperverletzungen, die keine Statistik abbildet. Darüber wird kaum gesprochen, weder in den Familien noch in der Öffentlichkeit. Während des Publikumsgesprächs zeigen sich viele Magdeburger*innen sehr bewegt. Eine Frau erzählt davon, dass sie als junge Mutter in den 1990er Jahren nur wenig von den Hetzjagden mitbekommen hat und lange nicht nachvollziehen konnte, weshalb Magdeburg für viele junge Menschen eine „No-Go-Area“ war. Sie hofft, dass sich mehr Jugendliche heute mit dem Thema auseinandersetzen können. Einige Zuschauer*innen ziehen Parallelen in die Gegenwart, in der die Zustimmungswerte zu rechtsextremen Ideologien und Parteien steigen und rechts motivierte Gewalt statistisch nachweisbar wieder zunimmt. Hat sich wirklich etwas verändert? Pascal Begrich von Miteinander e.V. beantwortet diese Frage mit einem klaren „Ja“: Heute bleiben Opfer nicht sich selbst überlassen. Es gibt Beratungsstellen, Präventionsprojekte und eine Zivilgesellschaft, die hinschaut, skandalisiert und solidarisch handelt.

Der Theaterabend ist ein wichtiger Schritt hin zu einer vertieften Auseinandersetzung, die nicht bei der Erinnerung an die Todesopfer enden soll. Die Magdeburger Kammerspiele planen eine Bürgerbühne, bei der auch Magdeburger*innen mit Rassismuserfahrungen und Migrationsgeschichte zu Wort kommen und ihre Erfahrungen und Geschichten der letzten 30 Jahre teilen. Ihre Perspektiven bleiben in den Gedenkveranstaltungen zu den Baseballschlägerjahren bis heute häufig unsichtbar.

Als mobile Schulproduktion geht „Herrentag“ ab Frühjahr 2026 auf Tour – in gekürzter Form, die extreme Gewaltszenen weglässt. Schon im Oktober 2025 hatten 260 Schüler*innen von sechs Schulen Gelegenheit, bei zwei Aufführungen dabei zu sein. Das Theater stellt pädagogisches Begleitmaterial zur Verfügung. Am 10. und 11. März 2026 wird es weitere Abendveranstaltungen für Erwachsene geben. Obwohl die Magdeburger Stadtpresse bisher nicht über das Stück berichtete, ist die Nachfrage groß.

Hier wirkt deine Spende

Menschenwürde verteidigen: Hier macht deine Spende einen echten Unterschied!

Die demokratische Zivilgesellschaft steht bundesweit unter Druck, Angriffe und Diffamierungen haben sich in 2025 weiter zugespitzt. Engagierte Menschen bleiben trotzdem stabil und kämpfen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus – für die Werte des Grundgesetzes und eine lebendige Demokratie. Die Amadeu Antonio Stiftung fördert und unterstützt sie dank zahlreicher Spender*innen.

Diffamierungen, Angriffe, Kürzungen öffentlicher Fördermittel – 2025 war für viele zivilgesellschaftliche Initiativen mit Herausforderungen verbunden. Dabei brauchen wir ihre Arbeit mehr denn je: Rechtsextreme Einstellungen treffen auf immer mehr Zustimmung und führen dazu, dass Gewalt in allen Bundesländern spürbar zunimmt. Desinformation, Verschwörungserzählungen und Antisemitismus gehören zu unserem Alltag – ebenso wie ein rassistischer Normalzustand, der Abschiebungsforderungen genauso befeuert wie Debatten, die ganze Bevölkerungsgruppen abwerten und diskriminieren.

Deshalb ist ganz klar: Der Kampf für Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und die plurale Gesellschaft bleibt alternativlos. 2025 haben wir bundesweit 304 Projekte der demokratischen Zivilgesellschaft gefördert, die – ganz im Sinne des Grundgesetzes – nicht „neutral“ zuschauen, sondern aufklären, sensibilisieren, entkräften, gedenken, Begegnungsräume schaffen, Netzwerke bilden, Sicherheit gewährleisten und Alternativen bieten.

Solidarität ist Resilienz! Wir danken allen Engagierten in den Projekten und Initiativen für ihre Energie, ihre Kreativität und ihren Mut.

2025 haben uns deutlich mehr Förderanträge erreicht als je zuvor. Denn während sich immer mehr Menschen gegen die Bedrohungen der Demokratie engagieren, schrumpfen öffentliche Förderprogramme. Unsere Kleinprojekteförderung kann Kürzungen durch Bund, Länder und Kommunen nicht kompensieren. Sie ermöglicht es aber, in kleinen Orten und ländlichen Räumen wirksam und nachhaltig auf konkrete Konflikte und Probleme zu reagieren, Ideen umzusetzen und Menschen in Kontakt und ins Handeln zu bringen.

Diese Projekte stehen beispielhaft für das vielfältige, kraftvolle und kreative Engagement:

Sonneberg zeigt Haltung! Ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis aus Kirchengemeinden, Gewerkschaften, demokratischen Parteien und Vereinen engagiert sich entschlossen, u.a. mit Demokratiefesten, Pluralität und Vielfalt, in dem Landkreis, der als erster einen AfD-Landrat bekam.

In Ostdeutschland finden gewaltbereite rechtsextreme Jugendgruppen immer mehr Anhänger*innen. Kampfsport spielt für die Rechtsextremen dabei eine entscheidende Rolle und ist Mittel für Rekrutierung, Vernetzung und Professionalisierung der Gewalt. Der Chemnitzer Sportverein Athletic Sonnenberg e.V. vermittelt Trainer*innen und Gymbetreiber*innen Wissen und praxiserprobte Strategien, damit Rechtsextreme keine Chance haben, Gyms oder Vereine zu vereinnahmen. Ihr Bildungsprojekt stärkt die Resilienz der Kampfsportszene in Chemnitz und der Region.

Im hessischen Weilburg entstand ein neuer Demokratietreffpunkt, der Menschen über alle Gruppen, Milieus und Altersklassen hinweg in Kontakt bringt und einen geschützten Raum zur Auseinandersetzung mit Kontroversen, Verschwörungserzählungen und gesellschaftlichen Krisen bietet. Der Verein Weilburg erinnert e.V. fördert mit Diskussionsveranstaltungen und Workshops das Bewusstsein für Solidarität und eine demokratische Debattenkultur.

In Demmin in Mecklenburg-Vorpommern treffen sich jedes Jahr am 8. Mai Rechtsextreme zu einem Fackelmarsch. Engagierte rund um den Demminer Bürger e.V. und das Aktionsbündnis 8. Mai stellen sich den Nazis mit einem großen Demokratiefest entgegen und widersprechen der geschichtsrevisionistischen Propaganda. Dabei werden sie von Demokrat*innen aus Rostock, Hamburg und weiteren Städten unterstützt.

Gegenwind – Fonds gegen Rechtsextremismus

105 Projekte, die sich in Ostdeutschland gegen rechtsextreme Menschenfeindlichkeit stark gemacht haben, wurden im Rahmen des Gegenwind – Fonds gegen Rechtsextremismus gefördert: Hunderte Menschen haben, meist ehrenamtlich, Demokratiefeste und Festivals organisiert, Begegnungsräume aufgebaut, Kampagnen gestartet, über die Folgen von Rechtsextremismus und Rassismus aufgeklärt, Menschen mit Rassismuserfahrungen empowert und sich klar gegen soziale Kälte positioniert. Die meisten Projekte wurden in Sachsen und Brandenburg umgesetzt.

Regenbogenschutzfonds

2025 kam es in Deutschland bei fast jedem zweiten CSD zu Angriffen und Störungen, fast die Hälfte davon ging von organisierten Rechtsextremen aus. Deren Mobilisierung hat ein neues Niveau an Professionalität erreicht: Queerfeindlichkeit ist zentraler Bestandteil ihrer Strategie gegen Demokratie und Vielfalt. Weil Behörden die Bedrohungslage teils unterschätzten, haben wir in Zusammenarbeit mit Campact den Regenbogenschutzfonds ins Leben gerufen. Mit 100.000 Euro wurden über 50 CSDs gezielt gefördert. Dadurch konnte die akute Bedrohungslage verringert werden.

CSD Grevesmühlen: „Durch den Regenbogenschutzfonds konnten wir den Schutz queerer Menschen gewährleisten, wo die Polizei es nicht konnte, wie zum Beispiel in den Zügen von und nach Grevesmühlen.”

CSD Plauen: „Durch den Schutzfonds […] haben wir einen Grundstein für langfristige, selbstorganisierte Unterstützungsmaßnahmen für (queere) Veranstaltungen in Plauen gelegt.“

CSD Zwickau: „Die Förderung hat unsere Veranstaltung erst ermöglicht. Wir konnten Menschen eine Bühne geben, deren Stimme im Alltag nicht erhört, denen sie teils ganz abgesprochen wird.“

CSD Halle/Saale: „Auch in diesem Jahr waren wir mit rechten Gegenprotesten und Störaktionen konfrontiert. Durch den Regenbogenschutzfonds konnten wir für einen störungsfreien Ablauf unserer Veranstaltung sorgen […] und unsere queerpolitischen Forderungen auf die Straße tragen.“

CSD Koblenz: „Die Förderung hat uns ermöglicht, durch das Engagieren einer Security ein im Vergleich zum Vorjahr deutlich engeres Sicherheitsnetz auf dem Platz herzustellen. […] So konnten einige Situationen sofort erkannt und entschärft werden. […] Zudem bewerten wir das präsente Auftreten der Security bereits als große Abschreckung gegenüber möglichen Störer*innen.“

CSD Freiberg: „Wir konnten unseren Ordner*innen eine Aufwandsentschädigung zahlen. Da uns dieses Jahr eine rechtsextreme Gegendemonstration in Sicht- und Hörweite gefolgt ist, war ihre Arbeit besonders wichtig.“

Wir bedanken uns bei allen Spender*innen und der Bürgerbewegung Campact, die sowohl den Gegenwind-Förderfonds als auch den Regenbogenschutzfonds möglich gemacht haben.

Weitere 147 Projekte engagierten sich bundesweit gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus

Unsere reguläre Förderung war erneut ebenfalls stark nachgefragt und verzeichnete hohe Antragsahlen. Bis zu 2.500 EUR konnten Initiativen aus allen Bundesländern beantragen, die sich für eine kritische Erinnerungskultur an den Holocaust und weitere Verbrechen des Nationalsozialismus oder rechtsextreme und rassistische Morde nach 1945 einsetzten, gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus aktiv wurden und Betroffene von Gewalt schützten.

Wir freuen uns, dass wir im Vergleich zu 2024 deutlich mehr Projekte aus Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz fördern konnten, die sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus vor Ort eingesetzt haben – die Ergebnisse der Bundestagswahlen haben einmal mehr gezeigt, dass rechtsextreme Normalisierungsprozesse nicht auf ostdeutsche Bundesländer beschränkt bleiben.

Sicherheitsmaßnahmen

Uns haben in diesem Jahr über die CSDs hinaus viele Anträge für Sicherheitsmaßnahmen erreicht. Ein deutliches Zeichen dafür, dass rechtsextrem motivierte Angriffe auf die Arbeit der demokratischen Zivilgesellschaft zunehmen und Bedarfe nach Security für Veranstaltungen, Schulungen, Resilienz-Beratungen, Anschaffungen von Sachmitteln (z.B. Walkie-Talkies, Schutzfolien für Fensterfronten) oder Supervisionen nach Angriffen sehr groß sind. Dank Spenden konnten wir Sicherheitsmaßnahmen für 26 Projekte in Chemnitz, Biesenthal, Laage, Dresden, Burgdorf, Veilsdorf, Magdeburg, Görlitz, Torgau, Neustadt an der Weinstraße, Langenhagen, Werdau, Sonneberg, Apolda, Erfurt, Zwenkau, Halle, Magdeburg, Grimma, Strausberg und in weiteren Orten finanzieren.

Die folgenden Beispiele zeigen den Ideen- und Methodenreichtum der geförderten Projekte:

Seit dem Massaker der Hamas am 07. Oktober 2023 und dem Beginn des Gaza-Krieges nehmen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit zu. Diskurse werden extrem polarisiert geführt. Die LAG politisch kulturelle Bildung Sachsen e.V. hat Fachaustausche organisiert, die politische Bildner*innen in Sachsen zusammengebracht und Räume eröffnet haben, in denen konfliktbeladene Themen mit Empathie für die Perspektiven von Betroffenen besprochen wurden. So entwickelten sich neue Ansätze für eine rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit in Sachsen.

Kurz vor dem Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlages lud die Initiative 19. Februar Hanau zu einer Veranstaltung in Hanau ein, um der Ermordeten zu gedenken und über die gemeinsamen Kämpfe für eine vollständige Aufarbeitung zu sprechen. Angehörige und Überlebende teilten ihre Gedanken, Emotionen und Hoffnungen. Trotz und wegen Behördenversagens und fehlender Konsequenzen gegenüber den Verantwortlichen macht die Initiative eine zivilgesellschaftliche Aufarbeitung und ein würdiges Erinnern möglich.

Da viele junge Menschen in Magdeburg kaum Wissen über die Lebensrealitäten von Migrant*innen in der DDR haben, hat der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt das Projekt REAL*TALK Ost entwickelt. Hier kamen Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichten aus verschiedenen Generationen zusammen, um ihre Geschichten und Erfahrungen zu teilen und Ideen für eine gerechtere und offenere Gesellschaft zu formulieren.

An einer Mittelschule im bayrischen Nersingen kam es zu rassistischen Diskriminierungen durch Schüler*innen. Die Schulleitung organisierte ein Anti-Rassismus-Training für die betreffenden Jahrgangsstufen. Die Schüler*innen lernten, Denk- und Handlungsmuster kritisch zu reflektieren und Handlungsstrategien für mehr Zivilcourage im Schulalltag zu entwickeln.

Alle geförderten Projekte 2025 sind hier einsehbar.

Ausblick 2026 – Räume schaffen, resilient bleiben

Demokratische Räume, in denen Menschen auf Augenhöhe und ohne menschenfeindliche Ideologie miteinander in Austausch kommen, stehen unter Druck – in Ostdeutschland und immer häufiger auch im Westen. Die demokratische Zivilgesellschaft sieht sich weiterhin mit Fördermittelkürzungen, kleinen Anfragen und Diffamierungsstrategien konfrontiert, die mit Falschinformationen zum angeblichen „Neutralitätsgebot“ darauf abzielen, Gemeinnützigkeit und Daseinsberechtigungen von Vereinen und Initiativen in Frage zu stellen.

Die kommenden Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt stellen für engagierte Demokrat*innen in beiden Bundesländern eine weitere Herausforderung dar. Wir alle sind gefordert, bundesweit und insbesondere in Ostdeutschland dabei mitzuhelfen, demokratische Kerne zu erhalten und neue Räume entstehen zu lassen – gerade dort, wo AfD-Regierungsbeteiligungen auf Kommunal- oder Landesebene nicht auszuschließen sind.

Demokratie verteidigen heißt, Menschen Gestaltungsmöglichkeiten, Räume und Rückhalt zu geben! Wichtig sind diese Räume besonders für diejenigen, die Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus, Queerfeindlichkeit und weiteren Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ausgesetzt sind und für die Ausgrenzung und Gewalt schon zum Alltag gehören.

  • Wir werden den Gegenwind – Förderfonds gegen Rechtsextremismus 2026 fortführen und damit dazu beitragen, dass in kleinen und mittelgroßen Städten und in ländlichen Regionen demokratische Räume erhalten bleiben und neu entstehen.
  • Wir werden noch intensiver daran arbeiten, Initiativen dringend notwendige Mittel für Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen – mehr Resilienz für CSDs und alle anderen, die bedroht und angegriffen werden.
  • Der allgemeine Fonds der Amadeu Antonio Stiftung wird bundesweit Projekte fördern, die kritische Erinnerungskulturen pflegen, Kontinuitäten benennen, Perspektiven und Empowerment von Betroffenen in den Mittelpunkt stellen und Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus und andere Formen gruppenbezogener Menschlichkeit bekämpfen.

2025 haben wir über 620.000 Euro zur Verfügung stellen können. Um unsere Förderung bundesweit fortsetzen zu können, benötigen wir deine Spende! Hilf mit, die Demokratie zu verteidigen!

35 Jahre nach dem Mord an Amadeu Antonio: Warum die Bundesregierung über 100 rechte Morde nicht zählt

Amadeu Antonio gilt als eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung. Er starb am 6. Dezember 1990, nachdem er elf Tage zuvor von einem Neonazi-Mob brutal zusammengeschlagen und ins Koma geprügelt wurde. Doch seit dem Mord an Amadeu Antonio vor 35 Jahren haben Rechtsextreme nicht aufgehört zu morden. Im Gegenteil, seit der Wiedervereinigung zieht sich die Blutspur rechter Gewalt durch die Geschichte der Bundesrepublik.

Staatliche Behörden erkennen lediglich 117 Todesopfer offiziell an, die Amadeu Antonio Stiftung hingegen dokumentiert derzeit 221 Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt. Die Gründe für diese Diskrepanz von über 100 verwehrten Anerkennungen rechter Tatmotive sind vielschichtig. Doch sind vor allem die Konsequenzen dieser Lücke verheerend – sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftspolitischer Ebene.

Der doppelte Schmerz

Das erste und oft entscheidende Problem entsteht bereits bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit: Ob ein rechtsextremes Motiv bei einer Tat überhaupt erkannt wird, hängt maßgeblich von den zuständigen zum Tatort gerufenen Polizist*innen ab. Dies liegt auch daran, dass die Behörden bei der Erfassung politisch motivierter Kriminalität oft das „tatauslösende“, also dominierende, rechtsextreme Motiv zur Einschätzung heranziehen. Taten, bei denen ein rechtsextremes Motiv lediglich begleitend oder wie in den meisten Fällen Gewalt-eskalierend wirken, werden dabei leicht übersehen oder gar nicht erst in Betracht gezogen.

Studien legen offen, dass von Rassismus betroffene Menschen häufig eine sekundäre Viktimisierung erfahren: Sie erleben eine erneute Schädigung durch jene Instanzen, die sie eigentlich schützen sollen. Die Behörden neigen dazu, nach leicht beweisbaren persönlichen Konflikten oder direkten Täter-Opfer-Beziehungen zu suchen, während Indizien für ein politisches Motiv zu wenig Beachtung geschenkt werden – im schlimmsten Fall kommt es sogar zur Täter-Opfer-Umkehr. Ein drastisches Beispiel sind die Ermittlungen im NSU-Komplex, bei denen jahrelang in Richtung angeblicher Verbindungen der Opfer in ein kriminelles Milieu ermittelt wurde, obwohl es diese gar nicht gab.

Die SeVik-Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft der Universität Jena zeigt deutlich: Behörden greifen bei politisch motivierter Kriminalität weiterhin auf unzureichende und verengte Erklärungsmuster zurück. Rechtsextreme Gewalt wird häufig nur dann anerkannt, wenn die Täter*innen polizeibekannte, organisierte Neonazis sind oder wenn eindeutige rechtsextreme Symbolik vorliegt.

Doch wie das Deutsche Institut für Menschenrechte betont, geht es bei rassistischer Gewalt nicht in erster Linie um die subjektiven Motive der Täter*innen, sondern um die Wirkung der Tat auf die Betroffenen. Deshalb muss die Motivermittlung konsequent bei der Perspektive der Betroffenen ansetzen, sobald ein Verdacht auf eine rechtsextreme Tat besteht. Nur ein solcher Ansatz gewährleistet, dass die menschenfeindliche Realität der Tat korrekt erfasst wird – und Betroffene ernst genommen sowie geschützt werden.

Die juristische Hürde

Dieses Dilemma spitzt sich im Gerichtssaal weiter zu. Besonders hier wird die Schwierigkeit deutlich, das rechtsextreme Motiv der Tat formaljuristisch zweifelsfrei nachzuweisen, obwohl der inhaltliche Gehalt des Geschehens klar darauf hindeutet. Zwar gelten rassistische oder menschenfeindliche Motive im deutschen Strafrecht als besonders verwerflich und strafverschärfend. Sie erfüllen das Mordmerkmal der „niedrigen Beweggründe“ und würden eine Tötung zum Mord hochstufen. Trotzdem entscheiden sich Gerichte oft für das leichter beweisbare Urteil: Totschlag. Es geht ihnen dabei auch um Verfahrenssicherheit, denn Mord als vermeintlich subjektives Motiv ist weitaus schwerer zu beweisen.

Richter*innen und Staatsanwält*innen versuchen deshalb, mögliche Verfahrensfehler und Revisionsverfahren zu vermeiden, anstatt das volle Unrecht der Tat in der Urteilsbegründung abzubilden.

Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist der Mord an Mahdi ben Nacer, bei dem das Gericht trotz klarer Aktenlage ein rassistisches Motiv umgehend ausschloss. Der Täter wurde nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags verurteilt – ein Vorgehen, das der Generalbundesanwalt später beanstandete, weil das qua Aktenlage offensichtlich vorliegende rassistische Motiv nicht ausreichend erörtert wurde. Der Bundesgerichtshof entscheidet voraussichtlich Mitte Dezember über die Wiederaufnahme des Verfahrens.

Die Verantwortung des Staates

Diese fehlende juristische Konsequenz bei der Würdigung des Motivs hat weitreichende Konsequenzen für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft. Denn die Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt ist weit mehr als eine bürokratische Geste: Sie ist ein Schlüssel zu mehr Gerechtigkeit und dem Schutzversprechen unserer Verfassung. Mit der Anerkennung erhalten Angehörige nicht nur Anspruch auf Entschädigungszahlungen, sie erhalten vor allem eine Antwort auf das quälende „Warum?“. Die staatliche nicht-Anerkennung dieser Fälle hat traumatisierende Konsequenzen für die Hinterbliebenen.

Auf gesellschaftspolitischer Ebene führt diese Praxis zu einer gefährlichen Verzerrung der Realität, indem sie die wahre, tödliche Konsequenz von Rassismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und anderen menschenfeindlichen Ideologien systematisch verschleiert. Wird ein Problem nicht sichtbar gemacht, kann auch wenig dagegen unternommen werden.

Die Justiz muss sich der Herausforderung stellen, die tödliche Realität rechter Gewalt konsequent als solche zu benennen. Das rassistische oder menschenfeindliche Motiv muss auch dann als schwerwiegender Umstand behandelt werden, wenn es nicht für eine Mordanklage reicht. Selbst wenn das Gericht „nur“ auf Totschlag erkennt, muss der menschenfeindliche Hass in der Urteilsbegründung ausführlich gewürdigt werden, um das Strafmaß deutlich zu erhöhen. Diese explizite Benennung ist ein entscheidender Schritt, um Opfern und Angehörigen später die offizielle Einstufung der Tat als staatlich anerkannte Form politisch motivierter Gewalt zu erleichtern.

Der 35. Todestag von Amadeu Antonio ist nicht nur ein Tag des Gedenkens, sondern eine dringende Mahnung an Politik, Justiz und Sicherheitsbehörden, den Blick bei der Bewertung von Vorurteilskriminalität zu schärfen. Nur wenn alle Todesopfer rechter Gewalt lückenlos anerkannt werden, wird Deutschland seiner Verantwortung für eine umfassende Aufarbeitung der Kontinuitäten rechter Gewalt gerecht. Auch für eine wirkungsvolle Prävention wäre eine realistischere Bewertung der tödlichen Folgen rechter Gewalt eine notwendige Grundlage. Die Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt wäre vor allem auch ein Zeichen an alle Angehörigen, dass ihre Wunden, die durch staatliches Versagen noch zusätzlich vertieft wurden, endlich den Weg zur Heilung finden können.

Die Lücke in Thüringen schließt sich: Mehr Todesopfer rechter Gewalt als bisher bekannt

Die Gruppe Dissens Erfurt hat 2022 am Todestag von Heinz Mädel die Futterstraße, in der Nähe des Tatortes, symbolisch in die „Heinz-Mädel-Straße“ umbenannt. Foto: Dissens Erfurt.

Ein neues Gutachten belegt, dass erheblich mehr Menschen in Thüringen in Folge rechter Gewalt ums Leben kamen, als bisher staatlich anerkannt. Am 20. November übergab Innenminister Georg Maier dem Landtag den Abschlussbericht der Untersuchung. Insgesamt zehn Todesfälle werden von den Wissenschaftler*innen als politisch rechts motiviert eingestuft und ihre staatliche Anerkennung als solche empfohlen.

Bislang hatte das Land Thüringen lediglich ein Todesopfer rechter Gewalt, den 1993 von fünf Neonazis in Arnstadt getöteten Karl Sidon, offiziell anerkannt. Zivilgesellschaftliche Initiativen und Journalist*innen wiesen seit Jahren auf diese eklatante Lücke hin. Der Thüringer Landtag beschloss die Erstellung des Gutachtens bereits 2018, sieben Jahre später liegen die Ergebnisse nun vor. Dafür haben Forschende der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin in Kooperation mit dem Moses-Mendelssohn-Zentrum an der Universität Potsdam ein Jahr lang Gerichtsurteile, Verfahrensakten und weitere Quellen ausgewertet. Eingebunden waren in die Bewertung der Fälle neben behördlichen Perspektiven auch zivilgesellschaftliche Vertreter*innen von der Opferberatung Ezra und der Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus Mobit.

Thüringen ist damit bei der Aufarbeitung von Todesopfern rechter Gewalt den gleichen Weg gegangen wie das Land Brandenburg. Die Brandenburger Studie des Moses Mendelssohn Zentrums aus dem Jahr 2015 war wegweisend und zeigte als erste, wie eklatant die Diskrepanz zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Opferzahlen war. Glaubwürdig war die Neubewertung der Altfälle vor allem auch deshalb, weil mit der Beteiligung der Beratung gegen Rechtsextremismus demos, der Amadeu Antonio Stiftung, dem Aktionsbündnis Brandenburg und der Beratungsstelle Opferperspektive eine starke zivilgesellschaftliche Perspektive eingebunden wurde. Die Methodik wird bundesweit von Initiativen und Wissenschaftler*innen hochgelobt. Doch während einige Länder dem Beispiel folgten, scheuen andere die notwendige Verantwortung und den Willen zur Transparenz.

Interne Kontrollen liefern nur geringe Ergebnisse

Dort, wo Landesregierungen auf interne, behördliche Überprüfungen setzten und die zivilgesellschaftliche Expertise weitgehend ausschlossen wurde, fielen die Ergebnisse ernüchternd aus – und die Glaubwürdigkeit der Überprüfungen blieb gering. So setzten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen auf interne Arbeitsgruppen der Polizei oder des LKA. Das Ergebnis: Die Zahl der nachträglichen Anerkennungen in diesen Bundesländern war im Verhältnis zur zivilgesellschaftlichen Dokumentation deutlich geringer. In NRW, Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden die internen Prozesse von den Opferberatungsstellen scharf kritisiert und die Ergebnisse als unzureichende Aufarbeitung abgelehnt. Die Angst, eigene Fehler erklären zu müssen, scheint hier die Aufklärungsbereitschaft der Behörden zu überschatten.

Diese geringe Zahl an Nachmeldungen gilt als Beleg dafür, dass eine rein behördeninterne Perspektive nicht geeignet ist, rechtsextreme Tatmotive zu erkennen, die über Jahre hinweg in polizeilichen Akten als persönliche oder kriminelle Milieu-Konflikte abgetan wurden.

Externe Überprüfung als Schlüssel zur Gerechtigkeit

Im Gegensatz dazu führte die Einbeziehung unabhängiger Forschung und der Expertise von zivilgesellschaftlichen Organisationen zu einer historischen Korrektur. Wie eingangs erwähnt, gilt Brandenburg hier als Vorreiter. Vor der unabhängigen Untersuchung zählte das Land lediglich neun Todesopfer rechter Gewalt. Nach dem Forschungsprojekt verdoppelte sich die Zahl. 2018 folgte Berlin, was zu einer nachträglichen Anerkennung von sieben Todesopfern führte. Nun zog Thüringen nach und erhielt mit dem Abschluss dieser unabhängigen Neuüberprüfung die Empfehlung, neun Todesopfer nachträglich anzuerkennen.

Das Gutachten empfiehlt die Anerkennung folgender Personen:

Trotz der fehlenden Anerkennungsempfehlung für den 1993 in Schlotheim getöteten Mario Jödecke ist dieses Gutachten ein bedeutender Schritt in der Aufarbeitung der tödlichen Dimension von Rassismus und menschenfeindlicher Ideologie im Freistaat Thüringen.

Die unverzichtbare Beteiligung der Zivilgesellschaft

Der Erfolg in Brandenburg und Thüringen ist untrennbar mit der Einrichtung eines Projektbeirats verbunden, der Wissenschaftler*innen und staatliche Akteur*innen mit der Zivilgesellschaft zusammenbrachte. Dieses Gremium ist von unschätzbarem Wert, da es Vertrauen zu Hinterbliebenen und Zeug*innen herstellt und so den Zugang zu unabhängigen Informationen ermöglicht, die den Behörden oft fehlen. Die zivilgesellschaftlichen Stimmen bieten einen kritischen, außenstehenden Blick auf die Akten und gewährleisten, dass die Gutachten die Perspektive der Betroffenen berücksichtigen, anstatt sich nur auf rein polizeiinterne Kriterien zu stützen. Der Beirat ist somit der Garant für die Glaubwürdigkeit der gesamten Untersuchung.

„Als konkreten nächsten Schritt fordern wir die staatliche Anerkennung der eingeordneten Todesfälle bis Ende des Jahres 2025“, erklärt Franziska Schestak-Haase, Beraterin bei ezra – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen. Denn die staatliche Anerkennung ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit für die Angehörigen – sie bedeutet die Rückgewinnung der Deutungshoheit und ermöglicht den Hinterbliebenen Zugang zu Härteleistungen.

„Das Vorgehen in Thüringen zeigt: Wir brauchen einen ehrlichen, gemeinsamen Blick von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Behörden auf diese Taten. Nur so können wir endlich das tödliche Ausmaß rechter Gewalt von offizieller Stelle lückenlos und wahrhaftig abbilden. Das sind wir den Opfern schuldig“, fasst Timo Reinfrank, Vorstand der Amadeu Antonio Stiftung abschließend zusammen.

Angesichts der klaren Ergebnisse aus Brandenburg, Berlin und Thüringen ist das Zögern in anderen Bundesländern nicht mehr hinnehmbar. Trotz der Beratung im niedersächsischen Landtag fehlt in den meisten Ländern der politische Mut, die Fehler der Vergangenheit umfassend aufzuarbeiten.

Thüringen zeigt erneut, dass der „Brandenburger Weg“ zum bundesweiten Standard für alle Altfälle der Todesopfer rechter Gewalt werden muss. Nur die unabhängige Überprüfung kann das Vertrauen in die staatlichen Institutionen zurückgewinnen und dem vollen Ausmaß der rechten Gewalt in Deutschland endlich Rechnung tragen.

Was bedeutet Sicherheit für Schwarze Menschen in Deutschland? – Tahir Della im Interview

Im Gespräch erzählt Tahir Della, Aktivist und Sprecher der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), was Sicherheit für Schwarze Menschen bedeutet, warum Empathie eine politische Haltung ist – und weshalb Hoffnung immer auch Widerstand bedeutet.

Für viele Schwarze Menschen in Deutschland ist Sicherheit kein selbstverständlicher Zustand, sondern etwas, das erkämpft, verteidigt und immer wieder neu eingefordert werden muss.

Tahir Della ist seit 1986 Aktivist der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und fester Bestandteil der jüngeren Schwarzen Bewegung der Bundesrepublik. Seit der Gründung des bundesweiten ISD-Verbandes im Jahr 2001 war er bis 2019 im Vorstand aktiv und an der Koordinierung bundesweiter und lokaler Aktivitäten beteiligt. Seit Januar 2016 besetzt er die Promotorenstelle im Berliner Promotorenprogramm für Dekolonisierung und Antirassismus, die von der ISD betreut wird.

Im Interview spricht Tahir Della über Sichtbarkeit, gesellschaftliche Verantwortung und darüber, warum Sicherheit keine individuelle, sondern eine gemeinsame Aufgabe ist. Er erinnert daran, dass Sicherheit nicht darin besteht, die Komfortzone der Mehrheit zu schützen, sondern darin, eine Gesellschaft zu schaffen, in der niemand Angst haben muss.

Was bedeutet Sicherheit für dich?

Tahir Della: Sicherheit bedeutet für mich, dass Schwarze Menschen gesehen, geschützt und mitgedacht werden, in politischen Entscheidungen, in öffentlichen Debatten, im Alltag. Es darf nicht länger darum gehen, die Komfortzone der Mehrheit zu schützen, während marginalisierte Menschen täglich Angst haben müssen.

Wie erklärst du dir, dass Positionen, die früher als selbstverständlich demokratisch galten, heute zunehmend diffamiert werden?

Tahir Della: Aktuell können wir einige Diskursverschiebungen beobachten: Was früher selbstverständlich demokratisch war, wird heute plötzlich als „linksextrem“ diffamiert.

Wie und wo beobachtest du das?

Tahir Della: Es ist wirklich erstaunlich, was momentan abgeht, auch, welche Debatten gerade geführt werden. Ich habe mich neulich mit einer Kollegin unterhalten, was all die Anfragen von der extremen Rechten eigentlich mit sich bringen. Wir gehen jetzt nicht von einem Umsturz aus, aber man merkt, dass viele Parlamentarier*innen zunehmend genervt sind von diesen Anfragen und das teilweise eins zu eins an die Zivilgesellschaft weitergeben, so nach dem Motto: „Übertreibt ihr es nicht gerade?“, etwa wenn es um Fördergelder oder politische Forderungen geht.

Und das ist wirklich beispiellos. Wenn zum Beispiel politische Werbung heißt, dass man für Menschenrechte eintritt, dann ist es höchste Zeit, genau hinzuschauen, was eigentlich passiert und was sich verändern muss.

Das heißt, Engagement für Menschenrechte wird zunehmend problematisiert?

Tahir Della: Ja, genau. Und das ist gefährlich, weil dadurch Menschen, die Haltung zeigen, unter Druck geraten.

Wo werden Schwarze Menschen aktuell nicht gesehen, geschützt und mitgedacht? Wo zeigt sich das konkret?

Tahir Della: Das mit dem „Gesehenwerden“ ist vielleicht ein bisschen verschnörkelt ausgedrückt. Ich meine nicht, dass Schwarze Menschen unsichtbar sind – im Gegenteil. Sie sind sichtbar. Aber sie werden oft nicht mitgedacht, wenn es um gesellschaftliche Debatten geht, besonders wenn es um Sicherheit im öffentlichen Raum geht.

Kannst du ein Beispiel nennen, wo diese Perspektive fehlt?

Tahir Della: Das sind ja Themen, die gerade in Berlin, aber auch anderswo diskutiert werden. Wenn es um Schutz und Sicherheit im öffentlichen Raum geht, dann reagiert man meist auf gewalttätige Übergriffe, die natürlich zu verurteilen sind und auch Maßnahmen erfordern. Aber es wird viel zu selten gefragt: Was sind eigentlich die sozialen Ursachen solcher Verhältnisse und inwieweit werden oder müssen sie mit einbezogen bei der Bearbeitung.

Und was fast nie vorkommt, ist, dass die Erfahrungen von Menschen of Color, migrantischen Menschen und Schwarzen Menschen dabei berücksichtigt werden. Es gibt ja weiterhin diese sogenannten No-Go-Areas, also Orte in denen sich Schwarze Menschen nicht gefahrenlos bewegen können und das ist kein neues Thema. Schon bei der Fußball-WM in Deutschland wurde darüber gesprochen. Diese Unsicherheitszonen bestehen also bis heute fort?

Tahir Della: Ja, absolut. Das hat sich bis heute nicht wirklich verändert. Im Gegenteil, es passiert immer noch. Und das zeigt, dass wir einen sehr einseitigen Blick auf Sicherheit haben: Es wird immer gefragt, wessen Sicherheit ist hier eigentlich gemeint?
Ich will das gar nicht gegeneinander ausspielen, es geht nicht darum, zu sagen, welche Form von Gewalt schlimmer ist. Aber wir müssen anerkennen, dass Schwarze Menschen und migrantische Menschen nicht nur Opfer von rassistischer Gewalt werden, sondern auch von staatlichen Strukturen Unsicherheit erfahren, etwa durch anlasslose Polizeikontrollen und die daraus resultierende Gewalt.

Also wird Sicherheit staatlich definiert, aber nicht für alle gleich erlebt?

Tahir Della: Genau. Das ist eine der größten Widersprüche in dieser Debatte. Wenn über Sicherheit gesprochen wird, dann selten darüber, dass staatliche Institutionen selbst dazu beitragen können, dass sich bestimmte Gruppen unsicher fühlen.

Viele Perspektiven bleiben also außen vor. Woran liegt das?

Tahir Della: Oft wird Sicherheit im Wahlkampf instrumentalisiert. Gewisse Zielgruppen sollen sich angesprochen fühlen und andere werden bewusst ausgeblendet. Das ist Teil des Problems.

Du sprichst auch an, dass vor allem die Komfortzone der Mehrheit geschützt wird. Wer müsste wo etwas anders machen?

Tahir Della: Wenn ich das als Appell formulieren darf: Wir müssen uns als Gesamtgesellschaft fragen, in welcher Art von Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Wenn es für manche Menschen alltäglich ist, dass sie im öffentlichen Raum um ihre Sicherheit bangen müssen, dass sie angegriffen, belästigt, bedrängt oder diskriminiert werden, dann ist das ein Zustand, den wir nicht hinnehmen dürfen.

Was wäre aus deiner Sicht ein erster Schritt, das zu verändern?

Tahir Della: Da sind alle gefragt, sich zu positionieren, Haltung zeigen und zwar nicht nur dort, wo es bequem ist. Es reicht nicht, sich zu engagieren, wenn alltägliche Gewalt gesellschaftlich akzeptiert wird

Es darf nicht sein, dass Empathie und Engagement davon abhängen, wer betroffen ist. Wenn wir von Menschenrechten und diskriminierungsfreiem Zusammenleben sprechen, dann muss das für alle gelten. Sonst machen wir uns selbst etwas vor.

Wir müssen weg von symbolischen Floskeln wie „Rassismus hat keinen Platz“ oder „Wir sind eine vielfältige Gesellschaft“. Das sind schöne Sätze, aber sie müssen mit Praxis gefüllt werden. Menschen müssen lernen, zu intervenieren, wenn sie Diskriminierung oder Gewalt beobachten.

Das fordern wir von der ISD Bund auch immer wieder ein: Dass sich alle in der Gesellschaft angesprochen fühlen – nicht nur, wenn es um Gruppen geht, die ihnen nahestehen. Solidarität darf nicht selektiv sein.

Heißt das, Sicherheit entsteht erst, wenn Menschen aktiv eingreifen?

Tahir Della: Ganz genau. Und das ist auch ein wichtiger Punkt: Wenn wir über Sicherheit sprechen, müssen wir klar benennen, wessen Sicherheit überhaupt gemeint ist. Oft wird im Namen von Sicherheit gehandelt, aber die Maßnahmen treffen genau diejenigen, die ohnehin schon am stärksten betroffen sind, etwa durch Racial Profiling oder durch verschärfte Polizeigesetze. Das sind dann Maßnahmen, die angeblich Sicherheit schaffen sollen, aber in Wahrheit Unsicherheit verstärken.

Wird es derzeit sicherer oder unsicherer für Schwarze Menschen in Deutschland?

Tahir Della: Ich würde sagen: Es wird eher unsicherer. Und das liegt vor allem daran, dass viele Themen nicht richtig adressiert werden. Dieses starke Bedürfnis nach Sicherheit, das jetzt so oft beschworen wird, das gab es ja noch nie wirklich für alle. Aber derzeit wird es auf eine Art thematisiert, die sehr reflexartig ist.

Man glaubt, Sicherheit könne man dadurch herstellen, dass man Menschen abschiebt oder ausschließt. Doch das löst die Probleme nicht. Es verlagert sie nur und zwar auf diejenigen, die ohnehin schon Zielscheibe von Angriffen und Ausgrenzung sind.

Das heißt, politische Maßnahmen verschieben das Problem eher, als es zu lösen?

Tahir Della: Genau. Echte Sicherheit würde heißen, dass niemand befürchten muss, Ziel von staatlichen Maßnahmen oder gesellschaftlichen Angriffen zu werden. Doch im Moment wird das Thema Sicherheit oft genutzt, um von eigener Verantwortung abzulenken, vom Versagen staatlicher Strukturen oder vom fehlenden Schutz marginalisierter Gruppen. Das führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu mehr Angst.

Wie gehst du persönlich mit dieser Entwicklung um?

Tahir Della: Ich versuche, mir das immer wieder bewusst zu machen und aktiv zu bleiben. Vor kurzem gab es im Berliner Wedding eine Kundgebung zum Thema Straßenumbenennungen. Am Rande davon habe ich eine Szene beobachtet, in der ein junger Mann und eine junge Frau gestritten haben. Ich bin hingegangen und habe gefragt, ob alles in Ordnung ist, ob sie Unterstützung braucht.

Sie sagten, es sei alles gut, sie hätten nur herumgealbert, aber sie hat sich bedankt, dass wir hingegangen sind.

Also hinsehen und präsent sein?

Tahir Della: Genau. Das sind Kleinigkeiten, aber genau darum geht’s: hinsehen, fragen, präsent sein.Man muss nicht immer eingreifen oder riskieren, dass etwas eskaliert. Aber allein das Wahrnehmen und Ansprechen kann einen Unterschied machen.
Natürlich überlege ich auch manchmal: „Soll ich mich da jetzt einmischen? „Könnte das gefährlich werden?““ Diese Gedanken kennt wahrscheinlich jede*r. Aber ich versuche, mich davon nicht lähmen zu lassen. Lieber frage ich einmal zu viel, ob jemand Hilfe braucht, als dass etwas passiert und ich untätig bleibe.

Das ist auch ein Appell für gesellschaftliche Aufmerksamkeit, oder?

Tahir Della: Absolut. Wir leben leider in einer Gesellschaft, in der viele lieber auf sich selbst schauen. Doch Sicherheit entsteht nicht individuell, sondern im Miteinander.

Was können wir aus den Schwarzen Kämpfen der letzten Jahrzehnte für die heutige Zeit lernen?
Tahir Della: Ich glaube, das Wichtigste ist: dranbleiben. Nicht lockerlassen, wenn es darum geht, Veränderungen einzufordern und Prozesse anzustoßen, die für die ganze Gesellschaft wichtig sind.

Ich bin ja fast 40 Jahre bei der ISD aktiv und in dieser Zeit gab es viele Höhen und Tiefen. Phasen, in denen unklar war, ob es überhaupt weitergeht und dann wieder Momente, in denen klar wurde, wie notwendig Selbstorganisationen wie die ISD sind. Denn ohne sie würden viele Diskurse gar nicht stattfinden.

Was hat sich durch dieses lange Engagement konkret verändert?

Tahir Della: Wenn man sich allein das Thema Sprache anschaut, ist das ein riesiger Fortschritt.

In den 1980er Jahren war die öffentliche Sprache voll von rassistischen Fremdbezeichnungen. Heute spricht eine Tagesschausprecherin selbstverständlich von Afrodeutschen. Das ist eine Entwicklung, die zeigt, dass Engagement, Beharrlichkeit und Sichtbarkeit Wirkung haben, auch wenn es oft lange dauert.

Heißt also: Wandel ist möglich – aber nur, wenn man dranbleibt?

Tahir Della: Ja, genau. Veränderungen brauchen Zeit, besonders, wenn es um Strukturen geht, die über Jahrhunderte gewachsen sind. Und sie brauchen die Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen, auch innerhalb der eigenen Communitys oder Organisationen. Wir dürfen uns nicht nur als Opfer sehen, sondern müssen Verantwortung übernehmen und aktiv daran mitarbeiten, die Gesellschaft zu gestalten, die wir haben wollen.

Das gilt für alle, auch für Organisationen, die sich für Menschenrechte und Antirassismus einsetzen. Keine Struktur ist fehlerfrei, weder die ISD, noch die Amadeu Antonio Stiftung, noch andere. Wichtig ist, selbstkritisch zu bleiben und trotzdem an einer gemeinsamen Vision festzuhalten: eine Gesellschaft, die nicht von Rassismus, Ausschlüssen und Vorurteilen durchdrungen ist.

Ich finde, das ist uns bei der ISD oft ganz gut gelungen, auch wenn es manchmal mühsam ist. Und ja, es stimmt: Es fühlt sich oft an wie zwei Schritte vor, drei zurück. Gerade im Moment haben wir wieder eine Phase, in der vieles, was erreicht wurde, infrage gestellt oder sogar zurückgedreht wird. Nicht nur durch Kürzungen bei Förderungen, sondern auch durch veränderte gesellschaftliche Debatten.

Wie gehst du mit dieser Rückwärtsbewegung um?

Tahir Della: Wir sehen jetzt Menschen an Schlüsselpositionen, die Diskussionen neu aufrollen, von denen wir dachten, sie seien längst abgeschlossen. Und das ist frustrierend. Aber es ist auch ein Weckruf: Wir müssen mehr werden, mehr Mitglieder, mehr Aktive, mehr Stimmen mit unterschiedlichen Perspektiven. Wir müssen jüngere Menschen erreichen und sie ermutigen, sich einzubringen – kurz, wir müssen Widerstand organisieren.
Für mich ist das keine Resignation, sondern ein Aufruf: weiterzumachen, breiter aufzustellen, stärker zu werden.

Es geht also darum, Communitys zu stärken und Solidarität lebendig zu halten?

Tahir Della: Ja, absolut. Selbst wenn vieles gerade schwieriger wird oder unter Kürzungen leidet, es bleibt unabdingbar, diese Arbeit fortzusetzen. Politische Arbeit darf nicht abhängig sein von Staatlicher Förderung – so sinnvoll das ist.

Ich bin da trotz allem hoffnungsvoll, weil die Zivilgesellschaft in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, zum Beispiel den USA, viel stärker ist, als wir oft denken. Und das gibt mir Mut.

Vernetzungskonferenz „Queerfeindlichkeit in der Regenbogenhauptstadt“

01.12.2025, Berlin: Konferenz „Queerfeindlichkeit in der Regenbogenhauptstadt – Die Rolle von Ermittlungsbehörden und Justiz beim Schutz von queerem Leben in Berlin“

Im bundesweiten Vergleich steht Berlin gut da bezüglich der Sensibilisierung und Professionalisierung von Ermittlungsbehörden und Justiz für den Umgang mit Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und anderen menschenverachtenden Ideologien – sowohl in der Strafverfolgung als auch in Hinblick auf die internen Strukturen. Ein 11-Punkte-Plan der Berliner Polizei „zur internen Vorbeugung und Bekämpfung von möglichen extremistischen Tendenzen“, Beauftragte und Ansprechpersonen zu verschiedenen Phänomenbereichen, die Einrichtung eines Landesfonds zur Unterstützung Betroffener „politisch-extremistischer Straftaten“ und nicht zuletzt das einmalige Landesantidiskriminierungsgesetz: Berlin ist Vorreiter in diesem Bereich. Dennoch scheidet eine Richterin mit AfD-Mitgliedschaft erst aus dem Amt, nachdem sie wegen Terrorverdacht verhaftet wird, werden Verfahren wegen rassistischer Gewalt kommentarlos eingestellt, oder kommen Videos mit beleidigenden und gewalttätigen Polizeibeamt*innen an die Öffentlichkeit.

Mit der Konferenz „Queerfeindlichkeit in der Regenbogenhauptstadt – Die Rolle von Ermittlungsbehörden und Justiz beim Schutz von queerem Leben in Berlin“ am 01.12.2025 knüpfen wir an erfolgreiche Veranstaltungen der vergangenen Jahre an, in denen Vertreter*innen von Berliner Ermittlungsbehörden und Justiz mit Zivilgesellschaft anderen Fachexpert*innen zusammengekommen sind. Dabei liegt der Fokus darauf, Perspektiven und Bedarfe Betroffener sichtbar zu machen und ins Zentrum zu rücken und so als handlungsleitend für notwendige Verbesserungen zu begreifen.

Queerfeindlichkeit ist ein zentrales Phänomen einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung in Deutschland und eskaliert nicht selten in Anfeindungen, Bedrohungen und Gewalt gegen Organisationen und Einzelpersonen. Prominente Beispiele hierfür sind die systematischen Übergriffe von extrem rechten Gruppen auf CSDs, wie sie vielerorts zu beobachten waren. In der „Regenbogenhauptstadt“ Berlin wird seit Langem mit einer Vielzahl von Maßnahmen auch in Ermittlungsbehörden und Justiz auf Hassgewalt und Menschenfeindlichkeit reagiert, um die Situation von queeren Menschen in der Stadt zu verbessern. Dennoch steigen nicht nur die registrierten Fälle queerfeindlicher Gewalt in Berlin, auch berichten Betroffene immer wieder davon, sich nicht ausreichend unterstützt zu fühlen von staatlichen Akteuren oder wenden sich gar nicht erst an Polizei und Justiz mit Furcht vor weiteren negativen Erfahrungen. Was sind also die verschiedenen Perspektiven auf die Situation, was gemeinsame Herausforderungen und welche Verbesserungen können von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren gemeinsam erreicht werden?

Das diskutieren Expert*innen aus Sicht von Behörden sowie der Betroffenenperspektive auf zwei Panels:

  • Panel 1: „Betroffene von queerfeindlicher Gewalt besser erreichen und unterstützen – Perspektiven aus und auf Ermittlungsbehörden und Justiz“
  • Panel 2: „Notwendige Maßnahmen gegen Queerfeindlichkeit in Berlin – mit und über Ermittlungsbehörden und Justiz hinaus“

 

Gefördertes Projekt

Entpolitisiert und vergessen: Der Anschlag in der Jenaer Scharnhorststraße 1995

Ausschnitt aus der OTZ zum Anschlag in der Jenaer Scharnhorststraße 1995. Foto: „NSU-Komplex auflösen Jena“, Bearbeitung: Amadeu Antonio Stiftung

In Jena geriet ein Sprengstoffanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete im Jahr 1995 fast in Vergessenheit. Die Initiative NSU-Komplex auflösen Jena recherchiert zu den Hintergründen der Tat, rückt sie wieder ins öffentliche Bewusstsein und ruft die Stadtgesellschaft zu einer Auseinandersetzung mit der Geschichte Jenas und seiner Rolle im NSU-Komplex auf. Die Amadeu Antonio Stiftung fördert die Recherche- und Erinnerungsarbeit der Initiative.

Von Luisa Gerdsmeyer

In der Scharnhorststraße 1 im Norden von Jena befand sich in den 1990er Jahren eine Unterkunft für bosnische Kriegsgeflüchtete. Bis zu 44 Personen waren hier untergebracht, als sich am Abend des 10. Novembers ein Sprengstoffanschlag ereignete. Durch das geöffnete Fenster eines Duschraums wurde ein selbstgebastelter Sprengsatz geworfen, der dort detonierte. Glücklicherweise entstand kein größeres Feuer und es wurden keine Bewohner*innen körperlich verletzt. Trotz Hinweisen auf eine mögliche Beteiligung des Rechtsterroristen und NSU-Mitglied Uwe Böhnhardt ist bis heute kaum etwas über die Tat bekannt – weder über die weiteren Folgen für die Betroffenen, noch über die Hintergründe oder den genauen Verlauf der Ermittlungen. Eine öffentliche Erinnerung an die Tat hat bis zu diesem Jahr nie stattgefunden. Der Anschlag ist aus der kollektiven Erinnerung der Stadt fast verschwunden. Die Gruppe NSU-Komplex Auflösen Jena hat sich zum Ziel gesetzt, dies zu ändern. Seit dem 10. November 2025, dem 30. Jahrestag, informiert sie mit einem Plakat in der Jenaer Innenstadt über die Tat, ihre Hintergründe und die ausbleibende Erinnerung.

Erinnern an die Anfänge des NSU-Komplex in Jena

Die ehrenamtliche Initiative NSU-Komplex auflösen Jena klärt über die politische Sozialisierung und Radikalisierung des NSU-Kerntrios sowie Teilen seines Unterstützer*innennetzwerks im Jenaer Stadtteil Winzerla auf. Sie erinnert an die frühen Propaganda- und Gewalttaten des NSU und macht auf Kontinuitäten rechter Gewalt in der Stadt aufmerksam. „In Jena wird oft die These vertreten, die eigentliche Radikalisierung des NSU-Kerntrios habe erst nach ihrer Zeit in Jena stattgefunden, also nachdem es untergetaucht war. Wir halten es aber für wichtig, die Aufklärung des NSU-Komplexes auch in Bezug auf die früheren Taten und ihre Radikalisierung in Jena voranzutreiben. Welche Taten hat der NSU bereits Anfang und Mitte der 90er Jahren in Jena verübt? Wie hat die rechte Hegemonie in Jena-Winzerla in den 90er Jahren die Radikalisierung begünstigt und welche Rolle spielte dabei die akzeptierende Jugendarbeit?‘“, so ein Mitglied der Initiative.

Bereits in Jena war das NSU-Kerntrio, das bis 2007 bundesweit rechtsextreme Terroranschläge verübte und neun Menschen aus rassistischen Motiven sowie eine Polizistin ermordete, Teil lokaler Neonazigruppen. In Jugendclubs fanden sie Rückzugs- und Vernetzungsräume. Bei Stadtrundgängen in Jena-Winzerla sowie in Bildungsveranstaltungen an Schulen oder Universitäten informiert die Initiative über den NSU-Komplex und über die rechte Gewalt, die in den 90er Jahren in Jena – wie in vielen anderen Orten Deutschlands – allgegenwärtig war.

Geschichtswerkstatt zu rechter Gewalt in den 1990er Jahren in Jena

Vor rund fünf Jahren initiierte die Gruppe das Projekt einer Geschichtswerkstatt, um die rechtsextremen Strukturen und Gewalttaten im Jena der 90er Jahren systematisch zu untersuchen und Perspektiven und Erinnerungen von Betroffenen zu dokumentieren.

Dafür führten sie zahlreiche Interviews mit Menschen, die damals von rechter Gewalt betroffen waren – mit migrantisch oder links gelesenen Menschen ebenso wie mit zivilgesellschaftlich Engagierten. Außerdem recherchierten sie in den Archiven der Lokalzeitung und dokumentierten rechte Gewalttaten und deren mediale Darstellung. „Dabei sind wir auch auf einen Artikel der Ostthüringer Zeitung (OTZ) über den Sprengstoffanschlag in der Scharnhorststraße 1995 gestoßen und waren erstaunt, wie sehr diese Tat aus der öffentlichen Erinnerung verschwunden ist“, erzählt unser Gesprächspartner.

Eine Recherche gegen das Vergessen

Anlässlich des 30. Jahrestags des Anschlags hat die Gruppe intensiv zu dem Fall recherchiert. Doch das erwies sich als schwierig: Auf die Ermittlungsakten erhielten sie keinen Zugriff und innerhalb der Stadtgesellschaft existiert heute kaum noch Wissen über die Unterkunft in der Scharnhorststraße, über die damaligen Bewohner*innen und wie es ihnen nach der Tat ergangen ist, oder darüber, wo sie heute leben.

Gespräche mit Menschen, die in den 1990er Jahren in Jena aktiv waren, zeigten, dass es damals nur wenige Kontakte zwischen der Jenaer Zivilgesellschaft und den Bewohner*innen der Unterkunft gab. „Ein paar unserer Gesprächspartner*innen konnten sich an den Anschlag erinnern und erzählten, dass sie danach Kontakt zu den Bewohner*innen aufgenommen haben. Die Interviews zeigten aber vor allem, dass angesichts der Präsenz und Alltäglichkeit von rechten Gewalttaten in diesen Jahren Hilflosigkeit, Angst und fehlende Ressourcen bei den in Jena politisch Aktiven vorherrschten“, erzählt unser Gesprächspartner. „Leider war es für uns bisher nicht möglich, Kontakt zu Betroffenen aufzubauen, um ihre Perspektive zu erfahren und in der Erinnerung an den Anschlag sichtbar zu machen. Wir hoffen, dass die weitere Aufarbeitung und öffentliche Thematisierung der Tat dabei hilft, weitere Hinweise zu bekommen und einen Kontakt zu Betroffenen herstellen zu können.“

Mögliche Verbindungen des NSU-Kerntrios zum Anschlag in der Scharnhorststraße

Besonders auffällig aus Sicht der Initiative war die Berichterstattung über den Anschlag und die damaligen polizeilichen Ermittlungen. Der Anschlag ereignete sich am Abend des 10. Novembers 1995. Erst am Tag darauf wurde die Tat vom Heimleiter bei der Polizei gemeldet. Nur einen Tag später, also am 13. November 1995, erschien ein Artikel in der OTZ, demzufolge es Ermittlungsansätze gebe, denen die Polizei nachgehe. „Sollten sich diese bestätigen, kann ein politisches Motiv ausgeschlossen werden“, heißt es darin.

Welche Ansätze verfolgt wurden und wie die Polizei innerhalb so kurzer Zeit dazu kam, ein politisches Tatmotiv auszuschließen, ist bis heute nicht bekannt. Umso bemerkenswerter ist dieser Vorgang, da einige Jahre später Hinweise auf eine mögliche Beteiligung des NSU bekannt wurden. Ein Neonazi hatte nach der Tat in einem Polizeiverhör angegeben, der Anschlag sei Uwe Böhnhardt zuzurechnen. Dieser bestritt den Vorwurf. Auch im Münchener Prozess zum NSU-Komplex wurde 2017 der Anschlag in der Jenaer Scharnhorststraße und eine mögliche Beteiligung Böhnhardts thematisiert. „Es handelt sich erstmal nur um Hinweise und eine Täterschaft oder Beteiligung des NSU lässt sich auf dieser Basis nicht sicher feststellen. Dennoch halten wir es für wichtig, diesen Hinweisen weiter nachzugehen und auf weitere Aufklärung in dem Fall zu drängen. Eine Beteiligung an dem Anschlag wäre zudem ein weiterer Beleg gegen die These, dass sich das NSU-Kerntrio erst in seiner Zeit im Untergrund radikalisiert habe und würde zeigen, dass bereits 1995 in Jena Taten mit dem Ziel, Menschen zu töten, verübt wurden“, so unser Gesprächspartner.

Kein politisches Motiv? Folgen vorschneller Ausschlüsse in den Ermittlungen

Die Mechanismen von Ermittlungen und Berichterstattung beim Anschlag in Jena ähneln den Taten des NSU-Komplexes: Die Polizei schloss vorschnell ein politisches Tatmotiv aus und ihre Einschätzung wurde in der Medienberichterstattung unkritisch übernommen. Taten werden so entpolitisiert und zurück bleiben Misstrauen und Verdächtigungen gegenüber den Betroffenen.

Unabhängig von der Frage der Täterschaft oder Beteiligung des NSU ist es für die Initiative NSU-Komplex auflösen Jena wichtig, die Erinnerung an den Anschlag wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Der Fall verdeutlicht die Mechanismen des Ausblendens und der eigenen Entlastung in der deutschen Gesellschaft: Rassistische oder rechtsextreme Motive werden ausgeschlossen und die Diskussion ist damit beendet. Welche psychischen Folgen eine solche Tat für die Betroffenen hatte, bleibt unsichtbar. Eine Debatte über den Umgang mit rechtsextremen Täter*innen oder über besseren Schutz der Betroffenen bleibt aus.

Die Initiative NSU-Komplex auflösen Jena will nicht nur weiter zu dem Anschlag recherchieren, sondern zur Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stadt und seiner Rolle im NSU-Komplex aufrufen und daran erinnern, dass wir als Gesellschaft eine Verantwortung tragen: Betroffene zu schützen, Aufarbeitung zu ermöglichen und Verdrängen und Vergessen nicht zuzulassen.

Niklas Herrberg: Das Ausdeuten von Antisemitismus unter Jüdinnen*Juden in Deutschland vor und nach dem 7.10.

Die Frage, was unter Antisemitismus zu verstehen ist und wie dieser einzuordnen sei, beschäftigt Jüdinnen*Juden in Deutschland nicht erst seit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 und der Welle antisemitischer Proteste in dessen Nachgang. Der 7. Oktober markiert gleichwohl einen Bruch, der auch die Deutungen von Antisemitismus nicht unberührt lässt. In meinem Vortrag werde ich die Verschränkung von Kontinuität und Bruch anhand dreier zentraler Dimensionen rekonstruieren:

  1. Erkennen und Verstehen von Antisemitismus: Die seit Langem bestehende Kritik, dass die nichtjüdische deutsche Gesellschaft Antisemitismus zu selten erkenne und verstehe, bleibt zentral. Angesichts der jüngsten antisemitischen Proteste, Bedrohungen und Gewalttaten hat sie jedoch an Eindringlichkeit gewonnen.
  2. Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem: Auch das Verständnis von Antisemitismus als einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen, das Jüdinnen:Juden von verschiedenen Seiten treffen kann, hat sich seit dem 7. Oktober verschoben. Jüdinnen:Juden betonen verstärkt die Gefahren aus Teilen linker und muslimischer Milieus, während Antisemitismus aus der Rechten wie auch aus der „gesellschaftlichen Mitte“ fortbesteht. Ich lege hier einen besonderen Fokus auf die Kontroversen um den sogenannten „importierten Antisemitismus“. Jüdinnen:Juden kritisieren, dass diese Debatte häufig vor allem der moralischen Selbstvergewisserung diene und ihre eigenen Perspektiven dabei kaum berücksichtigt würden. Sowohl der „Fingerzeig“ auf Muslime zur Exkulpation antisemitischer Kontinuitäten in Deutschland als auch das Verkennen von Antisemitismus unter (zugewanderten) Muslimen – nicht erst, aber besonders seit dem 7. Oktober – müssen kritisch hinterfragt werden.
  3. Solidarität: Der 7. Oktober hat für Jüdinnen:Juden schließlich die Unabdingbarkeit von Solidarität unterstrichen – einer Solidarität, die sich nicht in leeren Worten erschöpfen darf, jedoch selbst angesichts der gegenwärtigen Gräueltaten oftmals ausbleibt.

 

Niklas Herrberg: Studium der Sozialwissenschaften in Düsseldorf. In seiner 2025 abgeschlossenen Promotion beschäftigte er sich mit dem Erleben und Ausdeuten von Antisemitismus unter Jüdinnen*Juden in Deutschland. Von 2020 bis 2025 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit November 2025 arbeitet Niklas Herrberg als Postdoc in der Forschungsgruppe Antisemitismus an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Antisemitismus, Verschwörungstheorien, die extreme Rechte sowie qualitative Forschungsmethoden.

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Demokratie muss schützen, wer sie verteidigt

Foto Karamba Diaby
Foto: Niklas Gerlach

Sicherheit für Demokrat*innen ist in Deutschland längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Hass, digitale Gewalt und rassistische Drohungen gehören für viele Menschen, die sich politisch engagieren, zum Alltag. Dr. Karamba Diaby – Chemiker, SPD-Politiker und einer der sichtbarsten Schwarzen Abgeordneten im Bundestag – hat diese Realität jahrelang erlebt. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit digitaler Gewalt, über Rassismus im politischen Raum und darüber, warum Sicherheit für Demokrat*innen eine zentrale Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist. Er erklärt, welche Folgen Hass für Betroffene und ihre Teams hat, warum Solidarität und Unterstützung entscheidend sind und wieso politische Strukturen dringend gestärkt werden müssen.

Wie fühlt es sich in Deutschland für dich an?

Ich habe in den vergangenen 40 Jahren Deutschland in all seinen Facetten erlebt – mit offenen Armen, aber auch mit verschlossenen Türen. Ich habe viel Rückhalt erfahren. In den letzten zwölf Jahren als Abgeordneter des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis Halle (Saale) habe ich viel politische Zustimmung und Vertrauen erhalten. 2021 erzielte ich das Direktmandat mit dem besten Erststimmenergebnis aller Kandidatinnen und Kandidaten in Sachsen-Anhalt.

Gleichzeitig habe ich täglich erlebt, wie Hass, Hetze und rechtsextreme Gewalt im digitalen Raum Bahn brechen. Im Zusammenhang mit meiner parlamentarischen Arbeit habe ich viele Morddrohungen erhalten. Seit meinem Ausscheiden aus dem Bundestag lebe ich ruhiger, weil ich kaum noch in den sozialen Medien poste.

Was bedeutet Sicherheit für dich?

Sicherheit bedeutet für mich weit mehr als bloßen Schutz vor Gefahr. Sie heißt, mich jederzeit und an jedem Ort – emotional, physisch, materiell und sozial – auf die tragenden Strukturen unserer Demokratie verlassen zu können. Wahre Sicherheit entsteht dort, wo Teilhabe möglich ist, wo Menschenrechte geachtet werden und wo der Staat seine Verantwortung gegenüber allen Menschen ernst nimmt.

Deine Erfahrungen zeigen, wie brüchig Sicherheit für Demokrat*innen wird, wenn Hass und Einschüchterung zum Alltag gehören. Wo in deinem Alltag stellst du fest, dass die Demokratie unter Druck gerät?

Ich nehme täglich wahr, dass Einschüchterung – online wie offline – fester Bestandteil der Strategie rechtsextremer Gruppen geworden ist. Ihr Ziel ist nicht nur, einzelne Personen zu treffen, sondern die demokratische Arbeit insgesamt zu schwächen. Diese Angriffe haben eine klare politische Botschaft: „Wir wollen euch zum Schweigen bringen.“ Genau deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir hier widerstehen müssen, individuell, institutionell und politisch.

Wie machte sich das bemerkbar?

Das zeigte sich bei mir hauptsächlich dann, wenn ich etwas gepostet habe, meistens Berichte über meine Arbeit als Abgeordneter, um Transparenz zu schaffen. Es gab nur wenige sachliche Kommentare oder konstruktive Kritik. Stattdessen wurden völlig andere Themen hineingezogen und die Beiträge häufig mit herabwürdigenden, beleidigenden oder gar drohenden Kommentaren begleitet.

Welche Auswirkungen hat das?

Was oft übersehen wird: Nicht nur die betroffene Person steht im Fokus, sondern auch ihr Umfeld. Mein Team musste jede dieser Nachrichten lesen, bewerten, sichern und entscheiden, ob sie strafrechtlich relevant sind. Und das geschah ohne juristische Ausbildung und ohne psychologische Supervision.

Du warst unterschiedlichen Formen von gewaltvollen Angriffen ausgesetzt. Wie gehst du damit um? Was bedeutet das für dein Leben heute? Was hat sich dadurch verändert?

Jede Drohung, jede Hassbotschaft, die ich erhalten habe, ging zunächst durch die Hände meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese permanente Konfrontation mit Gewalt und Menschenverachtung hat Folgen, psychisch, emotional und gesundheitlich. Wir reden viel über „digitale Gewalt gegen Politiker*innen“, aber zu wenig über die Menschen, die diese Gewalt mittragen müssen, weil sie sie dokumentieren, weiterleiten und anzeigen.

Hast du neben deinem Team weitere Unterstützung erfahren, die dir den Umgang erleichtert hat?

Ja, ich bin froh, dass wir von HateAid unterstützt wurden. Diese Zusammenarbeit war Gold wert. HateAid prüft Fälle, übernimmt die rechtliche Weiterverfolgung, berät und begleitet uns. Das entlastet, fachlich wie menschlich. Solche Unterstützungsangebote dürfen kein Glücksfall sein, sie müssen zur Regel werden.

Was benötigst du konkret, um dich sicher zu fühlen?

Rechtsextreme und Hass-Akteure wollen Angst verbreiten, Sprachlosigkeit erzeugen und Rückzug erzwingen. Deshalb benötigen alle Betroffenen von Hass und Hetze Solidarität, Sichtbarkeit und konkrete politische Strukturen, die schützen.

Widerstand im Netz bedeutet für mich heute nicht nur, Haltung zu zeigen. Es bedeutet, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die Haltung zeigen, dabei nicht allein gelassen werden.

Wie kann verhindert werden, dass die politische Kommunikation immer weiter verroht, gerade im digitalen Raum?

Unsere Demokratie gerät zunehmend unter Druck, durch gesellschaftliche Polarisierung, wachsende Gewalt und gezielte Desinformation. In dieser Lage darf Demokratieförderung kein Lippenbekenntnis sein, sondern muss dauerhaft, strukturell und verbindlich abgesichert werden. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Hass und Hetze gegen Minderheiten oder Andersdenkende als Geschäftsmodell gelten, um Wahlen zu gewinnen. Als Gesellschaft müssen wir uns immer wieder fragen: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Diese Form der digitalen Gewalt zeigt, warum Sicherheit für Demokrat*innen dringend politisch gestärkt werden muss.

Du hast gesagt, um die Demokratie zu schützen, braucht es Menschen und Haltung. Was bedeutet das konkret für dich, damit du dich sicherer fühlst?

Was wir jetzt benötigen, ist ein Demokratiefördergesetz, das diesen Namen verdient. Eines, das Bildung, Beteiligung und Medienkompetenz flächendeckend stärkt. Denn Demokratie schützt nicht von allein. Sie braucht Menschen. Sie braucht Haltung. Und sie braucht den politischen Willen, sie aktiv zu verteidigen und zu fördern, jeden Tag. Die Politik auf europäischer Ebene, im Bund und in den Ländern muss ernst nehmen, dass die Demokratie unter Druck steht und verlässliche Rahmenbedingungen schaffen, um sie nachhaltig zu verteidigen.

Inwiefern würde das Demokratiefördergesetz Menschen helfen, die von Rassismus betroffen sind, sich in Deutschland sicherer zu fühlen oder sicherer zu sein?

Wenn es der jetzigen Koalition nicht gelingt, die Demokratieförderung auf ein hohes Niveau zu bringen, dann haben wir versagt. Demokratie ist eine Daueraufgabe und Daueraufgaben brauchen Dauerförderung. Es ist ein Armutszeugnis, dass wir heute immer noch auf ein Demokratiefördergesetz warten müssen. Damit Sicherheit für Demokrat*innen Realität wird, braucht es ein starkes Demokratiefördergesetz und verlässliche politische Strukturen.

Warum Sinti* und Roma* sich in Deutschland nie sicher fühlen

Kelly Laubinger, Geschäftsführerin der Sinti Union Schleswig-Holstein.
Kelly Laubinger, Geschäftsführerin der Sinti Union Schleswig-Holstein.

Kelly Laubinger spricht über ein generationenübergreifendes Gefühl der Unsicherheit, über das Versagen staatlicher Institutionen und über die dringende Notwendigkeit eines strukturellen Wandels in Politik und Gesellschaft. Ihr Beitrag ist ein Appell für echtes Verbündet-Sein und für die Umsetzung der Handlungsempfehlungen des Berichts der Unabhängigen Kommission Antiz**anismus.

Sicherheit für Sinti* und Roma* ist in Deutschland bis heute nicht selbstverständlich. Dieses generationenübergreifende Gefühl der Unsicherheit prägt viele Familien bis heute. In unserer Kampagne sprechen wir auch darüber, warum Sicherheit für Sinti* und Roma* durch institutionelles Versagen, durch gesellschaftliche Vorurteile und durch alltägliche Diskriminierung bedroht ist.

In diesem Interview erzählt uns Kelly Laubinger, Geschäftsführerin der Sinti Union Schleswig-Holstein und Aktivistin, warum viele Sinti* und Roma* der Polizei und staatlichen Institutionen nicht vertrauen, weshalb Sicherheit für sie vor allem in der eigenen Community entsteht und was sich politisch ändern muss, damit echte Sicherheit möglich wird.

Fühlst du dich sicher in Deutschland?

Kelly Laubinger: Nein. Ich habe mich eigentlich noch nie sicher in Deutschland gefühlt, und das ist ein Gefühl, das über Generationen in meiner Familie weitergegeben wurde. Sicherheit gibt es für uns Sinti*&Roma* eigentlich nicht und das gilt unabhängig davon, wo wir leben. Wenn man auf andere europäische Länder blickt, sieht man überall das Erstarken rechtsextremer Bewegungen und tief verankerte strukturelle Diskriminierung gegenüber Sinti*&Roma*. Für uns und für viele andere marginalisierte Gruppen bedeutet das: Es gibt keine echte Sicherheit.

Was bedeutet Sicherheit für dich?

Kelly Laubinger: Ich war drei Jahre alt, als das SEK den Kindergeburtstag meines Bruders stürmte. Weil wir Sinti* sind, wurde meine Familie, die aus Holocaust-Überlebenden besteht, grundlos kriminalisiert. Dieser Einsatz war kein Einzelfall, sondern Teil einer langen Geschichte rassistische Polizeipraktiken gegen über Sinti* und Roma*, die sich bis heute fortsetzen. Auch heute versagt die Institution Polizei regelmäßig, wenn es um unsere Sicherheit geht. Sicherheit finden wir eigentlich nur innerhalb unserer Community.

Deine Erfahrungen zeigen deutlich, wie schnell Sicherheit für Sinti* und Roma* verloren gehen kann, wenn staatliche Stellen kriminalisieren statt schützen.Wie erlebst du die Sicherheits-Situation aktuell, und wie gehst du damit um?

Kelly Laubinger: Das ist schwer zu beantworten. Heute spreche ich viel darüber, innerhalb der Community, aber auch mit Verbündeten oder Menschen, die bereit sind zuzuhören und zu lernen. Das stärkt mich sehr. Meine Community und Verbündete sind mein wichtigstes soziales Netzwerk.

Was hilft dir im Alltag?

Kelly Laubinger: Manchmal hilft es mir, die politische Lage ironisch zu betrachten, wie eine Netflix-Serie: oftmals Horror, mal Comedy, mal Thriller. Ich kann manchmal darüber lachen oder scherzen, an anderen Tagen fällt es mir schwer.

Trotz all der Traumata, trotz struktureller Diskriminierung, trotz der NS-Zeit und der 2. Verfolgung nach 1945 waren die Überlebenden aus meiner Familie starke Persönlichkeiten, die das Leben genießen wollten. Sie haben nie aufgegeben und das gibt mir Hoffnung. Der Gedanke an unsere alten Menschen, die mittlerweile nicht mehr leben, meine Community und Verbündete spenden mir viel Kraft.

Was bedeutet Widerstand für dich?

Kelly Laubinger: Meine Familie ist nach der Befreiung in die Kleinstadt zurückgekehrt, in der sie zuvor lebte, in der Hoffnung weitere überlebende Familienmitglieder wiederzutreffen. Das war bereits eine Form von Widerstand. Wir leben immer noch in dieser Kleinstadt, in der die extreme Rechte stark präsent ist. Mittlerweile pendle ich zwischen Berlin, wo ich in Teilzeit lebe, und meinem Hauptwohnsitz in der Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Ich werde oft gefragt: “Wieso ziehst du nicht weg aus der Kleinstadt?” Und nun ja, unsere Überlebenden sind in dieser Stadt geblieben, da mache ich doch heute keinen Platz für Rechtsextremist*innen. Das bedeutet für mich ebenso Widerstand: Keinen Platz machen. Man wollte unsere Familien und unsere Kulturen vernichten und deshalb ist allein schon die Erzählungen unserer Familiengeschichte, Sichtbarkeit in der strukturellen Unsichtbarmachung sowie die Weitergabe unserer Kulturen bereits Widerstand.

Bücher haben mir zusätzlich eine Sprache gegeben für das, was wir erlebt haben und bis heute erleben. Mit dem Rückhalt der Familie gibt mir das Kraft, nicht aufzugeben.

Was brauchst du, um dich in Deutschland sicher zu fühlen?

Kelly Laubinger: Ich glaube, ich werde mich nie ganz sicher in Deutschland fühlen. Um die Frage dennoch zu beantworten: Es benötigt einen strukturellen Wandel in der Gesellschaft, in Institutionen und in der Politik. Die Politik, die wir zum Teil selbst mitwählen, muss sich endlich aus der historischen Verantwortung heraus für die Rechte von deutschen, zugewanderten und geflüchteten Angehörigen der Minderheit vollumfassend einsetzen und die Forderungen des Berichts der Unabhängigen Kommission Antiz**anismus, die vom Deutschen Bundestag einberufen wurde, vollumfänglich umsetzen. Die Politik erkennt geflüchtete Roma bisher nicht als besonders schutzbedürftige Gruppe an, obwohl die Anerkennung zu den zentralen Forderungen des Berichts der Unabhängigen Kommission Antiz**anismus zählt. Die Politik verwehrt sich somit ihrer historischen Verantwortung.

In beispielsweise Schleswig-Holstein haben deutsche Sinti*&Roma* einen besonderen Verfassungsrang als nationale Minderheit. Das wünsche ich mir auch in anderen Bundesländern. Zugewanderte und geflüchtete Roma werden hier leider außen vor gelassen. Darüber hinaus ist die Vereinbarung eines Staatsvertrages zwischen der Bundesregierung und allen Dachorganisationen mehr als überfällig.

Für diesen strukturellen Wandel braucht es allerdings einen politischen Willen, und der ist bisher nicht vorhanden.

Was wünschst du dir von der Zivilgesellschaft?

Kelly Laubinger: Dass sie uns mitdenkt, statt uns auszuklammern. Dass sie uns bei unseren Gedenkveranstaltungen nicht unsichtbar macht und lernt auch unbequeme Stimmen auszuhalten. Ich wünsche mir von der Zivilgesellschaft die Bereitschaft, Ressourcen zu teilen und zu verstehen, dass Themen von Sinti*&Roma* gesellschaftlich-relevante Themen sind.

Ich wünsche mir ebenso die Anerkennung unserer Pluralität. Wir sind keine homogene Gruppe. Es gibt über 130 Selbstorganisationen von Sinti*&Roma*, und hiervon sind nur knapp 50 Selbstorganisationen Mitglied einer Dachorganisation. Das bedeutet ganz konkret, dass keine Dachorganisation für alle Sinti und Roma sprechen kann.

Die Meldestelle MIA macht Angriffe erstmals sichtbar. Was muss daraus folgen?

Kelly Laubinger: Naja, erstmals sichtbar ist nicht korrekt. Seit Jahrzehnten machen Sinti* und Roma* Selbstorganisationen auf Rassismus aufmerksam. Zu den bekanntesten Fällen der letzten Jahre gehören beispielsweise meine beiden Klagen gegen ein Fitnessstudio im Jahr 2022 und im Jahr 2024 gegen ein Hotel. Als Sinti Union Schleswig-Holstein haben wir selbst gemeinsam mit Verbündeten auf die Fälle aufmerksam gemacht.

Zurück zur Meldestelle: Die gemeldeten Fälle bei den Meldestellen, sei es die Antidiskriminierungsstelle des Bundes oder die MIA, sind nur die Spitze des Eisbergs. Viele Menschen kennen die Meldestellen nicht und nur wenige, die die Meldestellen kennen, melden Fälle von Diskriminierung. Die Dunkelziffer bleibt dementsprechend hoch. Ich habe beispielsweise auch erst 2021 durch den Aktivismus erfahren, dass es eine Antidiskriminierungsstelle gibt. Der Rassismus gegenüber Sinti und Roma ist strukturell verankert und dennoch scheint es für die Politik wichtiger zu sein, den Rassismus in Zahlen zu erfassen. Nichtsdestotrotz sollte die MIA nicht um ihre Förderung bangen müssen und eine dauerhaft sichere Förderung erhalten sowie mehr Mittel, um sichtbar zu werden.

Die Politik hätte genug Handlungsempfehlungen, zum Beispiel durch den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiz*ismus. Sie muss sie endlich umsetzen.
Was gibt dir Hoffnung?

Kelly Laubinger: Meine Familie und Verbündete; Menschen, mit denen ich gemeinsam wütend, hoffnungsvoll, verzweifelt und traurig sein kann. Verbündete – jene Menschen, die die Anliegen des anderen zu ihren eigenen machen. Das Konzept von Verbündet-Sein nach Leah Czollek und Gudrun Perko hat unglaublich viel Potenzial für die Gestaltung einer besseren und solidarischeren Gesellschaft.

Und ich denke an meine Familie: Kultur weitergeben, Zusammenhalt, nicht aufgeben, trotz allem, das ist unser Widerstand. Dieses Erinnern gibt mir Kraft. Und Hoffnung.

Damit Sicherheit für Sinti* und Roma* endlich Realität wird, braucht es politischen Willen, strukturelle Veränderungen und die Umsetzung der Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiz**anismus.Vielen Dank für deine Zeit und für das Interview.

Gefördertes Projekt

Was tun gegen die Geschichte vom jüdischen Gottesmord?

Foto: Unsplash/Martin de Pooter

Die Initiative Critical Classics setzt sich mit dem Antijudaismus in einem der meistgespielten Oratorien auseinander. Nun legt sie eine Neufassung der Johannes-Passion vor, die kontextualisiert und Stereotype vermeidet.

Von Vera Ohlendorf

Sie gilt als Meisterwerk der Kirchenmusik: Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach gehört zu den meistgespielten und gleichzeitig umstrittensten Oratorien des gesamten Repertoires. Sie erzählt Jesus Leidensgeschichte, Kreuzigung und Auferstehung. Der Verrat durch Judas und die Erzählung, Juden seien verantwortlich für Folter und Kreuzigung, wird zur musikalischen Version des Vorwurfs des Gottesmordes. In Bezug auf viele antijüdische Textstellen wird die Passion heute weitgehend einvernehmlich als problematisch eingestuft. Gleichzeitig werden bei den Aufführungen vorab kaum kritische Einführungen oder einordnende Programmhefttexte angeboten. Aufführende und Besucher*innen sind dem Antijudaismus häufig unvorbereitet ausgesetzt. Negative Stereotype können sich so verfestigen. Die Initiative Critical Classics hat unter dem Motto „Classics without Victims“ nun eine Neufassung des Librettos vorgelegt, die Ansätze zum diskriminierungssensiblen Umgang mit der Problematik vorschlägt. Das Projekt wurde durch die Amadeu Antonio Stiftung gefördert.

Berthold Schneider war von 2016 bis 2023 Intendant der Oper Wuppertal. Vor zwei Jahren initiierte er das Projekt „Critical Classics“ zur kritischen Auseinandersetzung mit diskriminierenden Inhalten in klassischen Opern und Oratorien. Ab der Spielzeit 2026/27 übernimmt er die Intendanz des Staatstheaters Cottbus. Mit ihm haben wir über die Kontextualisierung antijüdischer Textstellen, die Diskussion um Werktreue und diskriminierungssensible Aufführungspraxen gesprochen.

Foto: Berthold Schneider, Quelle: Bernd Schönberger

Bachs Johannespassion wurde 1724 in Leipzig uraufgeführt. Was ist heute die Kritik?
Die Probleme liegen in den Ursprüngen der Textvorlage, dem Johannesevangelium. Das hat eine gewisse antijüdische Färbung, die der politischen Situation entspricht, in der sich das Christentum befand, als sich die Religion formierte. Das Christentum hat sich ja nicht zu Lebzeiten Jesu gebildet, sondern erst etwa 100 Jahre später. Die Bibel ist aber kein Historientext, sondern ein religiöses Werk und darin finden sich eindeutig antijüdische Haltungen. Die Übersetzung Martin Luthers hat diese noch einmal verschärft. Bach hat die Texte übernommen und sie mit seiner Komposition dramatischer und plastischer gemacht. Eine Aufführung funktioniert anders als das Lesen eines Buches. Wenn ich in der Bibel lese, kann ich mir Gedanken machen und einen Satz hinterfragen. In einer Aufführung kann ich das nicht, denn da tragen lebendige Menschen einen Text vor, den man, an Bachs Musik gekoppelt, gar nicht distanziert oder mit Fragezeichen vortragen kann.

So entsteht in der Passion der Eindruck, die Juden als pauschale Masse seien per se aggressiv und hätten den Wunsch, Jesus zu töten. Der Text differenziert kaum, wer eigentlich gerade spricht. Sind es die Anführer, sind es alle Juden oder nur ein Teil? Römische Akteure und andere Handelnde werden hingegen namentlich benannt. Wir erfahren wenig über die Hintergründe: Warum sind die Juden aggressiv, was haben sie gegen Jesus? Es wird nicht einmal eine richtige Anklage vorgetragen. Das finden nicht nur wir bei Critical Classics problematisch, sondern auch viele Menschen, die das Werk singen und aufführen. Professor Gerhard Wegner, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Niedersachsen, ist der Meinung, dass diese Texte eigentlich nicht gesungen werden sollten. Wenn man jüdische Organisationen fragt, bekommt man ebenfalls eine sehr eindeutige Antwort. Nicht ohne Grund wird das Werk in Israel fast nie aufgeführt. Man sollte sich fragen, ob man mit der Wiederholung von Stereotypen dazu beitragen möchte, dass eine antijüdische Stimmung entsteht.

War Johann Sebastian Bach Antisemit?
Da muss man klar differenzieren. Den Begriff Antisemitismus gab es zu seiner Zeit noch gar nicht. Es geht um historischen Antijudaismus, also die religiöse Ablehnung des Judentums. Die Bibliothek Johann Sebastian Bachs bestand zu einem guten Teil aus Büchern von Martin Luther. Luther hat im Laufe seines Lebens zu einer eindeutig antijüdischen Haltung gefunden. Es ist unwahrscheinlich, dass das nicht auch auf Bach abgefärbt oder ihn beeinflusst hat. Es wäre aber falsch zu unterstellen, dass Bach den Evangelientext mit einer antijüdischen Intention komponiert hätte. Ich glaube, er hat die Textvorlage genommen und verstärkt, was dort steht. Das Fantastische an seiner Kunst ist, dass sie niemanden kalt lässt. Es sind vor allem die Chöre, denen man sich nicht entziehen kann. Man muss sich vorstellen, dass diejenigen, die das Werk aufführen, monatelang Inhalte proben und singen müssen, die wirklich hochproblematisch sind.

Wie sind Sie die Neufassung angegangen? Haben Sie den Text einfach umgeschrieben?
Wir arbeiten grundsätzlich multidisziplinär. Dabei werden diejenigen Perspektiven gehört, um die es in den Werken geht. Im ersten Schritt stellen wir also ein Team zusammen und beziehen etwa Vertreter*innen der Religionsgemeinschaften, Historiker*innen und Musikspezialist*innen ein, Chordirektor*innen etwa. Nur wenn möglichst viele Expert*innen involviert sind, bekommt das Ergebnis eine gewisse Gültigkeit. Dann schauen wir gemeinsam, wo im Werk mögliche Ansatzpunkte vorhanden sind. Das war bei der Johannespassion die schwierigste Phase, die am längsten gedauert hat. Wir haben viel darüber diskutiert, welche Intentionen wir mit den Änderungen verfolgen wollen. Wir hätten zum Beispiel versuchen können, die Juden freundlicher darzustellen, indem wir Textteile rausschneiden. Das würde sich dann aber mit der Musik nicht mehr decken. Uns war klar, dass wir an der Musik nichts ändern wollten.

Das heißt?
Unser Ansatz wurde, zu klären, wer an welcher Stelle spricht und wer gemeint ist. Das bleibt im Original an vielen Stellen unklar und man gewinnt den Eindruck, das Böse kommt immer von den Juden. Wir wollen, dass man versteht, warum die Juden aggressiv sind. Die dargestellte jüdische Gemeinschaft besteht aus verschiedenen Akteuren. Ihre Anführer, die Hohepriester, stehen unter starkem politischen Druck im Verhältnis zur Besatzungsmacht der Römer. Sie hatten ein großes Interesse daran, den römischen Kaiser nicht herauszufordern. Pontius Pilatus provoziert, indem er unterstellt, Jesus sei der König der Juden. Das wäre Hochverrat, da dann der Kaiser nicht die höchste Autorität wäre. Die Juden reagieren also direkt auf die Äußerungen von Pontius Pilatus, die für sie sehr harte Konsequenzen nach sich ziehen könnten. Im Original wird das kaum deutlich und verspielt sich. Wir machen die Provokationen kenntlich. Die Juden haben einen nachvollziehbaren Grund, aggressiv zu sein, sie sind nicht einfach böse. Wir sehen, wie die Anführer aus politischen Gründen ihr eigenes Volk manipulieren, um Probleme zu verhindern. Diese Erzählung ist übrigens viel näher an der historischen Wahrheit und auch viel näher an den Darstellungen der anderen Evangelien.

Was heißt das konkret für den Text?
Wir haben nur etwa 80 von über 3.000 Worten zur Änderung vorgeschlagen und über jedes einzelne sehr lange gesprochen. Uns war wichtig, dass die vorgeschlagenen Textänderungen nicht auffallen, also zur Sprache der Zeit Martin Luthers passen. Wir wollen Aufführungen ermöglichen, die möglichst wenig diskriminierend sind und das Werk dennoch vollumfänglich erfahrbar machen. Wir wollten keine Schärfe herausnehmen, aber die inneren Konflikte nachvollziehbarer machen und so Stereotype entkräften. Wir haben ein Libretto veröffentlicht, in dem man unsere Änderungsvorschläge transparent nachvollziehen kann. Alle sind farblich markiert und mit Kommentaren versehen, in denen wir beschreiben, warum wir die Stellen problematisch finden und wie wir zu den Änderungsvorschlägen gekommen sind. Man kann immer auch zu anderen Lösungen kommen, die vielleicht genauso gut oder besser sind. Wir wollen dazu ins Gespräch kommen.

Welche Zielgruppen wollen Sie konkret ansprechen und welchen Umgang wünschen Sie sich mit der Neufassung?
Wir richten uns an Dirigent*innen, Chordirektor*innen und auch an Chormitglieder und Musiker*innen, also an Menschen, die das Werk zur Aufführung bringen wollen. Denen bieten wir eine konkrete, nachvollziehbare Handreichung an und fördern damit einen Diskurs. Es geht ja nicht allein um die Johannespassion. Im Opernbereich gibt es viele Stücke, die Jahrhunderte alt sind. Die Maßstäbe verändern sich, die Welt dreht sich weiter.

Im 17., 18., 19. Jahrhundert hat man im Musiktheater immer mitgedacht, für wen man spielt. Eine Opernaufführung an einem pietistischen Hof, an dem die Moralvorstellungen strenger waren, hat anders ausgesehen als die an einem libertären Hof. Man hat Rollen verändert, es gab einen sehr freien Umgang mit dem musikalischen und szenischen Material, zugeschnitten auf die jeweilige Zuhörerschaft. Erst später ist eine Aufführungspraxis entstanden, in der Text und Partitur fest und nicht verhandelbar wurden. Wir sollten uns fragen, ob Werktreue in diesem Sinne wirklich der einzig mögliche Zugang ist.

Es gibt andere Beispiele von Anpassungen an diskriminierungsfreie Sprache in der Literatur, etwa bei Werken von Astrid Lindgren oder Karl May. Die erzeugen viel Abwehr. Rechnen Sie mit Kritik?
Auf jeden Fall. Für viele Leute ist das ein Sakrileg. Ich kann das zum Teil gut nachvollziehen. Wir gehen da an Bibeltexte ran, also an Fundamente des Glaubens. Ich denke aber, dass es uns guttut, darüber zu reden, was diese Aufführungen bewirken. Das Sterben Jesu bewegt unglaublich. Die Trauer über den Tod des Heilands ist in der Johannespassion einfach fantastisch umgesetzt. Es ist ein großartiges Werk und wir müssen davon ausgehen, dass alles, was dort gesagt wird, eine große Wirkung bei den Zuhörenden entfaltet. Deshalb sollten wir überprüfen, welche Haltung wir haben, damit man dieses Werk weiterhin aufführen kann. Ich wünsche mir sehr, dass Juden problemlos in Aufführungen der Johannespassion gehen können und dass dort ein gemischtes Publikum sitzt.
Inzwischen ist das Werk aus seinem religiösen Kontext ja weitgehend herausgelöst und wird kaum noch in Gottesdiensten aufgeführt, wofür es eigentlich gedacht war. Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil soll eigentlich eine Predigt stattfinden. Dort hätte man also erklärende Kommentare einfließen lassen können, die den Inhalt einordnen. Heute laufen die Aufführungen meist unkommentiert ab und der Zugang ist durch die alte Sprache erschwert. Ich habe es schon oft erlebt, dass das Publikum an bestimmten Stellen zusammenzuckt.

Ostern 2026 kommt bestimmt: Welche Vermittlung ist jetzt nötig, damit es dann diskriminierungsfreie Aufführungen der Johannespassion in neuer Fassung gibt?
Wir suchen aktuell den direkten Kontakt mit den Aufführenden, zum Beispiel über den Landesmusikrat Nordrhein-Westfalen, der ein zentraler Projektpartner von uns ist. Darüber erreichen wir sehr viele Musiker*innen und Chorleiter*innen. Die weisen wir auf unsere Fassung hin, damit sie sich damit auseinandersetzen können. Sie entscheiden dann, ob sie beim Original bleiben, Hinweise ins Programmheft drucken, vor der Aufführung eine Ansprache halten oder unsere Neufassung hinzuziehen. Es gibt viele Möglichkeiten.

Sie haben vor der Johannes-Passion bereits eine diskriminierungsarme Version der Zauberflöte herausgebracht, die rechtefrei für alle zur Verfügung steht, die die Oper aufführen möchten. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Uns schlägt häufig eine grundsätzliche Ablehnung von Änderungen entgegen. Das ist einfach Teil unserer Kultur. Wir finden es sinnvoll, grundsätzlich danach zu fragen, wie wir Werke aufführen wollen. Viele Regisseur*innen und Dramaturg*innen wissen von unserer Neufassung. Wir wissen von vielen Häusern, dass sie sich unsere Fassung herunterladen und anfangen, Änderungen vorzunehmen. Es ist ein Prozess, auch für uns. Es ist gar nicht wichtig, ob jemand unsere Fassung von A bis Z spielt. Wichtig ist, dass Menschen verstehen, wo Probleme liegen und wie man die umgehen kann.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

In eigener Sache

Dessau Afro Festival gewinnt Amadeu Antonio Preis 2025

Foto: Verleihung des Amadeu Antonio Preises 2025

Die Amadeu Antonio Stiftung würdigt mit dem Amadeu Antonio Preis zum fünften Mal Initiativen, die sich im ländlichen Ostdeutschland engagieren. Angesichts zunehmender rechter Mobilisierung richtet der Preis seinen Fokus neu aus.

Trotz immer erfolgreicheren rechtsextremen Parteien, zunehmendem Rassismus und immer mehr Bedrohungen, hat die Amadeu Antonio Stiftung am 18.11.2025 in Eberswalde Initiativen ausgezeichnet, die sich dem entgegenstellen. Der mit 3.000 Euro dotierte erste Platz des Amadeu Antonio Preises ging an das Dessau Afro Festival.

Die Stiftung würdigte das seit 2018 bestehende Festival als „wichtige Plattform für Austausch, Sichtbarkeit und Solidarität“. Es schaffe durch Musik, Kunst und öffentliche Aktionen einen dringend benötigten Raum für kulturelle Vielfalt und Empowerment in der Region.

Fokus auf den ländlichen Raum

Der Amadeu Antonio Preis wurde in diesem Jahr bewusst neu ausgerichtet. Er legt den Fokus gezielt auf Projekte an der Schnittstelle von Kultur und politischer Bildung im ländlichen und kleinstädtischen Ostdeutschland.

Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung, betonte die Notwendigkeit dieser Neuausrichtung: „Gerade dort, wo Rassismus Alltag ist, brauchen kreative, mutige Initiativen unsere Unterstützung.“ Die Stiftung reagiert damit direkt auf „zunehmende rassistische Diskurse und rechtsextreme Mobilisierung“. Die Preisträger*innen würden beweisen, dass die Zivilgesellschaft das „Rückgrat der Demokratie“ sei und mehr Anerkennung verdiene, heißt es in einer Pressemitteilung.

Weitere Preise für Jugendprojekt und Sportverein

Aus insgesamt 37 Bewerbungen wurden zwei weitere Projekte für ihre herausragende Arbeit geehrt. Den zweiten Platz und ein Preisgeld über 1.000 Euro erhält das antirassistische Jugendkino Torgau Nordwest. Eine Gruppe junger Rom*nja setzte sich ein Jahr lang filmisch und in Diskussionen mit eigenen Rassismuserfahrungen auseinander. Die Jury lobte das Projekt dafür, jungen Menschen einen geschützten Raum zur Reflexion und zum öffentlichen Stellungbeziehen zu geben.

Auf den dritten Platz schafft es Hopesport e.V. aus Eberswalde. Der Verein bringt seit 2021 Menschen aus über 15 Nationen durch Sport und Kultur zusammen. Die Jury hob den „außerordentlichen Beitrag zur Stärkung lokaler Demokratie und des sozialen Zusammenhalts“ durch niedrigschwellige Begegnungsangebote hervor.

Der Preis erinnert an Amadeu Antonio, eines der ersten bekannten Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung, der 1990 in Eberswalde ermordet wurde.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Fachtag

Verschwörungsideologie und Desinformation: Herausforderung für Demokratie und Zivilgesellschaft

Am 13. November trafen sich über fünfzig Teilnehmende aus zivilgesellschaftlichen Organisationen zum digitalen Fachtag «Gefährdete Grundlagen. Verschwörungsideologie und Desinformation als Bedrohung für Demokratie und Zivilgesellschaft». Vertreter*innen bundesweit aktiver Verbände wie der AWO und der Naturfreunde, ebenso wie Teilnehmer*innen aus katholischen Organisationen, Beratungsstellen und ländlichen Initiativen nutzten die Gelegenheit, um sich über aktuelle Analysen auszutauschen und praktische Ansätze kennenzulernen, die Engagierte im Umgang mit wachsenden Herausforderungen stärken.

Erosion gemeinsamer Realität

Denn demokratische Gesellschaften stehen derzeit unter erheblichem Druck. Eine zentrale Entwicklung ist der Verlust eines gemeinsamen Verständnisses von Realität. Verschwörungserzählungen unterlaufen faktenbasierte Debatten, schaffen parallele Wirklichkeiten und verhärten den politischen Diskurs. Besonders rechtsextreme Verschwörungsnarrative entfalten eine zerstörerische Wirkung. Sichtbar wird dies im Erstarken separatistischer und reichsideologischer Gruppen, die sich ihre eignen Fakten schaffen, sowie in rechtsterroristischen Taten, die häufig auf dem rassistischen und antisemitischen Mythos eines erfundenen „Großen Austauschs“ beruhen. Solche Erzählungen untergraben zudem grundlegende demokratische Werte und verändern diese zugleich. Das Ergebnis ist wachsende emotionale Spaltung und pauschales Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Betroffen sind genau jene Akteur*innen, die für Teilhabe, Austausch und sozialen Zusammenhalt stehen.

Analysen am Vormittag, Werkzeuge für die Praxis am Nachmittag

Die Inputs des Vormittags machten deutlich, wie direkt diese Dynamiken in die Arbeit vieler Initiativen hineinwirken. Marie Künne und Anna Blume Böttcher zeigten anhand ländlicher Regionen in Sachsen, wie schnell sich Gerüchte über Gleichstellungsarbeit oder queere Angebote festsetzen und Engagement als vermeintlich geheimes, verschwörerisches Vorhaben markiert wird. Lisa Wassermann erläuterte, wie gezielt befeuertes Misstrauen demokratische Debatten erschwert und eigene Realitäten entstehen lässt. Parallel dazu zeigte Dr. Christoph Schiebel die Kontinuitäten antisemitischer Verschwörungsmythen, die in Krisenzeiten neue Wirkmacht entfalten. Am Beispiel des rechtsextremen „White Genocide Narrativs“ in den USA zeigte er eindrücklich, wie solche Vorstellungen reaktiviert werden und gesellschaftliche Spaltungen vertiefen. Der Nachmittag bot konkrete Handlungsansätze. Ruth Fischer arbeitete mit den Teilnehmenden zu Situationen, in denen antisemitische Aussagen Sprachlosigkeit auslösen, und entwickelte gemeinsam klare Reaktionsmöglichkeiten. Anne Mahr und Annika Stange erarbeiteten Strategien gegen Anfeindungen, die demokratisches Engagement als verschwörerische Einflussnahme abwerten. Niklas Titgmeyer beleuchtete digitale Dynamiken von Social Bots bis Deepfakes und zeigte Anknüpfungspunkte für die politische Bildungsarbeit gegen Desinformation.

Der Fachtag der Fachstelle für politische Bildung und Entschwörung machte deutlich, wie umfassend die Gefahr ist, die von Verschwörungsdenken ausgeht. Es schwächt Vertrauen, verschiebt gemeinsame Bezugspunkte und verengt den Raum für demokratische Aushandlung. Umso wertvoller war die offene und solidarische Atmosphäre, in der Erfahrungen geteilt und neue Impulse entwickelt wurden. Der Tag zeigte, wie viel Kraft entsteht, wenn zivilgesellschaftliche Akteur*innen ihr Wissen bündeln und gemeinsam Strategien für eine widerstandsfähige demokratische Kultur entwickeln.

Ungleiche Sicherheit, ungleiche Demokratie

Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung (Quelle: Peter van Heesen)

Sicherheit ist in Deutschland ungleich verteilt. Die Kampagne „Meine Sicherheit“ der Amadeu Antonio Stiftung rückt die Perspektiven von Menschen in den Mittelpunkt, die Rassismus erleben und zeigt, was sie wirklich brauchen, um sich sicher(er) zu fühlen. Ein Interview mit Tahera Ameer.

In dieser Woche startet die Kampagne „Meine Sicherheit“ der Amadeu Antonio Stiftung, die in diesem Jahr vor allem in Berlin sichtbar ist und rund um den Amadeu Antonio Preis sowie den Todestag von Amadeu Antonio am 6. Dezember auch in Eberswalde ausgespielt wird. Die Kampagne rückt die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt, die von Rassismus betroffen sind. Im Fokus steht dabei das Thema Sicherheit, verstanden aus der Perspektive der Betroffenen selbst. So soll der politische und mediale Diskurs bewusst umgedreht werden: Statt Migration als vermeintliche Gefahr zu verhandeln, machen wir sichtbar, was Sicherheit für Menschen, die Rassismus erleben, in ihrer ganzen Vielfalt bedeuten kann.

Die Amadeu Antonio Stiftung fragt: Was brauchen Betroffene von Rassismus von Gesellschaft, Sicherheitsbehörden, Politik und Medien, um sich sicher(er) zu fühlen? Und: Welche Räume, Entscheidungen und Narrative müssen wir verändern, damit Sicherheit für alle möglich wird?Weshalb sollten wir gerade jetzt über Rassismus sprechen?

Tahera Ameer: Rassismus ist keine Randerscheinung und kein historisches Phänomen, sondern eine Realität, die das Leben vieler Menschen in Deutschland tagtäglich prägt. Wir erleben aktuell eine gesellschaftliche Zuspitzung: Rassistische Sprache normalisiert sich, politische Debatten entmenschlichen ganze Gruppen, und rechtsextreme Mobilisierung nimmt zu.

Gerade deshalb müssen wir jetzt über Rassismus sprechen, nicht abstrakt, sondern aus der Perspektive der Menschen, die davon betroffen sind. Es geht darum, sichtbar zu machen, was sie erleben, und Verantwortung dafür zu übernehmen, welche Folgen öffentliche Debatten und politische Entscheidungen für ihr Sicherheitsgefühl haben.

Rassismus bedroht nicht nur einzelne Menschen, sondern unsere demokratische Kultur. Ihm entgegenzutreten, ist eine zentrale Aufgabe unserer Zeit.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist benannt nach einem der ersten Todesopfer rechter rassistischer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland. Welche Perspektive möchte die Stiftung sichtbar machen, worauf möchte sie aufmerksam machen?

Tahera Ameer: Unser Name verpflichtet uns. Amadeu Antonio steht stellvertretend für viele Menschen, deren Leben durch rassistische Gewalt beendet oder geprägt wurde. Wir möchten ihre Perspektiven sichtbar machen, nicht als Opfer, sondern als Menschen mit Rechten, Bedürfnissen und Stimmen, die in der gesellschaftlichen Mehrheitskommunikation viel zu selten gehört werden.

Was braucht es, damit gesellschaftliches Handeln tatsächlich dazu beiträgt, rassistische Strukturen abzubauen?

Tahera Ameer: Die Stiftung macht aufmerksam auf die Kontinuitäten rassistischer Strukturen, auf den alltäglichen Rassismus, der oft unsichtbar bleibt, und auf die Verantwortung von Politik, Medien und Institutionen, diesem entgegenzutreten. Wir zeigen: Rassismus entsteht nicht im luftleeren Raum. Er ist das Ergebnis von Diskursen, Entscheidungen und Machtverhältnissen und kann nur durch gesellschaftliches Handeln überwunden werden.

In der Kampagne „Meine Sicherheit“ wird deutlich, dass Sicherheit ein ungleich verteiltes Gut ist und Menschen, die von Rassismus betroffen sind, häufig Angst vor Abwertungen und Angriffen haben. Was bedeutet das für uns als Gesellschaft? Was müssen wir tun?

Tahera Ameer: Das Gefühl von Sicherheit ist für viele Menschen in unserer Gesellschaft nicht gegeben. Wenn Sicherheit ungleich verteilt ist, dann ist auch Demokratie ungleich verteilt. Ungleiche Sicherheit, ungleiche Demokratie eben. Menschen, die ständig mit Abwertungen, Kontrolle oder Gewalt rechnen müssen, haben weniger Freiheit, weniger Zugang zu öffentlichen Räumen und weniger Vertrauen in Institutionen.

Als Gesellschaft müssen wir uns fragen: Wessen Sicherheit wird geschützt und wessen nicht? Und welche Narrative reproduzieren wir, wenn wir Migration als Gefahr diskutieren, statt die Bedrohungen ernst zu nehmen, die Menschen, die von Rassismus betroffen sind, tatsächlich erleben?
Was braucht es zur Verbesserung?

Tahera Ameer: Wir müssen den Diskurs verändern, solidarische Räume schaffen und Institutionen befähigen, rassismuskritisch zu handeln. Sicherheit bedeutet nicht nur, dass etwas nicht passiert, sie bedeutet, dass Menschen wirklich dazugehören können. Diese Verantwortung tragen Medien, Politik, Sicherheitsbehörden und jede einzelne Person.

Das Gefühl von Sicherheit zeigt sich nicht nur in körperlicher Unversehrtheit, sondern hat auch viel mit Teilhabe und Zugehörigkeit zu tun. Wo siehst du hier die größten strukturellen Herausforderungen?

Tahera Ameer: Eine der größten Herausforderungen ist, dass unsere gesellschaftlichen Strukturen nicht für alle Menschen die gleichen Bedingungen schaffen. Ob im Bildungssystem, auf dem Wohnungsmarkt, im Gesundheitswesen oder in Sicherheitsbehörden, rassistische Ausschlüsse ziehen sich durch viele Bereiche.

Hinzu kommt: Zugehörigkeit entsteht nicht nur durch Rechte, sondern durch Anerkennung. Wenn Menschen in Medien oder Politik immer wieder als Gefahr dargestellt werden, vermittelt das, dass sie nicht als Teil dieser Gesellschaft gesehen werden. Diese symbolische Abwertung hat reale Folgen für ihr Sicherheitsgefühl und ihre Teilhabechancen.

Strukturelle Veränderung bedeutet deshalb: Institutionen müssen rassistische Muster erkennen und abbauen. Sie müssen Betroffene ernst nehmen, Diskriminierung konsequent sanktionieren und Räume schaffen, in denen Menschen ohne Angst teilhaben können. Sicherheit entsteht dort, wo Menschen wissen: Ich werde gesehen, gehört und geschützt.

Die Zitate, die in der Kampagne sichtbar werden, zeigen sehr unterschiedliche Perspektiven, Empfindungen und Erfahrungen.

Tahera Ameer: Die Zitate sind bewusst vielstimmig, weil Rassismus nicht nur eine Erfahrung ist, sondern viele. Sie zeigen, wie unterschiedlich Menschen von Rassismus betroffen sind und wie vielfältig die Dimensionen von Sicherheit für sie aussehen: körperliche Sicherheit, emotionale Sicherheit, institutionelles Vertrauen, sozialer Schutz, Zugehörigkeit.

Für Personen, die nicht von Rassismus betroffen sind, mögen diese Aussagen irritierend oder schwer greifbar sein. Was ist die Bedeutung dieser Vielstimmigkeit, und welches Ziel verfolgt die Kampagne damit?

Tahera Ameer: Für Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, können manche Aussagen herausfordernd oder nicht sofort nachvollziehbar sein. Aber genau darin liegt die politische Kraft dieser Kampagne: Sie bricht etablierte Vorstellungen auf und verschiebt den Diskurs. Sie zeigt, dass Sicherheit kein universelles, für alle gleiches Gefühl ist, sondern ein ungleich verteiltes Gut.

Und abschließend noch eine Frage in die Zukunft gerichtet: Was macht dir Mut?

Tahera Ameer: Mir gibt Kraft, wie viele Menschen trotz ihrer Erfahrungen weiter für sich und andere einstehen. Ihre Stärke berührt mich. Mut geben mir auch diejenigen, die solidarisch handeln und nicht wegsehen. Veränderung passiert nicht von selbst, sondern weil Menschen sich dafür einsetzen.

Sicherheit ist mehr als Notfallknöpfe – über Angst und Alltagsrassismus in der Berliner U-Bahn

In diesem Interview spricht Duygu mit Léa vom Projekt „Berlin steht an der Seite Betroffener rechter Gewalt“ über ihren Alltag in der Berliner U-Bahn, über Unsicherheit, Alltagsrassismus und das ständige Abwägen zwischen Freiheit und Vorsicht. Sie erzählt, warum sie heute anders fährt als früher, welche Strategien ihr helfen – und was sich ändern müsste, damit sich alle Menschen in der Stadt sicher bewegen können.

Zwischen Alltagsroutine und Unsicherheit
Léa: Liebe Duygu, vielen Dank, dass du uns von deinen Erfahrungen erzählst. Ich würde dich gerne als erstes fragen: Was sind denn deine Erfahrungen in der Berliner U-Bahn?

Duygu: Ich nutze verschiedene U-Bahn-Linien in Berlin. Es gibt Strecken, die für mich okay sind, und andere, die in für mich unbekannte Ecken oder in Ost-Bezirke führen. Dort fühle ich mich etwas unsicherer – auch, weil sich das Profil der Fahrgäste verändert. Dann weiß ich nicht, wie eine Situation eskalieren könnte, wenn es zu einem Angriff kommt. Und ich bin mir oft unsicher, wie ich mich in der U-Bahn schützen kann oder ob Fahrer*innen überhaupt eingreifen könnten.

Léa: Wenn sich Orte verändern, verändert sich dein Gefühl von Sicherheit?

Duygu: Ja, und das ist über die Jahre schlimmer geworden. Als migrantische Frau fühle ich mich besonders abends, in leeren U-Bahnen oder an bestimmten Stationen nicht wirklich wohl. Ich versuche dann, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. In der aktuellen politischen Lage spreche ich nicht laut Türkisch – also nicht in meiner Muttersprache – wenn ich telefoniere. Und ich lese auch keine türkischen Bücher in der Bahn, sondern eher englische oder deutsche. Ich versuche, jede mögliche Angriffsfläche, sei es für verbale Attacken oder unangenehme Blicke, zu vermeiden.

Léa: War es früher einfacher für dich nachts unterwegs zu sein?

Duygu: Früher war es ein bisschen besser. Vielleicht lag es daran, dass ich jünger war oder dass die politische Lage damals nicht so angespannt war. Ich bin früher noch um vier Uhr morgens mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Als migrantische Frau mit schwarzen Haaren konnte ich nach dem Clubbing einfach die U-Bahn nehmen – heute habe ich das Gefühl, dass das so nicht mehr geht.

Léa: Das heißt, du veränderst schon auch deine Routinen? Also du würdest jetzt, wenn du dich nicht sicher fühlst, nachts nicht mehr mit der U-Bahn nach Hause fahren?

Duygu: Genau. Oder ich brauche eine Begleitung.

Léa: Und wie gehst du damit um? Also gehst du dann nicht mehr weg oder suchst du dir dann andere Möglichkeiten nach Hause zu kommen? Und was bedeutet das für deinen Alltag oder deine Wege, die du gerne zurücklegen würdest?

Duygu: Ich nutze weiterhin die U-Bahn, weil ich kein Auto fahren kann. Wenn ich fahren könnte, wäre die Situation für mich vermutlich eine andere. Und die Strecke, die ich zurücklege, kann ich auch nicht mit dem Fahrrad bewältigen – das spielt gerade für viele migrantische Menschen eine Rolle, die nicht mit dem Fahrrad sozialisiert wurden. Die U-Bahn ist daher für mich eine der wichtigsten Mobilitätsmöglichkeiten. Ich versuche, volle Wagen zu wählen; wenn es leer ist, steige ich nicht ein oder laufe schnell zu einem anderen. Musik höre ich dann nicht – ich nehme die Kopfhörer raus, um den Überblick zu behalten. Und ich halte Ausschau nach freundlichen Gesichtern oder Menschen mit ähnlichen Geschlechtermerkmalen. Falls etwas passiert, kann ich so zumindest schnell eine Art Allianz aufbauen.

Léa: Du bist in der U-Bahn also immer auf der Hut?

Duygu: Kann man so sagen. Leider habe ich keine wirkliche Alternative. Kürzere Strecken würde ich gern zu Fuß gehen, aber die längeren – gerade im Winter – eher nicht. Und wenn du mich fragst, S-Bahn oder U-Bahn: Ich würde immer versuchen, die S-Bahn zu nehmen. Die Wagen sind größer und man hat mehr Raum. Vor allem die alten U-Bahn-Modelle finde ich schwierig, weil man nicht einfach durchgehen kann. Die neuen U-Bahnen sind etwas offener, da kann man sich nach rechts und links frei bewegen.

Sicherheit ist mehr als Notfallknöpfe
Léa: Das heißt auch, du planst bei jeder Fahrt schon aktiv mit, dass dir was passieren könnte und überlegst, wer dir im Zweifel helfen kann, wer dir wohlgesonnen sein könnte?

Duygu: Genau. Ich brauche allein eine Stunde mit der U-Bahn zur Arbeit – also zwei Stunden am Tag hin und zurück. Besonders abends oder wenn eine Station voll mit männlichen Jugendlichen ist, mache ich mir vorher Gedanken und überlege: Wie gehe ich damit um? Was mache ich, wenn etwas passiert?

In der U-Bahn gibt es diese Notfallknöpfe, aber sie sind eigentlich für akute medizinische Notfälle gedacht – etwa wenn jemand ohnmächtig wird. Was ich mich frage: Wenn mich jemand verbal angreift oder rassistisch oder sexistisch beleidigt, darf ich den Knopf dann auch drücken und Hilfe holen? Das weiß ich nicht. Mir ist völlig unklar, wie U-Bahn-Fahrer*innen in solchen Situationen reagieren würden.

Léa: Ich habe jetzt gerade schon gehört, es hilft dir auf jeden Fall, dich sicherer zu fühlen, wenn du Menschen identifizierst, denen du erstmal zuschreiben würdest, dass sie dir helfen. Gibt es etwas, was dir sonst noch das Gefühl geben würde, dass du sicherer bist, ganz konkret?

Duygu: Ganz konkret. Ja, das ist ein bisschen schwierig. Ich glaube, das hat nicht direkt mit der BVG oder der U-Bahn zu tun. Aber natürlich könnten sie sich stärker mit dem Thema Sicherheit auseinandersetzen – insbesondere mit der Sicherheit von Frauen und von migrantischen Personen.

Wir hören immer wieder, dass auch Fahrer*innen oder Ticketkontrolleur*innen vereinzelt rassistische oder sexistische Bemerkungen machen oder Vorurteile äußern. Das erschwert Betroffenen den Zugang zu Hilfe enorm – sie fragen sich: Kann ich mich an diese Personen überhaupt wenden? Daher wäre es wichtig, dass die BVG stärker in Trainings investiert und Mitarbeitende beschäftigt, die diversitätssensibel geschult sind und wissen, wie sie in solchen Situationen angemessen reagieren.

Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass männlicher Chauvinismus, nationalistisches Denken und Angriffe auf Frauen, feministische Werte und LGBTQ-Personen in der Gesellschaft zunehmend normalisiert werden. Deshalb braucht es unbedingt mehr politische Bildung und Aufklärungsarbeit – und keine weiteren Kürzungen! Wir müssen mehr Räume schaffen, in denen Menschen für diese Themen sensibilisiert werden können.

Die BVG allein kann natürlich nicht alle Nutzer*innen erreichen, aber wenn wir durch politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit dazu beitragen, gesellschaftliche Haltungen zu verändern, schafft das auch mehr Sicherheit für viele Menschen.

Sicherheit ist nie nur eine Frage der Infrastruktur.
Duygu: In der U-Bahn gibt es nie einen zu 100 % sicheren Ort, aber man kann daran arbeiten, sie sicherer zu machen. Angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage sowie der Kürzungen verschärft sich die Situation jedoch. Und es kann noch schlimmer werden.

Léa: Also braucht es einmal konkrete Maßnahmen, um betroffene Personen zu schützen, und dann welche, um überhaupt zu verhindern, dass diese Einstellung existiert.

Duygu: Genau. Das ist natürlich nicht nur Aufgabe eines einzelnen Unternehmens, sondern eine gesellschaftliche und politische Verantwortung, an der wir alle gemeinsam arbeiten müssen.

Léa: Ja, auf jeden Fall. Wir arbeiten alle zusammen daran, dass sich die Situation verbessert. Ich danke dir sehr, dass du uns von deinen Erfahrungen erzählt hast. Alles Gute dir!

Bundestag: Breite Kritik an rechtsextremer Kampagne gegen Amadeu Antonio Stiftung

Foto: Unsplash/Christian Lue

Am Mittwochabend wurde im Bundestag ein Antrag der rechtsextremen AfD über den Stopp der Förderung der Amadeu Antonio Stiftung debattiert. Demokratische Politiker*innen von CDU/CSU, Grüne, SPD und Linke konterten

Am 11. November hat die AfD einen Antrag im Deutschen Bundestag eingereicht, mit dem sie fordert, die staatliche Finanzierung der Amadeu Antonio Stiftung zu beenden. Der Antrag markiert den vorläufigen Höhepunkt einer Kampagne gegen die Stiftung, aber auch gegen die Zivilgesellschaft und vor allem gegen alles, was der AfD im Wege steht.

Das zeigt sich auch in der Debatte im Bundestag. Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner, dessen Immunität als Bundestagsabgeordneter mehrfach wegen Ermittlungen aufgehoben wurde und der 2020 Schlagzeilen machte, weil er sich in einer ICE-Toilette eingesperrt haben soll, nachdem ein Schaffner ihn zum Tragen einer Atemschutzmaske aufgefordert hatte, war der erste Redner zum Tagesordnungspunkt „Staatliche Finanzierung der Amadeu Antonio Stiftung aus Bundesmitteln beenden“.

Brandner schimpfte mit Verweis in Richtung der Abgeordneten von Grünen und Linken auf die „geballte links-woke weniger demokratische Schickeria“ und fragte ins Plenum, ob hier jemand Maßnahmen der Stiftung nennen könnte, die „Deutschland ein kleines bisschen besser gemacht“ hätten. Prompt entgegnete Konrad Körner von der CSU: „Wie finden Sie die Kampagne ‘Jetzt du! Wir zusammen.’ gegen Antisemitismus und Judenhass?“ Körner bezieht sich damit auf die aktuelle Kampagne der Aktionswochen gegen Antisemitismus und fragt nach, ob Brandner nicht der Meinung sei, dass eine Kampagne gegen Antisemitismus Deutschland voranbringe? Eine kohärente Antwort des AfD-Abgeordneten bleibt aus.

Brandner wiederholt in seinem Beitrag die immer gleichen Anschuldigungen gegenüber der Stiftung und ihrer Gründerin Anetta Kahane, allesamt längst entkräftet. Zum Beispiel hier, hier und hier.

Im Bundestag scheint es angekommen zu sein, dass der AfD-Antrag nur der neueste Versuch ist, die Amadeu Antonio Stiftung, aber auch alle, die etwas gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus haben, mundtot zu machen.

Geschäftsführer Timo Reinfrank zeigte sich ermutigt vom geschlossenen Auftreten der demokratischen Fraktionen, die sich klar hinter die Stiftung und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen stellten: „Dieses klare Bekenntnis ist ein wichtiges Signal, für uns und für alle, die sich in Deutschland für Demokratie engagieren.“

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Marvin Schulz (CDU): „Die finanzielle Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements ist kein Stromkreis“

Das hat sich auch in denjenigen Fraktionen herumgesprochen, die manchmal selbst Kritik an der Arbeit der Amadeu Antonio Stiftung üben. Marvin Schulz (CDU) bekennt sich dann auch deutlich zur Demokratieförderung: „Die finanzielle Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements ist kein Stromkreis, den wir nach Belieben abschalten können, nur weil uns das Licht nicht gefällt.“ Der Abgeordnete befürwortet die von Bildungsministerin Karin Prien (CDU) angekündigte Überprüfung der Förderprogramme, sagt aber auch: „Kritik ja, Kontrolle selbstverständlich, aber Vorverurteilung nicht.“

Misbah Khan (Bündnis 90/Die Grünen): AfD-Fraktion erklärt die komplette demokratische Zivilgesellschaft zum Feind.“

Deutlich auch Misbah Khan von den Grünen: „Der Versuch, unabhängige Organisationen zum Schweigen zu bringen, folgt einem klaren Muster: dem autoritären Versuch, unsere Freiheit und unsere Demokratie anzugreifen. Und die AfD-Fraktion erklärt mit diesem Antrag die komplette demokratische Zivilgesellschaft zum Feind.“ Denn die Kampagne der AfD und eben auch dieser Antrag seien eigentlich nur der erste Schritt: „Was heute für die Stiftung gefordert wird von der AfD, das könnte morgen genauso gut für andere Organisationen gefordert werden: für die Konrad-Adenauer-Stiftung, für die Landjugend, für den Zentralrat der Jüdinnen und Juden, für den Bauernverband oder für das Anne Frank Zentrum“, so Khan. „Und es wird nicht aufhören, bis alle Stimmen, die unliebsam sind, zum Schweigen gebracht worden sind. Das ist das autoritäre Muster, das wir in diesem Land nicht zulassen dürfen.“

Khan macht deutlich, wie wichtig die Arbeit der Stiftung ist, und erwähnt, unter höhnischen Zwischenrufen aus der AfD-Fraktion, ebenfalls die Arbeit der Aktionswochen gegen Antisemitismus, die jährlich rund um den 9. November stattfinden: „Und angesichts der Tatsache, dass man der AfD vieles vorwerfen kann, aber sicher nicht, dass sie die Bedeutung von historischen Daten nicht versteht, ist dieser Angriff auf eine Organisation, die sich gerade für die Aktionswochen gegen Antisemitismus in diesem November einsetzt, an Bösartigkeit und Menschenverachtung kaum zu überbieten“, so Khan.

Felix Döring (SPD): Sie sind gesichert rechtsextrem.“

Felix Döring (SPD) macht deutlich, dass die AfD auch deswegen aus allen Rohren gegen die Amadeu Antonio Stiftung schießt, weil sie seit Jahren vor Rechtsextremismus und seinen Auswirkungen warnt: „Die Stiftung hat schon sehr früh und schon sehr klar

herausgearbeitet, was der Verfassungsschutz jetzt auch einige Zeit später bestätigt hat: Sie sind gesichert rechtsextrem. Vom Rechtsextremismus geht die größte Gefahr für unsere Gesellschaft aus. Das teilen übrigens auch weite Teile der Bevölkerung.“

Entlarvend der Zwischenruf von Beatrix von Storch, immerhin Enkelin von Hitlers Finanzminister und gleichzeitig Antisemitismusbeauftragte der Partei: „Immer weniger!“ Angesichts der Zahlen aus der aktuellen Mitte-Studie, die tatsächlich wachsende Zustimmungsraten für rechtsextreme Positionen verzeichnet, fordert Döring die Förderung der Stiftung auszuweiten statt sie einzustellen.

Der Abgeordnete stellt auch klar: „Die geförderten Projekte sind öffentlich einsehbar, sie sind fachlich geprüft, und sie sind wissenschaftlich evaluiert“. Döring macht deutlich: Gegenüber Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus gibt es keine Neutralität. „Demokraten können nicht neutral sein gegenüber dem Rechtsextremismus, so wie die Feuerwehr auch nicht neutral sein kann gegenüber einem Wohnungsbrand. Die Amadeu Antonio Stiftung arbeitet Tag für Tag dafür, dass es weniger brennt, während Sie Tag für Tag dafür arbeiten, dass ein Feuer nach dem nächsten gelegt wird.“

Clara Bünger (Die Linke): Die AfD ist die größte Gefahr für unsere Gesellschaft“

Die Linken-Abgeordnete Clara Bünger wird ebenso deutlich: Die AfD hetzte gegen Minderheiten, Asylsuchende und Menschen mit Migrationshintergrund, sie „verbreitet Antisemitismus und Rassismus, relativiert die Verbrechen des Nationalsozialismus und stellt organisierte Rechtsextremisten als Mitarbeiter ein, sogar verurteilte Gewalttäter. Die AfD ist die größte Gefahr für unsere Gesellschaft“. Genau deshalb sei die Förderung der Amadeu Antonio Stiftung so wichtig, „denn Demokratie gibt es eben nicht zum Nulltarif“.

Die AfD habe „Angst vor Organisationen wie der Amadeu Antonio Stiftung, weil sie das tun, was Sie am meisten fürchten: aufklären, dokumentieren und widersprechen“, so Bünger.

Konrad Körner (CSU): „Setzen, sechs!“

Konrad Körner aus der Unionsfraktion wies in seiner Replik auf den „abstrusen Antrag“ zunächst auf die ideologischen Unterschiede zwischen seiner Partei und der Stiftung hin. Dennoch betonte er ausdrücklich ihre wichtige Arbeit. Im Antrag der AfD sei von einer „umstrittenen Stiftung“ die Rede, doch, so Körner, eine Stiftung dürfe „so umstritten sein, wie sie will“. Auch die Unionsfraktion könne Kritik üben, ohne ihre grundsätzliche Bedeutung infrage zu stellen.

Dann wandte er sich direkt an die AfD: Könne sie konkrete Aussagen darüber machen, bei welchen Projekten tatsächlich etwas schiefgegangen sein soll? „Fehlanzeige!“ Diese Arbeit, so Körner, habe sich die AfD nicht einmal gemacht. Sein Fazit: „Setzen, sechs!“

Unliebsame Kritiker*innen sollen mundtot gemacht werden

Der zweite AfD-Redner, der an diesem Abend die Einstellung der Förderung der Amadeu Antonio Stiftung fordert, ist Gereon Bollmann. Bollmann geriet bisher vor allem in die Schlagzeilen, weil er besonderen Wert auf weiteren Kontakt zu einer inhaftierten Ex-Kollegin legt, der mutmaßlichen Rechtsterroristin Birgit Malsack-Winkelmann. Laut Medienberichten bemühte sich der Abgeordnete um eine dauerhafte Besuchserlaubnis für die in Untersuchungshaft sitzende ehemalige Bundestagsabgeordnete, die wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt ist. Als Teil der Reichsbürgergruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß soll Malsack-Winkemann einen Sturz der Bundesregierung mitgeplant und auf die schnelle Umsetzung der Pläne gedrängt haben. Nach dem Putsch hätte die Ex-Richterin Justizministerin werden sollen.

Bollmanns Rolle in der Debatte scheint es zu sein, Brücken zur CDU/CDU-Fraktion zu schlagen. Immer wieder versucht er, die Konservativen zur Empörung anzustacheln. Immerhin habe die Stiftung sogar ein Projekt gefördert, dass an der Mobilisierung zu Merz-kritischen “Stadtbild” Demonstrationen beteiligt war, tatsächlich hatte die Initiative nur die Adresse der Stiftung im Impressum stehen. „Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich spreche Sie jetzt mal an: Ist es nicht ein Akt der Selbstachtung, Leute, die sich derartig äußern, von der öffentlichen Alimentierung auszuschließen?“ fragt Bollmann.

Kritik am Regierungshandeln soll nach dem Willen des Abgeordneten also direkte, negative Konsequenzen haben. Ungewollt macht Bollmann damit sein Demokratieverständnis deutlich. Denn laut seiner Argumentation müsste auf zivilgesellschaftliche Kritik an Kanzler und CDU/CSU-Positionen nicht etwa eine Debatte folgen, sondern vielmehr sollte die Regierungspartei einfach unliebsame Kritiker*innen mundtot machen, indem die Förderung direkt eingestellt wird.

Angriff auf Belltower.News

Ein zentraler Bestandteil von Bollmanns Rede war der Versuch, Belltower.News zu diskreditieren. AfD und andere Rechtsextreme nutzen die journalistische Plattform der Amadeu Antonio Stiftung seit Jahren als Feindbild, weil sie regelmäßig über rechtsextreme Netzwerke, Strategien, Hasskampagnen und Desinformation berichtet, auch über die AfD und ihr politisches und journalistisches Vorfeld.

Bollmann verwies auf einen Fall, in dem eine ehemalige Belltower-Autorin einen Angriff auf einen AfD-Politiker „gefeiert“ habe. Dabei ließ er jedoch aus, dass sich die AfD in solchen Fällen meist auf einzelne private Social-Media-Posts bezieht, die in keinerlei Zusammenhang mit der Redaktion stehen, weder inhaltlich noch zeitlich. So verwischt die Partei gezielt die Grenze zwischen persönlicher Online-Kommunikation und journalistischer Arbeit, um Medien zu diskreditieren. Außerdem bezog er sich auf eine Belltower.News-Autorin, die im Zentrum einer rechtsextremen Verleumdungs-Kampagne steht. Er unterstellte ihr indirekt „Verfassungsfeind“ zu sein.

Während Politiker*innen von Union bis Linke die zentrale Rolle der Stiftung im Kampf gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus betonten, nutzte die AfD die Debatte, um erneut gegen zivilgesellschaftliches Engagement zu agitieren und demokratische Akteure zu delegitimieren.

Helge Lindh: Ihr seid nicht allein, und wir lassen euch nicht allein“

Deutlich wird am Ende der Debatte noch einmal Helge Lindh (SPD) der auf die große Putin-Nähe der Rechtsextremen eingeht: „Denn in diesem Putin-Russland, dem Land Ihrer feuchten Träume, wurde die Zivilgesellschaft weitestgehend ausgeschaltet. Genau das ist Ihre Wunschvorstellung.“ Und weiter: „Es war die Amadeu Antonio Stiftung, die als eine der ersten Institutionen auf prorussische Narrative bei Ihnen und auf Ihre Politik der Desinformation hingewiesen hat. Genau das betreiben Sie mit Ihrer Diskreditierungs- und Diffamierungskampagne gegen die Amadeu Antonio Stiftung. Sie wollen letztlich die gesamte demokratiefördernde Zivilgesellschaft plattmachen.“

Lindh geht auf die Bedeutung von Parteilichkeit und Neutralität in der Zivilgesellschaft ein: „Die Zivilgesellschaft ist eben nicht gegen die AfD und für andere Parteien parteiisch im politischen Wettbewerb, nein, sie ist im Wettbewerb demokratischer Haltung parteiisch gegen antidemokratische, verfassungswidrige Haltung.“

Der Abgeordnete macht klar: Demokrat*innen aus allen Lagern unterstützen die Zivilgesellschaft und die Stiftung: „Ihr seid nicht allein, und wir lassen euch nicht allein. Denn ihr habt diejenigen nicht alleingelassen, die schon früh, schon Anfang der 2000er-Jahre unter Antisemitismus litten. Und wir lassen euch nicht allein, weil ihr Rassismus da benannt habt, wo wir es nicht geschafft haben.“

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Code of Conduct: KI in der Zivilgesellschaft demokratisch nutzen

Symbolbild: Code of Conduct Demokratische KI

Was ist wahr und was gefälscht? Diese Unterscheidung ist für unsere Demokratie zentral – und Künstliche Intelligenz macht die Antwort zunehmend schwerer. Wie sollen sich demokratische Organisationen zu einer Technologie verhalten, die als nützliches Tool den Arbeitsalltag erleichtern kann, aber gleichzeitig antidemokratischen Akteur*innen die Manipulation unserer Gesellschaft ermöglicht? Die Amadeu Antonio Stiftung hat gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen der Zivilgesellschaft eine freiwillige Selbstverpflichtung erarbeitet, die der Zivilgesellschaft Orientierung bieten soll und wichtige Grundprinzipien beschreibt.

Von Oliver Saal

Laut einer Befragung aus dem Jahr 2024 haben nur 14 Prozent der deutschen Nichtregierungsorganisationen eine Leitlinie für den Umgang mit KI. Dabei ist anzunehmen, dass die große Mehrheit der Beschäftigten die Technologie verwendet – nur eben weitgehend unreguliert. Doch menschenfeindliche Akteur*innen nutzen generative KI bereits mit der gleichen Selbstverständlichkeit für ihre Propaganda, mit der sie auch schon zu den Erstnutzenden vergangener technischer Neuerungen gehörten. Höchste Zeit also, dass die Zivilgesellschaft die Potentiale der Technologie für emanzipatorische Anliegen ermittelt, testet und praktisch anwendet. Wie das gelingen kann, ohne auf dieselbe manipulative schiefe Ebene zu geraten, die wir antidemokratischen Akteur*innen zu Recht vorwerfen, war bis dato eine Leerstelle.

Der Code of Conduct Demokratische KI ist eine Selbstverpflichtung und Orientierungshilfe für den informierten, reflektierten und verantwortungsbewussten Einsatz von KI. Er wurde in einem einjährigen, partizipativen Prozess von 48 Organisationen der Zivilgesellschaft entwickelt, der von D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt koordiniert wurde. Damit entsteht zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum aus Sicht der Zivilgesellschaft ein gemeinsamer Handlungsrahmen und praktisch handhabbare Prinzipien für die tägliche Praxis, die die Ethik-Leitlinien der UNESCO sowie die den gesetzlich-regulatorischen Rahmen des AI-Acts der EU ergänzen.

Oliver Saal, Referent Digitales bei Civic.net

Im Zentrum des Verhaltenskodex stehen acht Grundprinzipien, zu deren Einhaltung sich die unterzeichnenden Organisationen verpflichten:

  • Abwägung der Nutzung
  • Menschenzentrierung
  • Transparenz
  • Teilhabe & Partizipation
  • Diskriminierungskritische Haltung
  • Verantwortung & Verantwortlichkeit
  • Kompetenzen
  • Ökologische Nachhaltigkeit
Acht Grundprinzipien, Foto: Screenshot Website D64

Die Prinzipien stehen gleichberechtigt nebeneinander. Sie beanspruchen Gültigkeit sowohl für Organisationen, die öffentlich zugängliche generative KI-Anwendungen für ihre Arbeit oder das Engagement nutzen, zum Beispiel zur Erstellung von Bildern und Texten. Sie sind ebenso praktisch anwendbar für Projekte, die bereits jetzt oder in Zukunft eigene KI-Lösungen programmieren und anwenden. Der Code of Conduct ist auch offen für alle, die sich bewusst dafür entscheiden, keine Künstliche Intelligenz zu verwenden – denn das ist ein Grundgedanke hinter der Erklärung: KI ist kein Selbstzweck. Als unterzeichnende Organisation verpflichten wir uns, die neue Technologie so einzusetzen, dass demokratische Teilhabe erleichtert, Diskriminierung reduziert und gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt wird. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Technologie auch von denjenigen akzeptiert wird, die beispielsweise von einem neuen Produkt „mit KI“, einer neuen Form KI-gestützter Datenerfassung oder Pflegerobotern betroffen sind. Konkret bedeutet das für die Arbeit der Amadeu Antonio Stiftung, dass wir beispielsweise:

  • in unserem Kollegium systematisch Kompetenzen zum Einsatz von KI-Systemen aufbauen, etwa durch Fortbildungen;
  • Inhalte, die überwiegend oder vollständig mit KI entstanden sind, transparent kennzeichnen, insbesondere Bild-, Ton- und Videoerzeugnisse, weil sie ein großes Manipulationspotential haben sowie Übersetzungen;
  • Beteiligungsmöglichkeiten bei der Auswahl von KI-Systemen in der Belegschaft schaffen;
  • nachhaltige und datensparsame Lösungen bevorzugen;
  • Verantwortung für die Ergebnisse von KI-Systemen in unserer Organisation übernehmen.

Für uns steht fest: Technischer Fortschritt ist nur dann ein echter Fortschritt, wenn eine Technologie gesellschaftliche Teilhabe stärkt und Autonomie fördert, zum Beispiel von Menschen mit Behinderung oder eingeschränktem Zugang zu Bildung. Wenn sie Nutzende befähigt, ihre individuellen Potenziale voll auszuschöpfen. Wenn sie Hürden abbaut, Abläufe verbessert und Probleme löst, die vorher nicht oder nur mit erheblichem Ressourcenaufwand lösbar waren. Wenn sie in der Summe also das Leben nicht nur für einige wenige besser macht, sondern das Zusammenleben aller Menschen verbessert und die Zugänge zu Wissen und Möglichkeiten demokratisiert.

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz durch antidemokratische Akteur*innen ist das genaue Gegenteil dieser Maximen: Rechtsextreme nutzen KI, um das Netz und sogar unsere analoge Alltagswelt schneller und stärker mit manipulativen Inhalten zu fluten, gefühlte Wahrheiten mit fiktionalen Grafiken zu bebildern, Mehrheiten zu simulieren und so mehr Anhänger*innen für rechtsextreme und verschwörungsideologische Weltbilder zu gewinnen. Die Amadeu Antonio Stiftung wird auch in Zukunft über diese Manipulationsmöglichkeiten aufklären und über ihren Einsatz durch antidemokratische Gruppen berichten.

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Lügen, Desinformation, rechtsextremes Framing: So begründet die AfD ihren Antrag auf Förderstopp der Amadeu Antonio Stiftung

Der Antrag „Staatliche Finanzierung der Amadeu Antonio Stiftung aus Bundesmitteln beenden“, den die AfD-Fraktion im Bundestag eingebracht hat, ist inhaltlich schwach, abgeschrieben aus dem Transparenzregister des Bundestages und keine besondere investigative Leistung der AfD – aber dennoch politisch brandgefährlich.

Die AfD will der Stiftung finanziell die Grundlage entziehen – um uns zum Schweigen zu bringen und vor allem um unsere Arbeit zu verhindern. Dazu bringt sie einige altbekannte Vorwürfe gegen die Stiftung ins Feld, die jeder Grundlage entbehren. Wir erklären, warum sie an den Haaren herbeigezogen sind:

Vorwurf Nr. 1: Angeblich „fehlende parteipolitische Neutralität“

Rechtsextreme haben das sogenannte „Neutralitätsgebot“ zum Kampfbegriff gemacht. Seit Jahren bringt die AfD es gegen Vereine, Verbände oder Stiftungen in Stellung, die ihnen unliebsame Haltungen vertreten, gegen menschenverachtende Aussagen und Rechtsextremismus Stellung beziehen. Dabei ist die Behauptung, diese Träger müssten sich „neutral“ verhalten und dürften sich nicht positionieren, schlicht falsch, durch juristische Gutachten und in Praxishandreichungen widerlegt.

Das Gemeinnützigkeitsrecht verlangt nicht Neutralität gegenüber verfassungsfeindlichen Bestrebungen, sondern die Förderung demokratischer Strukturen. Die kritische Auseinandersetzung mit Tendenzen, die unsere freiheitlich demokratische Grundordnung gefährden, ist daher nicht nur rechtlich zulässig. Sie ist sogar notwendig für die Erfüllung des Stiftungszwecks, insbesondere zur Prävention von Rechtsextremismus und Antisemitismus.

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist die Basis für alle gemeinnützigen Initiativen – das gilt auch für die Amadeu Antonio Stiftung. Wir arbeiten im Einklang mit demokratischen Werten: Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Gewaltenteilung, Volkssouveränität und einem starken Mehrparteiensystem.

Ein solches Neutralitätsgebot für die Zivilgesellschaft existiert juristisch nicht. Das Grundgesetz ist nicht neutral gegenüber den Feinden der Demokratie. Und wer es verteidigt, kann und darf es auch nicht sein.

AfD-Lüge Nr. 2: „Mögliche Zweckentfremdung von Mitteln“

Die staatlichen Zuwendungen der Amadeu Antonio Stiftung fließen in bundesweit wirksame Präventions- und Bildungsarbeit. Der Antrag der AfD listet akribisch alle Projektmaßnahmen auf, für die die Stiftung zweckgebundene Zuwendungen der öffentlichen Hand erhält. All diese Informationen sind im Transparenzregister des Bundestags öffentlich einsehbar und alles andere als ein Geheimnis, das die AfD enttarnt.

Die Stiftung bewirbt sich, wie andere Träger auch, mit pädagogischen Konzepten auf Ausschreibungen im Rahmen von Förderprogrammen. Die Anträge werden von Expert*innen nach einem standardisierten Verfahren begutachtet. Der Projektverlauf wird durch wissenschaftliche Einrichtungen evaluiert und die Projekte dabei nach wissenschaftlichen Kriterien und Verfahrensweisen bewertet.

Auch die sachgerechte Verwendung der Mittel wird gründlich geprüft: von den Mittelgeber*innen genauso wie vom Finanzamt. Nachdem die AfD bereits vor zwei Jahren versucht hat, uns die Gemeinnützigkeit aberkennen zu lassen, hat das Finanzamt Berlin uns nach eingehender Prüfung anstandslos bestätigt, dass die Arbeit der Amadeu Antonio Stiftung den Anforderungen der Gemeinnützigkeit entspricht.

Weil die AfD auf diesem Weg gescheitert ist, bringt sie die „Causa Rammstein“ ins Spiel: Dabei geht es um eine Spendenaktion der Amadeu Antonio Stiftung: Sie sammelte auf eine Initiative Prominenter Spenden für Kosten von Anwält*innen- und Therapiekosten von Frauen, die sich im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen den Sänger der Band als Betroffene gemeldet hatten. Dank der überwältigenden Unterstützung konnte die Stiftung die Einrichtung des Fonds Tilda zur Unterstützung von Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt ermöglichen. Die Stiftung informierte darüber völlig transparent sowohl die Öffentlichkeit als auch alle Spender*innen  – die die Möglichkeit hatten, ihre Spende zurückzufordern, wenn sie mit der Verwendung nicht einverstanden waren.

Egal ob Spenden oder staatliche Zuwendungen: Die Mittelverwendung der Amadeu Antonio Stiftung ist transparent und wird unabhängig geprüft.

Aber erinnert ihr euch noch an die Spendenskandale der AfD, bei denen es immer wieder um illegale Parteispenden ging?

Tatsachenverdrehung Nr. 3: „Kritische Haltung gegenüber den Grundwerten unserer Gesellschaft“

Die Amadeu Antonio Stiftung steht für die Verteidigung der Grundwerte unserer Gesellschaft: Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet, dass wir Missstände offen benennen, auf gesellschaftliche Gefahren hinweisen und Menschen stärken, die sich aktiv für eine offene Gesellschaft einsetzen.

Wenn die AfD dies als „kritische Haltung gegenüber den Grundwerten“ darstellt, verkennt sie nicht nur unsere Arbeit, sondern offenbart gleichzeitig ihre eigene Agenda: Wer die Verteidigung demokratischer Prinzipien als Problem ansieht, hat selbst die Grundwerte unserer Gesellschaft nicht verinnerlicht.

Eine Demokratie lebt von kritischen Stimmen, von Debatte, von Aufklärung und freier Meinungsbildung. Wer kritische Stimmen mundtot machen will, wie es die AfD mit ihrem Antrag gegen die Stiftung beabsichtigt, will die Meinungsfreiheit einschränken und die Demokratie in ihren Grundfesten angreifen. Welche Grundwerte die AfD vertritt, lässt sich im Gutachten des Verfassungsschutzes zur Einstufung als „gesichert rechtsextremistisch“ nachlesen.

Verleumdung Nr. 4: „Verbindungen in ein politisch extremes Umfeld“

Die AfD wirft der Stiftung „Verbindungen in ein politisch extremes Umfeld“ vor – und das ist vor allem eine Aussage über die Rechtsextremen selbst. Die Stiftung ist extrem demokratisch und vernetzt in eine bundesweite Landschaft des Engagements gegen Rechtsextremismus und für Demokratie.

Es wundert nicht, dass das die AfD stört, ist sie doch selbst der parlamentarische Arm eines gewaltbereiten Rechtsextremismus, mit Verbindungen ins Reichsbürger-Milieu bis hin zum Rechtsterrorismus. Im März 2024 ergaben Recherchen des Bayerischen Rundfunks, dass die Partei im Bundestag mehr als 100 Personen aus Steuermitteln beschäftigt, die von deutschen Verfassungsschutzämtern als rechtsextrem eingestuft werden.

Die regelmäßige Diffamierung und Verleumdung der Amadeu Antonio Stiftung durch Rechtsextreme hat konkrete Folgen: Die Stiftung und ihre Mitarbeiter*innen sind seit Jahren regelmäßig Ziel von Hass und Bedrohungen bis hin zu Morddrohungen, wie BKA und LKA bestätigen. Die Stiftung und die langjährige Vorsitzende Anetta Kahane standen auf rechtsextremen Feindeslisten; der rechtsextreme Bundeswehroffizier Franco A. hatte die Büros der Stiftung ausgespäht und als potenzielles Anschlagsziel ins Auge gefasst.

Pseudo-Skandal Nr. 5: „Staatliche Alimentierung von Denunziantentum“

In ihrem Antrag bringt die AfD die Meldestelle Antifeminismus ins Spiel, die im Rahmen einer staatlichen Förderung ins Leben gerufen wurde. Die Anlaufstelle verfolgt das Ziel, Betroffenen Unterstützungsangebote zu vermitteln und Erfahrungen und Perspektiven sichtbar zu machen. Alle Meldungen und Daten werden anonymisiert. Damit kommt die zivilgesellschaftliche Erhebung einem Bedarf nach, den bereits 2021 die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Bekämpfung von geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichteten Straftaten“ formulierte. Denn antifeministische Vorfälle wurden bisher nicht systematisch erfasst. Die Meldestelle unterstützt so Rechtsstaat und Politik, verbessert den Opferschutz und trägt dazu bei, dass Bedrohungen und Gewalt gegen Frauen, queere Personen und geschlechtliche Minderheiten auf empirischer Basis ernst genommen werden. Seit 2025 ist die Meldestelle bei einem neuen Träger mit einer weiterentwickelten Konzeption aufgehangen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die AfD gegen ein angebliches „Denunziantentum“ wettert, während sie selbst mit ihrem Portal „Neutrale Schule“ zum Melden von Lehrkräften aufruft, die vermeintlich gegen das Neutralitätsgebot verstießen, sowie das „Meldeportal – Gewalt an Schulen“.

Skandalisierung Nr. 6: Die Vergangenheit von Anetta Kahane

Unter den „Skandalen“, die die AfD der Stiftung zuschreibt, listen die Rechtsextremen auch die Vergangenheit der Stiftungsgründerin Anetta Kahane auf. Ihre frühere – und längst aufgearbeitete – Tätigkeit für die Staatssicherheit der DDR mache sie und die von ihr gegründete Amadeu Antonio Stiftung unglaubwürdig im Einsatz für Demokratie und Menschenrechte. Kahane wurde als Jugendliche in der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit erpresst, eine Zusammenarbeit einzugehen, die sie aus eigenem Entschluss mehrere Jahre vor dem Ende der DDR beendete – mit erheblichen persönlichen und beruflichen Konsequenzen. Seither setzt sich Kahane unermüdlich für Demokratie, Minderheitenschutz und jüdisches Leben in Deutschland ein. Als Jüdin und Vorkämpferin gegen Rechtsextremismus wurde sie unter Rechtsextremen zur Projektionsfläche, zum Feindbild Nummer 1. schlechthin und wird bis heute systematisch angefeindet, auch als Symbolfigur einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“, einer zutiefst antisemitischen Erzählung. Nach 1989 hat sie ihre Geschichte offen aufgearbeitet und ein unabhängiges Gutachten über ihre Stasi-Akte veröffentlichen lassen. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass aus der Stasi-Tätigkeit Anetta Kahanes niemandem persönliche Nachteile entstanden sind.

Anetta Kahane ist der Stiftung weiter eng verbunden und arbeitet mit ihr zusammen, auch nachdem sie 2022 den Vorsitz abgegeben hat. Bis heute wird sie mit der Stasi-Vergangenheit konfrontiert, obwohl diese vollumfänglich aufgearbeitet wurde.

Es ist schon verwunderlich, dass gerade die AfD eine Stasi-Vergangenheit so sehr in den Fokus rückt. Denn die AfD hat selbst mehrere hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter in den eigenen Reihen und sogar in Landesparlamente und den Bundestag gesetzt. Und das, obwohl sie diese Tätigkeit teils bis zum Ende der DDR ausgeübt und nie aufgearbeitet haben.

Maßlose Übertreibung Nr. 7. „Stiftung ist immer wieder in Skandale verwickelt“

All die oben genannten Vorwürfe lässt die AfD in ihrem Antrag in ein pauschales Urteil über die Stiftung münden: Die Amadeu Antonio Stiftung sei „immer wieder in Skandale verwickelt, die eine Förderung aus Bundesmitteln für die Zukunft ausschließen“. Inwiefern die leicht zu entkräftenden Tatsachenverdrehungen der Rechtsextremen einen solchen Ausschluss begründen, lassen sie offen.

Die vermeintlichen Skandale inszeniert im Wesentlichen die AfD selbst. Unterstützt werden die parlamentarischen Angriffe von einem Netzwerk rechts-alternativer Medien, die Fakten verzerren und irreführende Informationen verbreiten.

Trotz der Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ fließen weiterhin gewaltige Summen staatlicher Gelder an die Partei und ihre Kader. Mehr als 120 Millionen an Steuermitteln zahlt der Bund Jahr für Jahr an eine Partei, deren Verfassungsmäßigkeit in Frage steht, die Grundsätze des Rechtsstaats und Menschenrechte in Frage stellt und die Demokratie angreift – und das nur für ihre Wahlerfolge auf Bundesebene. Eine gewaltige Finanzspritze für die rechtsextreme Landnahme und die Finanzierung ihres Vorfelds.

Festnahme in Dortmund: Terrorfinanzierung per Crowdfunding

Foto: Symbolbild, Quelle: Canva und Screenshot

Ein Mann soll im Darknet private Daten veröffentlicht, Attentate gefordert und Zahlungen zur Ermordung von Politiker*innen gesammelt haben. Die Verknüpfung aus autoritär-libertärer Ideologie und technischer Anonymität schafft neue Gefahren für die Demokratie.

Von Kira Ayyadi

Inhaltswarnung: Rassistische und antisemitische Sprache

Die Bundesanwaltschaft hat am Montagabend, 10. November, den deutsch-polnischen Staatsangehörigen Martin S. festnehmen lassen. Der 32-Jährige soll im Darknet die Plattform „Assassination Politics“ betrieben haben, auf der zu Anschlägen auf Politiker*innen und Personen des öffentlichen Lebens aufgerufen wurde, finanziert über Kryptowährungen. Der Vorwurf: Terrorismusfinanzierung, Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und Veröffentlichung personenbezogener Daten. Die Liste der Todeskandidat*innen soll laut Spiegel mehr als 20 Namen umfasst haben. Auch die früheren Bundeskanzler*innen Olaf Scholz und Angela Merkel sowie mehrere Ex-Minister*innen sollen auf der Liste gestanden haben.

Nach Angaben der Ermittlungsbehörden veröffentlichte Martin S. auf seiner anonym betriebenen Seite seit Juni 2025 Namenslisten, sogenannte „Todesurteile“ und Bauanleitungen für Sprengsätze. Zudem soll er Spenden in Kryptowährungen gesammelt haben, um „Kopfgelder“ auf namentlich genannte Personen auszusetzen. Die Plattform enthielt demnach auch sensible persönliche Informationen der potenziellen Zielpersonen, ein klarer Versuch, Einschüchterung und Gewaltanwendung zu organisieren.

Darknet-Seite: „Politik durch Terror“

In der Vorschau der Suchergebnisse im Darknet ist eine Website mit dem Titel „Assassination Politics – Startseite“ zu finden und ein Text, der das Selbstverständnis der Betreiber*innen erschreckend offen formuliert:

„Wir erzwingen unseren Einfluss auf die Politik durch Terror. Der Einfluss wird durch Crowdfunding finanziert und von unabhängigen Attentätern ausgeführt.“ Es folgt eine eindeutige Feindmarkierung, die keinerlei Zweifel an der ideologischen Motivation lässt: „Unser Gegner ist das linke Gesindel, Juden, N**** und Kanaken“ (im Original ausgeschrieben). Die Website ist jedoch nicht mehr abrufbar.

Es soll nicht bei theoretischer oder symbolischer Gewalt bleiben, die Wortwahl macht deutlich, dass es sich um den Versuch handelt, reale, rechtsterroristische Gewalt zu ermöglichen und Mitstreiter*innen zu rekrutieren.

Die Ideologie hinter „Assassination Politics“

Martin S. diente offenbar die menschenfeindliche Theorie der sogenannten „Assassination Politics“ des US-Libertären Jim Bell als ideologische Vorlage. Bell veröffentlichte 1997 einen Essay, in dem er ein System entwarf, das staatliche Strukturen durch Angst und Gewalt zersetzen sollte: Bürger*innen sollten über anonyme Internetplattformen Geld in digitalen Währungen einzahlen können, um die Ermordung von Politiker*innen oder Beamt*innen zu finanzieren – angeblich, um „Korruption zu bestrafen“ und „Freiheit“ zu sichern. Bell schlägt vor, eine Organisation zu schaffen, die anonyme Spenden in digitalem Bargeld sammelt, um Belohnungen an jene auszuzahlen, die den Tod bestimmter Politiker*innen richtig vorhersagen. Er schlägt also Wetten auf den Tod von Politiker*innen vor.

Ein Markt für politischen Mord

Der Essay beschreibt somit ein Marktmodell für politischen Mord. Bell kombinierte die Ideologie des absoluten Individualismus mit einem technikgläubigen Freiheitsverständnis, das jegliche staatliche Ordnung als illegitime Zwangsherrschaft deutet. Gewalt gegen Vertreter*innen des Staates erscheint in dieser Logik als gerechte Selbstverteidigung.

Doch Martin S. scheint nicht nur online umtriebig gewesen zu sein: Laut Spiegel unterhielt der Mann zumindest zeitweise Kontakte in die rechtsextreme Szene. So nahm er 2021 an einem Gedenkmarsch für den verstorbenen Dortmunder Neonazi-Führer Siegfried Borchardt, „SS-Siggi“, teil.

Digitale Gewalt mit realen Zielen

Szene-Beobachter*innen und Sicherheitsbehörden warnen seit Jahren vor der Überschneidung von Online-Radikalisierung und realweltlichen Gewalttaten. Dieser Fall zeigt auf, wie gefährlich rechtslibertäres Denken ist. Davor warnte jüngst auch die aktuelle Mitte-Studie. Ein Viertel der Befragten der Mitte-Studie teilt eine „libertär-autoritäre“ Ideologie, die Freiheit mit Selbstverantwortung verwechselt und Solidarität als Schwäche deutet. Diese Gruppe neigt signifikant häufiger zu Gewalt und rechtsextremen Haltungen. Wer in einer autoritären Erziehung sozialisiert wurde, zeigt ähnliche Muster. Gehorsam und Disziplin gelten für viele wieder als zentrale Bildungsziele.

Am Dienstag, dem 11.11. wird Martin S. dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs vorgeführt.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Wirksame Förderung? Interview mit Didaktikerin Dr. Firsova-Eckert

weiße Frau mit halblangem, lockigem, blonden Haar und mint-grünem Jacket lächelt in die Kamera
Dr. Elisaveta Firsova-Eckert vom Institut für Didaktik der Demokratie an der Uni Hannover, Quelle: IDD

Das Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover hat zum Ziel, Forschungs- und Transferaktivitäten auf den Feldern von Politischer Bildung und Demokratiepädagogik, Geschichte und Erinnerungskultur sowie den sozialen Herausforderungen der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu bündeln und zu profilieren. Wir haben eine der leitenden wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen interviewt:

Liebe Frau Dr. Elisaveta Firsova-Eckert, was sind Ihrer Meinung nach Gründe, weshalb Menschen an Verschwörungserzählungen glauben?

Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen an Verschwörungstheorien glauben. Aktuelle Forschungsbefunde und theoretische Auseinandersetzungen verweisen dabei auf verschiedene Faktoren. Psychologisch spielen Bedürfnisse nach Sicherheit und Kontrolle in unsicheren Zeiten eine wichtige Rolle. Auf sozialer Ebene kann der Glaube an Verschwörungen eine positive Selbstwahrnehmung stützen, etwa durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich als „wissender“ oder „kritischer“ gegenüber den vermeintlich naiven Eliten oder der Mehrheitsgesellschaft versteht. Hinzu kommen identitäts- und sinnstiftende Motive sowie existenzielle Gründe – etwa der Wunsch, sich in einer komplexen, unsicheren und mehrdeutigen Welt an Klarheit und Eindeutigkeit festhalten zu können.

Darüber hinaus geht man heute davon aus, dass es eine Art Verschwörungsmentalität gibt – eine relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft, die mit einer kognitiven Offenheit für die Idee verbunden ist, dass „hinter allem“ eine Verschwörung steckt. Wer an eine Verschwörungstheorie glaubt, ist daher häufig auch für weitere anfällig, selbst wenn diese sich inhaltlich widersprechen.

Gleichzeitig dürfen diese Erklärungsansätze nicht darüber hinwegtäuschen, dass sicherlich noch viele psychologische Prädispositionen und Einstellungen, die den Glauben an Verschwörungstheorien beeinflussen, bislang nicht hinreichend erforscht sind. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf. Hinzu kommt, dass wir aktuell in gesellschaftlich und politisch instabilen Zeiten leben, die zudem stark digital geprägt sind. Diese Konstellation wirkt wie ein Brennglas: Sie fördert die Verbreitung von Verschwörungstheorien und trägt zugleich dazu bei, dass diese gesellschaftlich bereitwilliger akzeptiert werden.

Sie haben sich wissenschaftlich mit dem Wirken von Demokratiebildung an niedersächsischen Schulen befasst. Wie kann Bildungsarbeit Verschwörungsdenken an Schulen begegnen?

Bei der Studie „DebiS“: Die DemokratibildungsStudie Niedersachsen haben wir uns angeschaut, inwieweit der Demokratiebildungserlass aus dem Jahr 2021 dazu geführt hat, dass Lehrkräfte sich bestätigt gefühlt haben, Demokratiebildung aktiv zu betreiben, und auch ihre generellen Einstellungen und Vorstellungen zu zentralen Demokratiebildungsaspekten erfasst. Auch bei Verschwörungstheorien kann man natürlich mit Steuerungselementen wie Erlassen, z. B. zur Förderung der digitalen Medienkompetenz, vorgehen. Ich denke aber, dass das nur die Oberfläche berühren würde und auch viele Lehrpersonen überfordern könnte, sich auf einmal – als Querschnittsaufgabe – in ein doch sehr spezifisches Feld einzuarbeiten.

Zentral ist im Umgang mit Verschwörungstheorien deshalb das Thema Prävention. Studien zeigen, dass Interventionen nur begrenzt wirksam sind. Prävention bedeutet hingegen, Lernende frühzeitig in die Lage zu versetzen, Muster von Verschwörungsdenken zu erkennen, deren Attraktivität kritisch zu reflektieren und alternative Deutungen zu entwickeln. Hierbei könnten mehrere Ansatzpunkte eine Rolle einnehmen, wie z. B.:

Kritisches Denken und Argumentationsfähigkeit: Schülerinnen und Schüler sollten üben, Informationen zu hinterfragen, Widersprüche zu erkennen und eigene Positionen argumentativ abzusichern.

Medien- und Informationskompetenz: Gerade die Rolle sozialer Medien als Resonanzraum für Verschwörungserzählungen muss stärker in den Blick genommen werden – wie funktionieren Algorithmen, Desinformationskampagnen, wie vermitteln verschwörungstheoretische Influencer und was sind klassische verschwörungstheoretische Codes?

Demokratiepädagogische Erfahrungen: Demokratiebildung bleibt nicht bei der Wissensvermittlung stehen, sondern eröffnet Erfahrungsräume, in denen Schülerinnen und Schüler Selbstwirksamkeit erleben, Teilhabe praktizieren und demokratische Aushandlungsprozesse nachvollziehen können. Das stärkt Resilienz gegenüber einfachen, verschwörungsideologischen Erklärungsmustern.

Was wünschen Sie sich als Wissenschaftlerin für die Fortentwicklung des Präventionsfelds im Bereich Verschwörungsdenken und Verschwörungserzählungen?

Zum einen halte ich eine stärkere Wirkungsforschung für notwendig. Zwar gibt es bereits viele gute und spannende Initiativen und Maßnahmen zur Bekämpfung von Verschwörungstheorien, doch wissen wir bislang nur wenig darüber, ob sie tatsächlich die intendierte Wirkung entfalten und wie nachhaltig ihre Effekte sind. Eine systematische Begleitforschung, die Maßnahmen und ihre Zielgruppen über einen längeren Zeitraum in den Blick nimmt, könnte hier wichtige Erkenntnisse liefern und bislang wenig erschlossene Bereiche erhellen.

Ein zweiter Punkt betrifft die Finanzierung. Viele Initiativen existieren nur so lange, wie es die jeweilige Förderung erlaubt. Verschwörungstheorien hingegen sind robust und dauerhaft präsent – dieses Missverhältnis schwächt den präventiven Ansatz. Maßnahmen sollten daher so finanziell abgesichert sein, dass Bildungsinitiativen und Präventionsprojekte die nötige Zeit und Reichweite haben, um wirklich in der Breite anzukommen. Andernfalls profitieren lediglich einzelne Jahrgänge von den Angeboten, während nachfolgende Klassen wieder neu nach Alternativen suchen müssen. Eine verlässliche Finanzierung könnte zudem nachhaltige Kooperationen zwischen Anbietern und Schulen sichern.

Abschließend möchte ich als Forscherin mit einem Fokus auf Antisemitismus betonen, dass Präventionsmaßnahmen die enge Verbindung von Verschwörungstheorien und Antisemitismus noch stärker berücksichtigen sollten. Nahezu jede Verschwörungserzählung weist einen antisemitischen Kern auf. Dennoch werden zentrale Codes und Chiffren von vielen (Pädagog*innen als auch Lernenden) oft nicht erkannt. Eine Sensibilisierung für diese Verbindung ist besonders in der aktuellen Situation dringend geboten, in der Antisemitismus in Deutschland wieder vehementer und entgrenzter zutage tritt.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

Tools im Test: Quiz mit Urkunde

Quiz aus der klicksafe-Quiz-Reihe Quelle: klicksafe.de

In jedem Newsletter testen wir ein anderes Tool im Internet, das über Verschwörungserzählungen aufklärt oder Nutzer*innen dabei hilft, mit diesen im Alltag zurecht zu kommen. In dieser Ausgabe stellen wir ein Quiz der EU-Initiative Klicksafe.de vor.

Auf der Webseite Klicksafe.de gibt es verschiedene Informationen, Tools oder Hilfen für Kinder, Jugendliche und Fachkräfte rund um das Internet und Social Media. Seit 2020 gehört hierzu auch ein kurzes Quiz über Verschwörungserzählungen. Das Quiz besteht aus zehn Fragen, durch die sich die Nutzer*innen klicken können. Insgesamt stehen mehr als zehn Fragen zur Verfügung, das heißt, wer das Quiz mehrfach hintereinander ausprobiert, kann sich über jeweils zufällig zusammen gestellte Fragen freuen. Das Quiz besteht einerseits aus Wissensfragen zum Thema. Zum Beispiel wird gefragt, seit wann es Verschwörungserzählungen gibt oder wie die Definition einer realen Verschwörung lautet. Andererseits werden auch Fragen zu konkreten Verschwörungserzählungen gestellt, so dass beispielsweise Narrative zur Thematik Covid-19 benannt werden müssen. Ein dritter Komplex von Fragen widmet sich dem Thema Medienkompetenz. So müssen Nutzer*innen die Merkmale von Falsch-Informationen, wie beispielsweise reißerische Überschriften, welche die Wahrheit verkünden, identifizieren. An einer Stelle können die Nutzer*innen auch ein Video der Sozialpsychologin Pia Lamberty anschauen, um hieraus Wissen zu generieren.

Insgesamt erscheint das Quiz modern, abwechslungsreich und nutzer*innenfreundlich. Positiv fällt auf, dass nach jeder Frage die richtige Antwort eingeblendet wird und dass die Nutzer*innen noch eine zusätzliche Information erhalten. Auch die Idee, am Ende ein klares, verständliches Ergebnis samt Zertifikat zu erhalten, dürfte die Attraktion des Tools steigern. Das Quiz eignet sich sowohl für die individuelle Anwendung, als auch für die Integration in den Unterricht oder die Projektarbeit von Fachkräften. Auf der Webseite Klicksafe.de können noch weitere passende Quiz besucht und genutzt werden, so zum Beispiel eines zum Thema Falschinformation.

Etwas stört die zentrale Bedeutung der Thematik Covid-19, welche auf das Ursprungsjahr des Tools hinweist. Hier wäre es wünschenswert, dass die Produzent*innen eine neue Version anbieten, die aktuellere Beispiele für Verschwörungserzählungen enthält. Um noch mehr Klarheit in Bezug auf die Begriffe und Phänomene Verschwörungserzählung und reale Verschwörung herzustellen, könnten weitere Fragen gestellt werden. Beispielsweise wäre es spannend, wenn den Nutzer*innen verschiedene Ereignisse genannt werden, wobei dann jeweils zu realer Verschwörung oder Verschwörungserzählung zugeordnet werden muss. Hierbei könnte auch nochmal auf die zentralen Unterschiede (z.B. Aufklärung realer Verschwörungen durch Journalismus oder Geschichtswissenschaft) hingewiesen werden. Eine weitere Idee wäre noch mehr Fokus auf das Erkennen von Verschwörungserzählungen zu legen. So könnten Nutzer*innen die zentralen Merkmale einer Verschwörungserzählung aufzählen müssen.

Ähnlich wie bei anderen Tool-Tests müssen wir auch hier darauf hinweisen, dass das Quiz wohl nicht Menschen erreichen wird, die bereits über ein ausgeprägtes Verschwörungsdenken verfügen. Es setzt vielmehr auf eine interessierte, neugierige und offene Zielgruppe, die sich allein oder in der Gruppe zum Thema informieren möchte. Wir empfehlen das Quiz auch für die Arbeit im Politik-Unterricht der Schulen oder für die Politische Bildungsarbeit.

Demokratie leben! konkret

Symbolbild, Quelle: Marco Verch, CCNull.de

In der dritten Förderperiode des Bundesprogramms Demokratie leben! sind 2025 sieben Innovationsprojekte im Themenbereich „Verschwörungsdenken und weitere demokratiefeindliche Phänomene“ gestartet. Wir stellen Sie Ihnen in diesem und dem nächsten Newsletter vor.

„Wir als Spielball von denen da oben!?“ ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Humanistischen Jugendwerk Cottbus e.V. und BildungsBausteine e.V. und richtet sich an pädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte, Jugendliche, junge Erwachsene sowie engagierte Akteur*innen der Zivilgesellschaft. Ziel ist es, Handlungssicherheit im Umgang mit Verschwörungserzählungen zu fördern, Medienkompetenz zu stärken und demokratische Werte zu verteidigen. Durch Fortbildungen, Workshops und interaktive Methoden unterstützt das Projekt dabei, Wissen zu vermitteln, Haltung zu reflektieren und vielfältige Reaktionsmöglichkeiten im pädagogischen Alltag zu entwickeln. Im Verlauf des Projektes sollen Fortbildungen auch in Sachsen angeboten werden und am Ende auch eine Methodenveröffentlichung entstehen, die einen Schwerpunkt auf den Umgang mit Verschwörungserzählungen in Sozialen Medien legt.

„Ökonomische Mythen und Projektion – Präventive Bildungsarbeit gegen wirtschaftlich begründeten Antisemitismus“ ist ein Projekt von HATiKVA e.V. – Die Hoffnung, Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen. Kernzielgruppe sind Fachkräfte in der Jugendarbeit. Zunächst wird eine Situations- und Bedarfsanalyse vorgenommen, um passende Methoden und Hilfestellungen zu entwickeln, zu erproben, zu publizieren und in Regelstrukturen zu transferieren. Die Fachkräfte sollen antisemitische und verkürzte Kapitalismuskritik im beruflichen Kontext erkennen und handlungssicher damit umgehen.

TRUST HUB – Hybrid. Vertrauen. Bilden“ ist ein Projekt von Drudel 11 e.V. in Jena mit der Hauptzielgruppe Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Weil zunehmend krisenhafte Vertrauensbeziehungen die Anfälligkeit für Verschwörungsdenken begünstigen, braucht es Konzepte zum Thema Vertrauen in der Bildungsarbeit. An die jeweiligen Bedarfe anpassbare Workshopeinheiten zur Stärkung von Vertrauen als Selbst- und Sozialkompetenz und zur Irritation von Verschwörungsdenken werden entwickelt und umgesetzt.

Hilft Künstliche Intelligenz gegen Verschwörungsdenken? ein kritischer Selbstversuch

Quelle: Bruce Mars, unsplash.com

KI oder Künstliche Intelligenz breitet sich in unserer heutigen Arbeits- und Freizeitwelt immer mehr aus. Während noch für fünf Jahren die meisten eine Information über eine Suchmaschineneingabe oder das Nachlesen bei Wikipedia abgerufen haben, dürften heute schon viele Menschen KI-Chatbots wie beispielsweise ChatGPT von der Firma OpenAI aus Kalifornien verwenden. Auch bei der Datenanalyse hilft KI, so dass es beispielsweise möglich wird, das millionenfache Nutzer*innenverhalten im Internet binnen Sekunden live auszuwerten. Helfen uns diese Entwicklungen, um neue Strategien oder Ansätze zu bilden, mit Verschwörungserzählungen besser zurecht zu kommen? Oder birgt das KI-Zeitalter sogar mehr Gefahren?

Wer schon einmal den Selbstversuch mit ChatGPT gestartet hat, den KI-Chatbot nach der Wahrheit beziehungsweise Plausibilität einer beliebigen Verschwörungserzählung zu fragen, wird vielleicht von zwei Dingen überrascht gewesen sein: Zum einen, fällt auf, mit welcher empathischen und sachorientierten Gesprächsform die KI auf unsere Verschwörungserzählung reagiert. Wenn man an die Wahrheit dieser glaubt, wird man von der KI ernst genommen, die eigenen Sichtweisen oder Argumente werden bewusst in die Gegenrede der KI eingebaut. Somit verliert sich das Gefühl, dass man selbst nicht zum Nachdenken beziehungsweise kritischen Denken befähigt ist. Zum anderen, kann die KI mit einem sehr großen Fundus an Wissen über die Verschwörungserzählung überzeugen.  Selbst Nachfragen zu Sachverhalten, die eigentlich nur in der Szene von Verschwörungsüberzeugten bekannt sind, werden von der KI reflektiert und konsequent beantwortet. Zudem werden immer wieder spannende Hintergrundartikel wie Studien, englischsprachige Zeitungsartikel oder TV-Dokumentationen erwähnt und verlinkt. Es besteht also wirklich eine Chance, dass KI-Chatbots Menschen dabei helfen können, die Echtheit einer Verschwörungserzählung zu überprüfen. Generierte Inhalte durch ChatGPT können allerdings auch Fehler enthalten oder unvollständig sein. Eine Nutzung sollte immer mit kritischem Sachverstand erfolgen.

Mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit, dass Nutzer*innen durch ChatGPT in eine kritische Distanz zu Verschwörungstheorien gebracht werden, bleibt anzumerken: Einerseits ist es unwahrscheinlich, dass eine sehr überzeugte Person bewusst nach Gegenerzählungen sucht, da sie eine tiefe intrinsische Motivation besitzt, der eigenen Erzählung zu glauben. Andererseits ist der Grund, weshalb ChatGPT so auf uns reagiert, schlicht in der Art der Programmierung zu finden. Sowohl der Stil der KI als auch ihr generiertes Wissen basieren auf den Programmiervorgaben der Produzent*innen. Und hier gilt: Je mehr ein Produzent ein Problembewusstsein für Falsch- und Desinformation besitzt, desto wahrscheinlicher ist eine kritische Datenverwendung. Die Firma OpenAI achtet bewusst darauf, dass ChatGPT nicht dafür verwendet wird, um KI-erstellte Texte oder Bilder für staatliche oder nicht-staatliche Desinformationskampagnen zu nutzen. Im Frühjahr 2025 berichteten verschiedene Medien, u.a. das Handelsblatt, dass OpenAI entsprechende Kampagnen aus Russland oder dem Iran gestoppt habe.

Dass es auch anders ginge, zeigt das Beispiel der relativ neuen KI aus dem Hause Elon Musk. Grok von der Firma xAI wird derzeit sowohl via X (ehemals twitter) als auch in Form einer Smartphone-App oder Webseite angeboten. Der Selbstversuch des Autors mit Grok und der Überprüfung einiger bekannter Verschwörungserzählungen ergab, dass auch hier die KI sehr freundlich und sachbezogen antwortet. Zugleich werden hier durchaus auch Argumente der Verschwörungsüberzeugten dargestellt und nicht sofort verworfen. Wer die Antworten von Grok mit einer grundsätzlich offenen Haltung liest, kommt am Ende dennoch wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass die Echtheit vieler bekannter Verschwörungserzählungen in Zweifel zu ziehen ist. Wer aber mit einer gewissen Neigung zu Verschwörungserzählungen mit Grok spricht, kann hier auch Bestätigung für sein Denken finden. Grok erwies sich im Selbstversuch nicht unbedingt gefährlicher als ChatGPT, zeigte aber, dass das Antwortverhalten der KI durchaus veränderbar ist. Anders als OpenAI besitzt Grok eine direkte Schnittstelle zur Plattform X und integriert Millionen von Postings auf X bei der Generierung von Antworten. Seit der Übernahme von twitter durch Elon Musk und die Umbenennung der Plattform in X stieg die Anzahl extremistischer Inhalte laut Verfassungsschutz Baden-Württemberg enorm an.

Ein Artikel des Schweizer Fernsehens vom 20. Mai 2025 befasst sich mit dem Vorwurf, dass Inhalte von Grok direkt durch Mitarbeitende der Musk-Firma xAI beeinflusst werden. Konkret ging es um das Thema eines angeblichen Suizids an weißen Farmern in Südafrika sowie um Kritik an der neuen Trump-Regierung in den USA. Musk und xAI bestritten dies und machten das individuelle, aber nicht systematische Fehlverhalten von Mitarbeitenden der Firma verantwortlich. Aber auch gegenüber ChatGPT von OpenAI gibt es Kritik. Die Tagesschau berichtete am 24. März 2025 über massenhafte Versuche, das Antwortverhalten von ChatGPT durch russische Desinformation zu beeinflussen. Dabei wird offenbar ausgenutzt, dass ChatGPT seine Antworten durch das Scannen und Analysieren von Webseiten-Inhalten generiert. Der Vorwurf lautete, dass das russische Pravda-Netzwerk extra Webseiten-Inhalte so erstellt, dass diese weniger von echten Nutzer*innen, dafür aber von KI-Chatbots wahrgenommen werden. Beide Beispiele machen deutlich: KI ist fehleranfällig und kann manipuliert werden.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass gemäß einer Umfrage des Allensbach Instituts bereits 25% der Deutschen KI-Systeme wie ChatGPT nutzen, sollte die Bildungs- und Beratungsarbeit sowohl Chancen als auch Risiken in der Nutzung von KI im Kontext Verschwörungsdenken sehen. Vorstellbar wäre zum Beispiel, gemeinsam mit einem Klienten oder mit Teilnehmenden mit Hilfe von KI das Antwortverhalten zu Verschwörungserzählungen zu betrachten und auszuwerten. Dass KI durchaus hilfreich sein kann, zeigt aktuell das Tool www.debunkbot.com. Hier haben Wissenschaftler*innen amerikanischer Universitäten einen extra Chat-Bot geschaffen, der zum Dialog über die Wahrheit von Verschwörungserzählungen einlädt. Wenn man in der Dateneingabe beim Start angibt, dass man das Tool zu Testgründen nutzt, lässt sich ebenso ein Selbstversuch machen. Kleiner Tipp: Geben Sie dabei an, dass Sie Ihre Antwort in deutscher Sprache benötigen.

AfD fordert Förder-Stopp: Diese Stiftungs-Projekte sind gefährdet

Die AfD hat im Bundestag einen Antrag gestellt, der die staatliche Förderung der Amadeu Antonio Stiftung beenden soll. Die Konsequenzen wären weitreichend: Vor allem vier Projekte der Stiftung, die unmittelbar demokratisches Engagement, politische Bildung und den Schutz von Betroffenen stärken, stünden auf der Kippe.

Die Arbeit der Stiftung ist vielfältig: Sie fördert und begleitet Initiativen vor Ort, stärkt Engagierte, berät Schulen, Kommunen und Jugendgruppen, führt Workshops und Fachveranstaltungen durch und erstellt wissenschaftlich fundierte Publikationen. Auf diese Weise schafft die Stiftung Strukturen, die Demokratie, Toleranz und Menschenrechte stärken.

Die Stiftung ist anerkannter und geprüfter Träger der politischen Bildung, bewirbt sich mit pädagogischen Konzepten auf Ausschreibungen und wird regelmäßig wissenschaftlich evaluiert. Der Abschlussbericht 2020–2024 des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ bestätigt die erfolgreiche Förderung demokratischer Strukturen, die Erhöhung der Resilienz gegen extremistische Tendenzen, die Gestaltung von Vielfalt und die Förderung von Innovationen. Kurz gesagt: Die Arbeit der staatlich geförderten Projekte ist wirksam. Genau deshalb sind sie den Rechtsextremen ein Dorn im Auge.

Wir stellen die vier Projekte der Stiftung vor, die in erster Linie von einem Entzug der Fördermittel betroffen wären:

Kooperationsverbund Rechtsextremismusprävention (KompRex) gebündelte Expertise

Wie begegnet man wachsendem Hass, rechtsextremer Propaganda und Desinformation im Alltag? Genau hier setzt der Kooperationsverbund Rechtsextremismusprävention (KompRex) an. Unter der Koordination der Amadeu Antonio Stiftung arbeiten sechs bundesweit erfahrene Organisationen zusammen, um Politik, Schulen, Medien und Verwaltung zu beraten, fortzubilden und handlungsfähig zu machen – überall dort, wo rechtsextreme Strukturen und Ideologien sichtbar werden.

Der Kooperationsverbund sorgt dafür, dass Menschen wissen, wie sie rechtsextremen Einfluss erkennen und ihm wirksam entgegentreten können. Dazu gehören regelmäßige Sicherheitssprechstunden für bedrohte Initiativen, Beratung für Schulen und Kommunen, die mit rechtsextremen Jugendgruppen konfrontiert sind, und die Entwicklung praxisnaher Konzepte für den Umgang mit aktuellen Herausforderungen.

Als Russland 2022 die Ukraine überfiel, war der Verbund eine der ersten Stellen, die auf Desinformationskampagnen und pro-russische Narrative hinwies, die auch von deutschen Rechtsextremen verbreitet wurden. Heute – wo bekannt wird, dass rechtsextreme Akteur*innen gezielt versuchen, parlamentarische Prozesse zu missbrauchen – zeigt sich, wie wichtig diese Arbeit ist: Frühzeitige Aufklärung schützt unsere Demokratie.

Der Kooperationsverbund Rechtsextremismusprävention (KompRex) wird Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ durch das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) gefördert.

Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus – der bundesweit größte Zusammenschluss gegen Judenhass

Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus sind das bundesweit größte Bündnis für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Judenhass. Seit 2003 setzt die Stiftung gemeinsam mit dem Anne Frank Zentrum ein starkes Zeichen für Aufklärung, Empathie und Zusammenhalt. Seit dem Beschluss des Kabinettausschusses gegen Rechtsextremismus und Rassismus im Jahr 2021 sind die Aktionswochen fest im Bundeshaushalt verankert – als dauerhaftes Signal staatlicher Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus. Jedes Jahr vernetzt das Projekt hunderte Initiativen, jüdische Gemeinden und Organisationen in ganz Deutschland. 2025 werden über 200 Veranstaltungen in 60 Städten sowie eine bundesweite Plakatkampagne an über 1.000 Standorten stattfinden. Angesichts des Anstiegs antisemitischer Vorfälle seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel ist diese Arbeit wichtiger denn je. Die Aktionswochen leisten bundesweit Aufklärung, Prävention und Vernetzung – und sind heute ein zentraler Pfeiler der Antisemitismusbekämpfung in Deutschland.

Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus werden gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, der im Bundesministerium des Innern (BMI) angesiedelt ist.

Good Gaming Support – Bildungs- und Beratungsarbeit in digitalen Spielräumen

Digitale Spielräume sind längst ein zentraler Teil unserer Alltagskultur – Millionen Menschen begegnen sich dort täglich. Doch auch hier breiten sich Hass, Rassismus und Antisemitismus aus. Das Projekt Good Gaming Support der Amadeu Antonio Stiftung setzt genau hier an: Es stärkt demokratische Werte im Gaming, unterstützt engagierte Spieler*innen, Streamer*innen und Entwickler*innen – und schützt sie vor Anfeindungen.

Das Team berät, bildet fort und sensibilisiert – damit Gaming-Communities zu sicheren, offenen und respektvollen Räumen werden. In Kooperation mit großen Partnern wie der Gamescom, dem Deutschen Computerspielpreis oder Magazinen wie PC Games und GameStar bringt das Projekt demokratische Haltung und gesellschaftliche Verantwortung sichtbar in die Branche.

Zugleich qualifiziert Good Gaming Support Multiplikator*innen, Politiker*innen und Behörden darin, das demokratische Potenzial von Games zu erkennen und digitalem Hass entschieden entgegenzutreten. Auch im digitalen Raum braucht Demokratie starke Verbündete – und genau das leistet dieses Projekt jeden Tag.

Das Projekt Good Gaming Support wird Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ durch das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) gefördert.

Entschwörung lokal – Verschwörungsdenken erkennen, Handlungsspielräume erweitern

Verschwörungserzählungen sind längst mitten in unserer Gesellschaft angekommen. Sie spalten Familien, säen Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen – und schaffen den Nährboden für Hass und Ausgrenzung. Besonders Erwachsene sind anfällig, denn wo Meinungen gefestigt sind, ist es oft schwer, neue Perspektiven zu eröffnen.

Genau hier setzt Entschwörung lokal an. Das Projekt stärkt Vereine und Verbände – also genau jene Orte, an denen Menschen sich begegnen, engagieren und miteinander im Gespräch bleiben. Sie sind entscheidend, wenn es darum geht, Desinformation und Verschwörungsglaube im Alltag etwas entgegenzusetzen.

Entschwörung lokal bietet praxisorientierte Workshops, Trainings und Beratungen für Haupt- und Ehrenamtliche, die vor Ort Verantwortung übernehmen. Ob in Sportvereinen, Freiwilligendiensten oder Kommunalprojekten: Das Team unterstützt Engagierte dabei, Verschwörungsnarrative zu erkennen, zu entschlüsseln und selbstbewusst darauf zu reagieren.

Das Projekt hilft, demokratische Resilienz zu stärken, Handlungssicherheit zu gewinnen und in hitzigen Debatten ruhig und klar zu bleiben – gerade in Zeiten, in denen Fakten oft in Frage gestellt werden. Demokratie braucht Menschen, die einander zuhören, aufklären und Brücken bauen – genau das leistet Entschwörung lokal.

Das Projekt Entschwörung lokal wird gefördert durch das Bundesministerium des Innern (BMI) im Rahmen des Bundesprogramms „Zusammenhalt durch Teilhabe“.

Es geht um mehr als nur Projekte

Die Beendigung der staatlichen Finanzierung würde nicht nur ein einzelnes Projekt betreffen, sondern die Systemrelevanz der Demokratieförderung insgesamt. Die geförderten Projekte, die der Demokratieförderung dienen, stehen den antipluralistischen und antidemokratischen Vorstellungen der Rechtsextremen diametral entgegen. Sie beraten, bilden, schützen, helfen – und tragen so unsere Demokratie.

Umso wichtiger ist es deshalb jetzt, Anträge und Redebeiträge, die zivilgesellschaftliche Organisationen diffamieren oder delegitimieren, entschieden zurückzuweisen. Politik muss verlässliche Rahmenbedingungen für dieses Engagement schaffen – sie muss es schützen und als unverzichtbare Säule der Demokratie anerkennen. Demokratiearbeit ist kein Luxus,

Interview

So werden Projekte der Amadeu Antonio Stiftung von Rechtsaußen angegriffen

Dr. Nikolas Lelle leitet die Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung, Quelle: Noah Cohen

Seit Wochen sind die Amadeu Antonio Stiftung und ihre Projekte wieder einmal Ziel rechtsextremer Kampagnen. Die AfD hat im Bundestag beantragt, die Förderung der Stiftung durch Bundesmittel zu stoppen. Gleichzeitig hetzen rechtsalternative Medien wie Nius oder Apollo News gegen die Stiftung. Dabei geht es nicht um einzelne Kritikpunkte, sondern um eine politische Strategie: Rechtsaußen will die demokratische Zivilgesellschaft schwächen, indem Akteur*innen der Antisemitismusbekämpfung diskreditiert werden. Sie schaffen eine Atmosphäre des Misstrauens – und das trifft nun auch die „Aktionswochen gegen Antisemitismus“.

Von Stefan Lauer

Ein Gespräch mit Dr. Nikolas Lelle, Leiter der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung, über eine Kampagne von Rechtsaußen, Gegenwind bei der Antisemitismusbekämpfung und die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements.


Nikolas Lelle leitet seit 2020 die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus bei der Amadeu Antonio Stiftung. Er beschäftigt sich vornehmlich mit Antisemitismuskritik, Erinnerungskultur und Gesellschaftstheorie. Er hat in Frankfurt am Main und Mainz Philosophie und Soziologie studiert und an der HU Berlin promoviert. Zuletzt erschien von Lelle „,Arbeit macht frei’. Annäherungen an eine NS-Devise“. 2026 kommt „Antisemitismus definieren. Eine Anleitung zum Abgrenzen“ zusammen mit Tom Uhlig.


Immer mehr Desinformation, Antisemitismus in allen politischen Lagern: Unter welchen Eindrücken finden die Aktionswochen im Herbst 2025 statt? Was ist der aktuelle Stand in Sachen Antisemitismus in Deutschland?
Nikolas Lelle: Wir haben die Aktionswochen gegen Antisemitismus dieses Jahr am 7. Oktober eröffnet. Das heißt, genau zwei Jahre nach dem islamistischen Massaker der Hamas in Israel. Man hat an diesem Jahrestag einerseits gespürt, dass zwei Jahre antisemitische und antiisraelische Mobilisierung in Deutschland verheerende Folgen hatten: Im öffentlichen Raum sieht man sehr viele antisemitische Graffitis, an den Hochschulen findet man israelfeindliche Flyer, Schmierereien und aggressiven Aktivismus, Jüdinnen und Juden mussten sich in die Unsichtbarkeit zurückziehen. Und antisemitismuskritisches Engagement findet oft nur noch unter großen Sicherheitsrisiken statt.

Gleichzeitig sind wenige Tage nach der Eröffnung der Aktionswochen die israelischen Geiseln freigekommen, die noch in Gaza und am Leben waren. Es gab einen Waffenstillstand. Das heißt, es war auch eine Zeit, die Hoffnung gemacht hat. Seitdem kann man ein bisschen Aufatmen spüren.

Die Aktionswochen 2025 vereinen beides. Sie fokussieren sich auf die antisemitische Mobilisierung da draußen, erklären, warum diese so gut funktioniert, und geben gleichzeitig Hoffnung. Denn sie zeigen, dass es durchaus auch sehr viele Leute in Deutschland gibt, die etwas gegen Antisemitismus tun wollen. Die Aktionswochen sind der größte zivilgesellschaftliche Zusammenschluss, um genau denen ein Dach zu geben.

Nun geraten die Aktionswochen selbst ins Visier. Was passiert da genau?
Nikolas Lelle: Wir erleben, dass rechtsalternative und zum Teil rechtsextreme Kampagnenportale immer wirkmächtiger werden, und die Aktionswochen geraten dabei auch unter die Räder. Nius oder Apollo News blasen seit etlichen Wochen, wenn nicht seit Monaten, aktiv gegen die demokratische Zivilgesellschaft. Das Ziel ist, Engagement für eine offene Gesellschaft in ein fragwürdiges Licht zu rücken, es dann zu diffamieren und letztlich zu attackieren. Die Amadeu Antonio Stiftung war dabei immer im Blickfeld. Im Rahmen der aktuellen Kampagnen gegen die Stiftung geraten jetzt aber auch die Aktionswochen gegen Antisemitismus unter Beschuss von Rechtsaußen. Die Kampagne diskreditiert die Arbeit der Stiftung. Das Ziel: die Förderung von staatlichen Geldern in Frage stellen.

Bemerkenswert ist das auch deswegen, weil es sich um Leute handelt, die angeblich etwas gegen Antisemitismus und Judenhass tun wollen?
Nikolas Lelle: Genau. Und man muss ja sehen: Die Aktionswochen sind ein gemeinsames Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und des Anne Frank Zentrums, und das seit zehn Jahren. Sie vereinen auch das Engagement von sehr vielen jüdischen Gemeinden, Vereinen und Organisationen. Allein 2025 haben die Gemeinden aus Baden-Baden, Saarbrücken, Flensburg und Freiburg mitgemacht. Sie konnten ihr antisemitismuskritisches Engagement vor Ort realisieren, weil sie mit uns kooperiert und gemeinsam Veranstaltungen und Konzerte auf die Beine gestellt haben.

In der Kampagne wird ein anderes Bild der Amadeu Antonio Stiftung gezeichnet.
Nikolas Lelle: Ein falsches! Es wird geraunt, es handele sich um ein „linksextremes Netzwerk“. Das ist gefährlicher Unfug, wie man an den Aktionswochen gut sehen kann. Aber es schafft eine eigentlich interessante Irritation. Wir stellen ja gerade seit dem 7. Oktober fest, dass in vielen linken Kreisen Antisemitismus und Antizionismus als eine Art politischer, kultureller Code in Mode gekommen ist. Angesichts dessen freuen wir uns über Initiativen aus einem eher linken Milieu, die sich gegen Antisemitismus engagieren, die gemeinsam mit bürgerlichen oder konservativen Menschen dem Judenhass in diesem Land etwas entgegensetzen. Auch den in ihrem Milieu.

Ist denn diese Kampagne erfolgreich? Fallen konservative Politiker*innen darauf rein?
Nikolas Lelle: Noch sehe ich das nicht. Das sind Angriffe von Rechtsaußen, und die muss man auch genau so bezeichnen. Ähnlich wie man Anträge der AfD grundsätzlich ablehnen muss, weil sie von einer rechtsextremen Partei kommen, würde ich mit diesen rechtsalternativen Portalen und ihren Kampagnen verfahren: Allein, weil es aus dieser Richtung kommt, sollte man es nicht allzu ernst nehmen. Es sind ja gerade diejenigen, die sonst lautstark behaupten, sie stünden an der Seite Israels, die hier die Antisemitismusbekämpfung erschweren.

Ob diese Kampagne verfängt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Konservative Politiker*innen sind in der Pflicht zu zeigen, dass sie sich von diesem Druck von Rechtsaußen nicht beeinflussen lassen. Zuletzt gab es in dieser Frage auch hoffnungsvolle Signale.

Was sind denn die Aktionswochen gegen Antisemitismus und wo kommt die Idee dafür her?
Nikolas Lelle: Die Aktionswochen sind ein bewährtes Projekt mit einer langen Geschichte. Die Amadeu Antonio Stiftung wurde 1998 gegründet. Im Ausgang der Baseballschlägerjahre waren zwar Rechtsextremismus und Rassismus Themen, aber die Stiftung stellte fest, dass über den Antisemitismus dieser Rechtsextremen wenig nachgedacht wurde. 2003 organisierte die Stiftung das erste große Vernetzungstreffen mit lokalen Initiativen, jüdischen Gemeinden und bundesweiten Organisationen. Das Ergebnis war eine gemeinsame Entscheidung, die bis heute trägt: Rund um den 9. November wird eine koordinierte, bundesweite Veranstaltungsreihe auf die Beine gestellt, die den Blick auf den Antisemitismus heute richtet. Das waren die ersten Aktionswochen. Zum damaligen Hintergrund gehörten auch die Terroranschläge des 11. September 2001 und die antisemitischen Mobilisierungen, die seitdem auf deutschen Straßen stattfanden.

Seitdem finden bundesweit Veranstaltungen im Rahmen der Aktionswochen statt – mittlerweile nicht nur rund um den 9. November, sondern jetzt auch um den 7. Oktober, dem Jahrestag des Massakers in Israel, und den 9. Oktober, den Jahrestag des Anschlags in Halle. Seit fast zehn Jahren wird das Projekt aus Bundesmitteln gefördert und ist eine Kooperation von Amadeu Antonio Stiftung und Anne Frank Zentrum. Und wir tun ja noch viel mehr: Wir schreiben zivilgesellschaftliche Lagebilder zu Antisemitismus, veröffentlichen Faltblätter wie das neueste zur Frage wie man Antisemitismus definieren kann, halten Vorträge, geben Workshops und veröffentlichen jedes Jahr eine Plakatkampagne, die über aktuelle Formen des Antisemitismus aufklärt.

Wie hat sich das bis heute entwickelt?
Nikolas Lelle: Die Aktionswochen sind heute größer denn je: Über 200 Veranstaltungen fanden 2025 in 60 Städten statt. Die Plakatkampagne rückte dieses Jahr das Engagement gegen Antisemitismus ins Blickfeld und betont: Wir können alle etwas tun. Sich gegen Antisemitismus zu engagieren, ist gar nicht so schwierig. Diese Plakatkampagne, gerichtet gegen Schmierereien an den Wänden, gegen Hass und Hetze im Internet, aber auch gegen Anfeindungen im Bus oder auf der Straße, hing an über 1000 Standorten in 36 Städten. Unser Trailer lief bundesweit in Kinos.

Es steht also viel auf dem Spiel?
Nikolas Lelle: Das alles ist ohne Förderung nicht möglich. Unsere Rolle, also die des Anne Frank Zentrums und der Amadeu Antonio Stiftung, besteht darin, Bildungsmaterialien zu entwerfen, Workshops zu geben, die Kampagne zu organisieren, aber eben auch zu koordinieren und Kooperationen zu vermitteln, damit diese bundesweite Veranstaltungsreihe stattfinden kann. Ohne Fördermittel des Bundes wäre das nicht mehr möglich. Es wäre an sehr vielen Orten das Ende der Aktionswochen. Und es würde bedeuten, dass zahlreiche antisemitismuskritische Initiativen und Akteure, auch viele jüdische, ihre Arbeit nicht mehr verrichten könnten wie bisher.

Gibt es konkrete Beispiele von Veranstaltungen der Aktionswochen, die zeigen, was da eigentlich gerade attackiert wird?
Nikolas Lelle: Das Besondere ist die Vielfältigkeit. Wir vereinen ganz verschiedene Formate. In Flensburg klärt die Jüdische Gemeinde in einem Vortrag über die jüdische Geschichte der Stadt auf. In Baden-Baden organisierte die Israelitische Kultusgemeinde ein Konzert gegen Antisemitismus. An der HU Berlin fand eine Führung zur Geschichte des Antisemitismus an der Uni statt. Wir haben jüdisches Puppentheater für Kinder und Jugendliche im Programm, Theaterstücke, Konzerte, kleine Festivals, Stolpersteinverlegungen, Vorträge und Workshops. Was ich sagen will: Die Formate sind vielfältig und beantworten lokale Fragen. Genau dort, wo vor Ort der Schuh drückt, wo es brennt, wo interveniert werden muss oder wo eine Leerstelle erkannt wird – all das bearbeiten die Aktionswochen.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

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