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Gute Nachrichten

“Es reicht, es muss sich gehörig was ändern!” Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus 2021 starten

Mit 150 Veranstaltungen in allen Bundesländern und digital sowie einer bundesweiten Plakat- und Online-Kampagne machen die Aktionswochen in den kommenden Wochen auf den alltäglichen Antisemitismus aufmerksam und machen deutlich: Es reicht! Es muss sich gehörig was ändern! 

Seit 2003 und auch in diesem Jahr machen die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus mit einer bundesweiten Kampagne und zahlreichen Veranstaltungen den antisemitischen Alltag in Deutschland sichtbar, zeigen Möglichkeiten auf, was dagegen zu tun ist und unterstützen die Zivilgesellschaft in ihrem tagtäglichen Kampf gegen Antisemitismus.

Aber nach den Anschlägen in Halle und Hanau, nach den massiven antisemitischen Ausschreitungen der letzten Jahre im Mai 2021 unter dem Deckmantel der “Israelkritik” und auch nach zahlreichen Versuchen, die Errungenschaften der Anti-Antisemitismusbekämpfung rückgängig zu machen und einen Schlussstrich zu ziehen, lautet die Botschaft in diesem Jahr: machen und einen Schlussstrich zu ziehen, lautet die Botschaft in diesem Jahr: Ja, wir machen endlich Schluss. Schluss mit Antisemitismus und Schluss mit Shalom Deutschland: mit den Phrasendrescher:innen, die große Sonntagsreden schwingen und sich bei konkreten Handlungen zurückhalten, Schluss mit Goysplainer:innen, die Jüdinnen:Juden erklären, was Antisemitismus ist und auch Schluss mit den Israelkritiker:innen, die angeblich nichts gegen Juden haben, aber Israel von der Landkarte tilgen wollen.

Und das alles im Jahr 2021, eigentlich einem Festjahr: Gefeiert werden 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Die Stimmung wird aber getrübt. 2021 ist ein Festjahr mit Beigeschmack. Gleichzeitig waren aber auch die 1699 Jahre jüdisches Leben in Deutschland vor der Corona-Pandemie – gelinde gesagt – nicht einfach. Denn Antisemitismus hat eine lange Geschichte, Verfolgungen, Vertreibungen, Morde prägen die deutsch-jüdische Geschichte.

Vielleicht ist das Festjahr aber auch gerade durch die aktuelle Gleichzeitigkeit von alltäglichem Antisemitismus und resilientem jüdischem Leben repräsentativ für die letzten 1700 Jahre: Ja, es gibt jüdisches Leben in Deutschland, es gibt jüdische Perspektiven und es gibt auch Verbündete, die sich gegen Antisemitismus engagieren, trotz alledem. Deshalb senden die Aktionswochen gleichzeitig ein <3 Shalom Deutschland <3 an diejenigen, die tagtäglich gegen diesen Antisemitismus kämpfen. Wir brauchen Standhafte und Verbündete, – wie euch – mit denen wir Schulter an Schulter gegen Antisemitismus stehen und ohne die wir unsere Arbeit nicht machen könnten.

Aus Gesprächen mit v.a. jüdischen Netzwerk- und Kooperationspartner:innen wurde diese Stimmung deutlich und floss in die Kampagnengestaltung mit ein. “Es reicht, es muss sich gehörig was ändern!“, erläutert der Projektleiter der Aktionswochen Nikolas Lelle. “Nach Hanau, nach Halle, nach antisemitischen Ausschreitungen darf sich niemand ausruhen und denken, wir hätten Antisemitismus im Griff. Es muss mehr passieren. Die jüdische Community findet sich zwischen Lobhudelei und Ignoranz wieder.” Das Ziel der Aktionswochen ist es also weiterhin den jüdischen Perspektiven Sichtbarkeit zu verschaffen. “Wo Anschläge wie Halle erst Monate her sind, kann Harmonie auf Knopfdruck keine Realität sein. Stattdessen blicken wir auf die Praktiken jüdischer Widerständigkeit, die jüdisches Leben in diesem Land überhaupt erst ermöglicht haben”, erläutert Lelle.

Diese Haltung spiegelt sich nicht nur in der Plakat- und Online-Kampagne, sondern auch in zahlreichen Kooperationsveranstaltungen, die im Rahmen der diesjährigen Aktionswochen stattfinden:

Eine Übersicht der weiteren Veranstaltungen, Hintergrundtexte zu den Plakaten, und erschienenen Publikationen im Rahmen der diesjährigen Aktionswochen finden Sie hier: www.shalom-deutschland.de

Bei Fragen wenden Sie sich an: aktionswochen@amadeu-antonio-stiftung.de

Stellungnahme

Die Bedrohungen gegen Jasmina Kuhnke sind Angriffe auf die Zivilgesellschaft

Die Schwarze Aktivistin und vierfache Mutter Jasmina Kuhnke setzt sich unter dem Social Media Synonym Quattromilf seit Jahren unentwegt und entschlossen gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit ein. Nun wurde ihre Adresse mit den Worten „Massakriert Jasmina Kuhnke“ veröffentlicht. Dies zwang sie und Ihre Familie aus der eigenen Wohnung zu fliehen und unterzutauchen.

Aktivist*innen, Politiker*innen und Organisationen, die offen die Zivilgesellschaft und demokratische Werte verteidigen, waren schon immer Ziel und Opfer von rechten Hetzkampagnen. Doch seit einigen Jahren müssen wir beobachten, wie sich menschenfeindliche Sprache im Netz derart etabliert, dass Menschen von Rassist*innen und der extremen Rechten offen bedroht und sogar körperlich angegriffen werden.

Die Verteidigung von Menschenrechten und Aktionen, sind schon Anlass für Hass und Hetze. Dabei werden Menschen, nach dem Geist des Grundgesetzes, die für die Demokratie und das Gleichwertigkeitsprinzip einstehen, zum Feindbild gemacht.

Insbesondere Frauen werden besonders häufig attackiert und gelten den Angreifer*innen als Dorn im Auge: Das Frauenbild der extremen Rechten reagiert besonders hasserfüllt auf Frauen, die sich für emanzipatorische Werte engagieren.

Ein aktuelles und besonders brutales Beispiel ist die Markierung der Frau und Mutter Jasmina Kuhnke als Zielscheibe. Nach dem jahre langem Engagement der Schwarzen Aktivistin, wurde sie nicht nur rassistisch und antifeminitsich attackiert, ihre Adresse wurde veröffentlicht und schließlich erhielt sie Morddrohungen mit dem Aufruf „Massakriert Jasmina Kuhnke“. Daraufhin musste sie mit ihrer sechsköpfigen Familie fluchtartig ihre Wohnung verlassen und schließlich umziehen. Dabei musste sie nicht nur die gesamten Kosten des Unttertauchens zahlen, sondern ebenso die Anwält*innen zur Verfolgung der Straftaten und zur Durchsetzung des Polizeischutzes.

Als seien die Anfeindungen der extremen Rechten nicht genug, kamen im Falle von Jasmina Kuhnke auch noch rechtskonservative Medien hinzu, die durch Behauptungen wie „der Kampf gegen Rassismus sei für Betroffene und Unterstützer*innen zum lukrativen ‚Geschäftsmodell‘ geworden“, die Wut und Gewaltphantasien jener Personen befeuerten, die nur allzu bereit waren Worten auch Taten folgen zu lassen.

Besonders skandalös ist, dass die Polizei die Bedrohung nicht ernst genommen und Hilfe abgelehnt hat. Es kann nicht sein, dass engagierte Personen wie Jasmina Kuhnke vom Staat nicht beschützt werden. Es sollte nach den Fällen von Hanau, Halle und dem Mord an Walter Lübcke auch der Polizei bekannt sein, dass Rechtsextremist*innen durchaus dazu in der Lage sind, Menschen zu töten. Diese unterlassene Hilfeleistung ist sowohl ein Skandal gegenüber Jasmina, aber auch gegenüber allen, die sich gegen Rechtsextremismus exponieren.

Doch Aktivist*innen wie Jasmina Kuhnke sind keine Opfer, sie sind Held*innen. Auch weil sie und viele andere aktivistische Mütter nicht nur sich selbst schützen müssen, sondern ebenso die Sicherheit ihrer Familien verantworten, ist der Schutz dieser tapferen Frauen auch unsere Verantwortung.

Deshalb unterstützen wir den Spendenaufruf unter dem Motto „SHEROES Fund“, die Aktivist*innen wie Jasmina Kuhnke unterstützen soll, die durch das fluchtartige Untertauchen, die Finanzierung von Anwält*innen und den zeitgleichen Umzug Kosten von 50.000€ tragen musste. Nachdem das Fundraising-Ziel von 50.000 € für die Unterstützung von Jasmina Kuhnke erreicht ist, soll der “Sheroes Fund” ebenso andere Sheroes unterstützen.

Sie und viele andere Sheroes werden nicht die Letzten sein, die im Kampf gegen Menschenfeindlichkeit Bedrohungen erfahren werden und keine von ihnen sollte allein gelassen werden. Deshalb rufen wir jede Person dazu auf, den Aufruf mitzutragen und zu spenden!

Unter dem Link finden Sie den Spendenaufruf und die Beschreibung zu Jasmina Kuhnkes Situation.

https://www.betterplace.org/de/projects/93203-deine-spende-fuer-shero-jasmina-kuhnke

Illustrationscredits: Beno Meli

Stellungnahme

Zum Safer Internet Day 2021: Für ein Internet, in dem sich alle sicher fühlen!

Verschwörungsideologien in Sozialen Netzwerken mobilisieren Menschen. Der “Sturm auf das Kapitol” in den USA und ein halbes Jahr davor der „Sturm auf den Reichstag“ hier in Berlin haben das gezeigt. Online-Hetze, Desinformation und Radikalisierung kann sehr reale und tödliche Folgen haben. In Christchurch, Neuseeland, tötete im Januar 2019 ein online radikalisierter Täter 51 Menschen und streamte die Tat live in Sozialen Netzwerken. Und es gab Folgetaten: die Attentate von Halle im Oktober 2019 und Hanau im Februar 2020 sind Beispiele dafür.

Neben Facebook, Youtube und Co. ist besonders Telegram ein Hotspot für die Verbreitung von Verschwörungsmythen und die Markierung von politischen Feind*innen. Was dieses hybride Medium besonders macht: Es gibt so gut wie kein Handeln der Betreiber*innen – keine Moderation, keine Sperrungen, keine Löschungen. In Kanälen mit zum Teil mehr als 100.000 Abonnent*innen, verbreiten Akteur*innen der extremen Rechten und Verschwörungsideolog*innen die Adressen von politischen Gegner*innen oder ihre Dienstanschriften. Wir wissen, dass sich Berliner Jüdinnen und Juden von den Inhalten in Atilla Hildmanns Telegram-Kanal mit rund 114.000 Abonnent*innen bedroht fühlen.

Was macht digitale Gewalt mit den betroffenen Organisationen und Einzelpersonen?

Menschen, die von solchen Anfeindungen betroffen sind, ziehen sich zurück, äußern sich weniger in Sozialen Netzwerken. So sind engagierte Frauen besonders häufig von misogynen Attacken betroffen. Die Täter veröffentlichen Telefonnummern, Mailadressen und private Anschriften – wir sprechen hier von „Doxing“. Viele Betroffene lassen sich dazu drängen, ihre Social Media-Profile zu schließen oder geben beispielsweise ihren Beruf auf. So ein Rückzug bedeutet: Den Betroffenen wird ein Teil ihres Lebens- und Informationsraums genommen. Die Folgen können wie bei anderen Gewalterfahrungen traumatisch sein. Sie reichen von Stress, Angst, Unruhe bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken. Doch auch erzwungene Umzüge oder Arbeitsplatzverluste sind sehr konkrete, schwerwiegende Lebensveränderungen – selbst wenn es nicht zu offline-Gewalt kommt.

Was sind die Auswirkungen für unsere Gesellschaft als Ganze?

In einer Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft von 2019 haben 44% der Berliner Befragten angegeben, dass sie wegen drohender und tatsächlicher Hasskommentare seltener ihre politische Meinung bei Diskussionen im Internet einbringen. Auf Organisationsebene ist es übrigens so, dass zum Beispiel ganze Medienhäuser ihre Kommentarfunktion auf Plattformen oder ihrer Website abschalten. Hassrede ist somit eine Einschränkung der Meinungsvielfalt: Denn die Stimmen von marginalisierten und diskriminierten Gruppen fehlen zunehmend. So verschieben sich auch gefühlte Mehrheiten im Land.  Denn wenn sich ganze Gruppen von besonders häufig angefeindeten Menschen aus Angst von Diskussionen zurückziehen, fehlt ihre Perspektive. Das ist für die Meinungsvielfalt besonders deshalb problematisch, weil die Stimmen marginalisierter Gruppen schon per Definition im Diskurs unterrepräsentiert sind. Wir müssen daher gegensteuern.

Was können Zivilgesellschaft, Politik und Strafverfolgung tun?

Aus Sicht der Betroffenen ist bei strafbaren Inhalten ein schneller zuverlässiger Schutz und effiziente Strafverfolgung am Wichtigsten. Wir empfehlen deshalb, Ansprechpersonen zum Thema Digitale Gewalt bei Polizei und Staatsanwaltschaft zu benennen. An sie könnten sich Betroffene und Zivilgesellschaft wenden. Sinnvoll ist ebenso, wenn das Land Berlin eine Ansprechperson zu digitaler Gewalt benennt. Diese könnte eine Brückenfunktion zwischen Politik, Verwaltung, Strafverfolgung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft bilden.

Wir empfehlen, dass die Polizei proaktiv entsprechenden Kanäle, z.B. bei Telegram in Form von Online-Streifen in den Blick nimmt, auch um mögliche zukünftige Anschläge zu verhindern. Das wird aber nicht reichen: Online-Communities mit radikalisierenden Dynamiken gibt es im Internet überall. Es gibt aber auch überall Menschen, denen solche Aktivitäten auffallen. Bitte nehmen sie deren Warnungen ernst. Dafür ist aus unserer Sicht wichtig, dass Mitarbeitende aller Polizeidienststellen für das Thema digitale Gewalt sensibilisiert werden.

Transparenz und Wirksamkeit von Meldewegen verbessern: Viele Menschen wissen nicht, dass sie Online Anzeigen erstatten oder hetzerische Kommentare melden können. Hier benötigt es weitere Aufklärung. Zur Verbesserung der Prozesse empfehlen wir eine wissenschaftliche Evaluation.

Gegen Diskriminierung in digitalen Räumen hilft am Effektivsten zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit und Bildung. Deshalb bietet unser Projekt Workshops zu Gegenrede und Moderation an. Darüber hinaus braucht es aus unserer Sicht Digital Streetwork, also die 1-zu-1-Ansprache von radikalisierungsgefährdeten Personen.

Digitale Räume dürfen nicht als etwas betrachtet werden, das getrennt von der Offline-Welt funktioniert. Für Täter*innen wie Betroffene sind digitale Räume ein ganz normaler Lebensraum, der sich mit dem Offline-Bereich verschränkt. Menschenfeindlichkeit im digitalen Raum hat Auswirkungen auf die offline-Welt und andersherum. Betroffene von digitaler Gewalt verdienen die gleiche Anerkennung, Schutz und Unterstützung wie andere Gewaltopfer.

Das Internet muss endlich ein Ort werden, an dem sich alle Menschen sicher fühlen!

Unser Mitarbeiter Oliver Saal vom Projekt „Civic.net – Aktiv gegen Hass im Netz“ war am 20. Januar 2021 als Sachverständiger zur öffentlichen Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz beim Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Dies ist die gekürzte und redigierte Version seiner Rede.

Seit 2004 findet jährlich im Februar der internationale Safer Internet Day (SID) statt. Über die Jahre hat sich der Aktionstag als wichtiger Bestandteil im Kalender all derjenigen etabliert, die sich für Online-Sicherheit und ein besseres Internet engagieren.

Ausschreibung

Jetzt bewerben: Amadeu Antonio Preis 2025 mit neuer Ausrichtung gestartet

Die Preisträger*innen, Festredner*innen und Nominierten des Amadeu Antonio Preises 2023

Die Ausschreibung für den Amadeu Antonio Preis 2025 ist gestartet: Anlässlich des 35. Todestags von Amadeu Antonio werden am 18. November 2025 in Eberswalde Projekte gewürdigt, die sich mit Rassismus auseinandersetzen und für Menschenrechte und Diversität eintreten. Eine Jury entscheidet über den mit 3.000 Euro dotierten Hauptpreis und zwei weitere mit je 1.000 Euro dotierte Preise.

Neue Ausrichtung: Initiativen auch jenseits der Kunst, die Rassismus entgegentreten

Die Stadt Eberswalde vergibt den Amadeu Antonio Preis gemeinsam mit der Amadeu Antonio Stiftung alle zwei Jahre. Der Preis, der bisher Künstler*innen und ihre Arbeiten würdigte, die sich mit Rassismus auseinandersetzen, erweitert nun den Blick auf dieses Thema: Er zeichnet Projekte aus, die sich künstlerisch oder soziokulturell mit Rassismus auseinandersetzen – insbesondere an der Schnittstelle von politischer und kultureller Bildung. Neu in diesem Jahr ist zudem, dass der Wirkungsmittelpunkt der Projekte gezielt auf Ostdeutschland außerhalb der Großstädte ausgerichtet ist.

Der Preis macht sichtbar, wie vielfältig und kreativ antirassistisches Engagement sein kann: Ob Theaterprojekte, in denen Jugendliche ihre Erfahrungen mit Rassismus auf die Bühne bringen, oder eine von Migrant*innen selbstorganisierte Party-Reihe, die gezielt gegen den Ausschluss von durch Rassismus betroffenen Menschen aus öffentlichen Räumen kämpft. 

Personen und Initiativen können sich ab sofort online selbst bewerben oder andere nominieren unter: www.amadeu-antonio-preis.de.

Tahera Ameer, Vorstand Amadeu Antonio Stiftung:

„Angesichts der eskalierenden rassistischen Diskurse und rechtsextremen Mobilisierungen ist es wichtig, mit der Neuausrichtung des Preises gezielt jene Künstler*innen, Initiativen und Engagierten zu stärken, die sich an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und politischer Bildung unter hohem persönlichem Risiko und mit großem Engagement gegen diese Entwicklungen stemmen. Mit der Neuausrichtung des Preises wollen wir genau diese Menschen stärken.“

Götz Herrmann, Bürgermeister von Eberswalde:

„Der Amadeu Antonio Preis erinnert uns daran, dass Vielfalt, Respekt und Zivilcourage das Fundament unseres Zusammenlebens bilden. Dieser Preis ist ein Zeichen der Haltung – gegen Hass und für Menschlichkeit. Er würdigt Menschen, die sich für eine offene, gerechte und solidarische Gesellschaft einsetzen. Gerade in Zeiten, in denen demokratische Werte unter Druck geraten, ist dieses Engagement von ganz besonderer Wichtigkeit. Der Amadeu Antonio Preis erinnert uns an die schmerzlichen Folgen von Rassismus und ermutigt uns, gemeinsam für ein respektvolles Miteinander einzustehen.“

Stimmt es, dass Verschwörungstheorien auch wahr werden können?

Symbolbild (Quelle: Jackson Simmer)

Im Frühjahr hieß es in sämtlichen Medien: Der Bundesnachrichtendienst (BND) ging 2020 davon aus, dass das Coronavirus aus einem chinesischen Labor in Wuhan stammt. Ein entsprechendes Geheimpapier wurde damals angefertigt, aber bisher durch keine Bundesregierung veröffentlicht. Nun wurde es offenbar geleakt. In der deutschen Verschwörungsideologie-Szene hieß es schnell: „Wieder eine Verschwörungstheorie, die wahr wurde.“ Doch stimmt diese Schlussfolgerung?

 

Wahr ist, dass das BND-Papier existiert und dass es bisher als Verschluss- oder Geheimsache eingestuft wurde. Die übereinstimmende Berichterstattung mehrerer deutscher Medien lässt keinen anderen Schluss zu. Weshalb das Papier nicht der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, kann unterdessen nur gemutmaßt werden. Am wahrscheinlichsten aber ist, dass dieses genaugenommen nur einer bereits seit der Anfangszeit des Coronavirus verbreiteten Alternativerzählung folgte. Die so genannte Labortheorie ist weder neu, noch war der BND die erste Organisation, die Erkenntnisse hierzu sammelte. Von Anfang wurde zum Ursprung des neuartigen Coronavirus sowohl die Natur- als auch die Labortheorie verbreitet. Zwar hat sich in wissenschaftlichen Kreisen bis heute mehr Plausibilität für die Naturtheorie gefunden, zugleich gab es aber auch Wissenschaftler*innen, die an einem rein natürlichen Ursprung des SARS-CoV-2 zweifelten. Während die Naturtheorie davon ausgeht, dass das Coronavirus ursprünglich von Tieren stammt und dann durch den nahen Kontakt zwischen Menschen und Tieren schrittweise auf den Menschen übersprang, behauptet die Labortheorie, dass das Coronavirus versehentlich aus einem Labor für Virologie in der chinesischen Stadt Wuhan entwichen ist. An Gehalt gewinnt diese Erklärung, weil die chinesischen Behörden bisher nicht transparent mit Wissenschaftler*innen zusammenarbeiten, die zum Ursprung des Virus forschen. So hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erst im Dezember 2024 den chinesischen Staat gebeten, Daten herauszugeben und mit der Wissenschaft zu kooperieren.

 

Fraglich ist, ob die Labortheorie überhaupt den Charakter einer Verschwörungserzählung erfüllt. Gemäß der übereinstimmenden Meinung von Fachexpert*innen braucht es hierfür immer die folgenden Zutaten: Erstens, eine Gruppe von Verschwörer*innen, die zweitens einen geheimen Plan verfolgen, der drittens zu großen Vorteilen für die Verschwörer*innen führt. Wenn es wahr wäre, dass das Coronavirus durch einen Laborunfall in einem Virologielabor entstanden ist, wäre dies zweifelsohne ein bis heute intransparenter Vorgang. Es stellt sich aber die Frage, wer hier Verschwörer*in ist und welcher Plan verfolgt wurde. Dass in Laboren zu Viren oder Bakterien geforscht wird, ist keine Verschwörung, sondern virologische Realität. Die Forschenden erfüllen auch nicht das Merkmal einer Gruppe von Verschwörer*innen, da diese zwar in der Regel nicht öffentlich arbeiten, zugleich aber auch keinen Geheimauftrag umsetzen. Im Normalfall verfolgen Forschende wissenschaftliche Zwecke, nach denen wahlweise Grundlagen erforscht werden oder erforschtes Wissen für den Alltag nutzbar gemacht werden soll (z.B. einen Impfstoff gegen Viren oder Bakterien entwickeln). Der mögliche Laborunfall von Wuhan kann damit durchaus als Vertuschungs- beziehungsweise Geheimhaltungsfall eingestuft werden. Die vollen Merkmale einer Verschwörungserzählung werden aber nicht erfüllt.

 

Im verschwörungsideologischen Milieu existiert aber nicht nur die Variante des möglicherweise vertuschten Laborunfalls. Es finden sich dort dutzende weitere Varianten, die eine groß angelegte Verschwörung von Forschenden sowie auch von Staaten und von weiteren obskuren geheimen Mächten behaupten. Wahlweise ist dann die Rede von Corona als Biowaffe oder Corona als Werkzeug, um der Überbevölkerung der Welt im Sinne einer Massenvernichtungswaffe zu begegnen. Diese Varianten erfüllen alle Merkmale einer Verschwörungsideologie, wie sie der Politikwissenschaftler Armin-Pfahl Traughber zusammenstellte1. Demnach geht es nicht um die Aufdeckung eines konkreten und begrenzten Verschwörungsverdachts, sondern vielmehr um die stereotype Unterstellung von Macht- und Herrschaftsinteressen bestimmter Menschen als Grundlage für das Auftreten von Ereignissen, wie beispielsweise dem Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie. Solche verschwörungsideologischen Erzählungen zum Ursprung des Coronavirus werden weder durch das BND-Papier, noch durch andere bekannte, seriöse Erkenntnisse gestützt. Das ändert aber nichts daran, dass sowohl die Geheimhhaltung, als auch der Leak wieder neues Wasser auf die Mühlen der Verschwörungsideolog*innen gießt.

 

Zu hoffen bleibt, dass die globale Wissenschaft weiter zum Ursprung des Coronavirus Forschung betreibt und dass irgendwann damit der genaue Ursprung geklärt werden kann. Wie immer gilt: Wir sollten geduldig sein und gelassen bleiben.

____

 

[1] Pfahl-Traughber, Armin: „Bausteine“ zu einer Theorie über
„Verschwörungstheorien“: Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und
Ursachen, in: Reinalter, Helmut: Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung. Studienverlag, Innsbruck, 2002.

Stellungnahme zur Berichterstattung über Stiftungs-Tweets zum Fall Liana K.

Bahnhof Friedland (Niedersachsen). Foto: Simon-Martin (CC BY-SA 2.5), Bearbeitung: Amadeu Antonio Stiftung.

Am 11. August 2025 wurde die ukrainische Schülerin Liana K. (16) am Bahnhof Friedland (Niedersachsen) vor einen fahrenden Güterzug gestoßen. Das Mädchen starb noch am Tatort. Als dringend Tatverdächtigen wird gegen einen 31-jährigen Iraker ermittelt.

Wir trauern um Liana und sind in Gedanken bei ihrer Familie und ihren Freund*innen. Liana wurde Opfer eines tödlichen Verbrechens. Diese Tat muss vollständig aufgeklärt werden, und der Täter muss wie jeder Täter bestraft werden.

Überregionale Medien berichteten über einen Beitrag der Amadeu Antonio Stiftung auf der Plattform X (ehemals Twitter) und erhoben in dem Zusammenhang den Vorwurf, die Stiftung sorge „sich vor allem um den mutmaßlichen Mörder“ und mache „den mutmaßlichen Täter zum Opfer“. Dem widerspricht die Stiftung entschieden.

Die Formulierung im Beitrag, dass Liana K. „gestorben“ sei, nachdem sie gegen einen Zug gestoßen wurde, war für dieses Tötungsdelikt unangemessen und ist ein Fehler, für den wir uns ausdrücklich entschuldigen.

Der Beitrag der Stiftung nahm neben dem Tatgeschehen Bezug auf die psychische Erkrankung des Mannes, gegen den ermittelt wird, sowie die Unterversorgung der Prävention in diesem Zusammenhang. Auch hier hätten wir die Entwicklungen, die in den folgenden Tagen nach dem Beitrag bekannt wurden, in die weitere Bewertung des Falls aufnehmen sollen.

Dadurch wird und soll die Tat selbst nicht relativiert werden. Wir bedauern zutiefst, dass dieser Eindruck entstehen konnte. Wir haben uns deshalb entschieden, den betreffenden Beitrag zu ersetzen.

Unser Mitgefühl gehört den Angehörigen von Liana.

Kommentar

Chemnitz-Urteile: Bankrotterklärung für den Rechtsstaat

Teilnehmer*innen der rechtsextremen Kundgebung am 27.08.2018 in Chemnitz.

Sieben Jahre nach den rechtsextremen Gewaltexzessen von Chemnitz kommen die Angeklagten vor Gericht mit Freisprüchen und Einstellungen davon. Polizei und Justiz behandeln schwere politische Gewaltstraftaten wie Bagatelldelikte. Das verhöhnt die Opfer und ermutigt rechte Täter – nicht zum ersten Mal. Ein Kommentar.

Von Michael Kraske

Ich kann mich noch gut an mein Interview mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer erinnern, kurz nach den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz, im heißen Spätsommer 2018. Der CDU-Politiker wollte angesichts der erschütternden Ereignisse unbedingt Härte demonstrieren. Zur Erinnerung: Nach einem Tötungsdelikt an einem Chemnitzer Bürger hatte die rechtsextreme Szene überregional zu Demos mobilisiert, woraufhin Neonazis aus ganz Deutschland in der Stadt aufmarschierten. Rechte Hooligans machten am Rande von Demos Jagd auf Migrant*innen, Medienleute und Menschen, die gegen Rassismus demonstrierten. Es gab etliche Körperverletzungen, ein jüdisches Restaurant wurde angegriffen. Die AfD übte auf der Straße den Schulterschluss mit der Neonazi-Szene. Bei einer als Trauerzug getarnten Demo war auch der spätere Mörder von Walter Lübcke vor Ort. Stephan E. sah Chemnitz als Fanal an, das den Anstoß gab, zum Mörder zu werden. Im Anschluss an den sogenannten „Trauermarsch“ von AfD, Pegida, Neonazis und Wutbürgern explodierte die rechte Gewalt in der Stadt. Gegendemonstrant*innen, die bei „Herz statt Hetze“ waren, wurden überfallen, bedroht, geschlagen und getreten.

Enthemmte Neonazigruppen sowie eine zögerliche, unterbesetzte Polizei, die dem Mob phasenweise die Macht über die Straße überließ. Damit konfrontierte ich seinerzeit im Interview für das Medienmagazin journalist den sächsischen Ministerpräsidenten. Kritik bügelte Kretschmer pauschal ab. Vollmundig kündigte er an: „Wir werden die Täter mit aller Härte des Rechtsstaats verfolgen und zur Verantwortung ziehen.“ Sieben Jahre später ist klar: Der Staat hat sein Versprechen gebrochen. Das fatale Signal der Strafverfolgungsbehörden lautet: Systematische rechte Straßengewalt bleibt nahezu folgenlos. Wer nicht nur wehrlose Opfer, sondern auch diesen Staat und dessen Gewaltmonopol offen von rechts angreift, hat wenig bis gar nichts zu befürchten.

Schon vor einem Jahr waren dem MDR zufolge von 142 eingeleiteten Ermittlungsverfahren bereits 97 eingestellt worden. Einige der brutalsten Angriffe sollten als Sammelprozesse mit mehreren Angeklagten verhandelt werden. Doch jahrelang passierte so gut wie nichts. So hat es fünfeinhalb Jahre gedauert, bis am Landgericht Chemnitz im Januar 2024 ein großer Prozess endete. Gegen drei von ursprünglich neun Angeklagten wurden die Strafverfahren gegen Zahlung einer Geldbuße von je 1.000 Euro eingestellt. Dafür mussten sie nur pauschal zugeben, an Angriffen auf Gegendemonstrant*innen beteiligt gewesen zu sein. Schon vor dem Prozess waren zwei Neonazis untergetaucht. Andere Verfahren waren bereits zum Prozessbeginn eingestellt worden. Ein weiterer Strafprozess wurde noch länger verschleppt. Sieben Jahre nach den brutalen Angriffen hat das Chemnitzer Landgericht nunmehr drei Angeklagte freigesprochen. Das Verfahren gegen einen Braunschweiger Neonazi wurde ohne Auflagen eingestellt.

Sieben Jahre auf ein Urteil warten zu müssen, ist eine Farce für die Opfer. Sieben Jahre lang können sie mit der traumatischen Erfahrung nicht abschließen. Sieben Jahre bleibt politische Gewalt ungesühnt. Die Begründungen der Justiz für die verschleppte Aufarbeitung sind völlig inakzeptabel. Weder Corona noch ein Personal- oder Kammerwechsel rechtfertigen es, Verfahren, an denen ein eminentes öffentliches Interesse besteht, derart lange aufzuschieben. Abgesehen von eiligen Haftsachen, die stets Vorrang haben, müssen Gerichte ständig Prioritäten setzen. Politisch motivierte Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit, die der Machtdemonstration dienen und Gegner*innen mundtot machen sollen, so lange wie eine Lappalie zu behandeln, bis den Angeklagten allein aufgrund der überlangen Verfahrensdauer mildeste Urteile zustehen, ist geradezu unanständig.

Nach mehreren Jahren können sich Geschädigte und Zeug*innen erwartungsgemäß an vieles nicht mehr erinnern. Bei einem so komplexen Geschehen wie dem Angriff einer Gruppe rechter Schläger bedeutet juristisches Zeitspiel nichts anderes als Täterschutz. Prozessbeobachter*innen der Opferberatung RAA Sachsen haben gleichwohl dokumentiert, dass die Betroffenen vor Gericht sehr wohl detaillierte Tatabläufe geschildert haben. Demnach haben diverse Zeug*innen, die zuvor an der Kundgebung „Herz statt Hetze“ teilnahmen, einzelne Angeklagte eindeutig als Teil der Tätergruppe erkannt. Sie bezeugten Schlachtrufe wie „Adolf Hitler, unser Führer“ und „Zecken“ sowie diverse Tritte und Schläge – auch gegen den Kopf von Opfern. Einige Geschädigte, die mit einem Reisebus aus Marburg zur Gegendemo angereist waren, registrierten Schlagwerkzeuge, die Baseballschlägern glichen. An einem anderen Prozesstag beschrieben Zeug*innen den Braunschweiger Neonazi als besonders aggressiven Wortführer, der auch handgreiflich geworden sei.

Dass das Gericht konkrete Körperverletzungen letztlich nicht zweifelsfrei einzelnen Angeklagten zuordnen konnte und im Ergebnis zu Freisprüchen kam, hat auch mit Erinnerungslücken der ermittelnden Polizeibeamten zu tun. Prozessbeobachter*innen berichten von Aussagen, in denen die Beamten angaben, sich kaum erinnern zu können und darüber hinaus aussagten, es gebe gar keine Akten mehr zu dem Fall. Ein Beamter habe sich darauf berufen, dass entsprechende Daten bereits wie üblich aus dem polizeilichen Auskunftssystem gelöscht wurden. Folgerichtig habe er seine Aussage vor Gericht auch nicht vorbereiten können. So sieht die von Ministerpräsident Kretschmer angekündigte volle Härte des Rechtsstaates dann in der sächsischen Praxis aus.

Obwohl Zeug*innen übereinstimmend aussagten, dass die Angriffe auf Personen, die zuvor bei „Herz statt Hetze“ waren, jeweils überfallartig durch eine Gruppe erfolgten, zog das Gericht eine Verurteilung wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung offenbar nicht ernsthaft in Erwägung. Und für Landfriedensbruch reichte es aufgrund der Anzahl der Angreifer nicht. Entsprechend harsch fällt die Kritik der Nebenklagevertreter*innen aus. „Dieses Verfahren ist ein Freifahrtschein für den randalierenden rechten Mob“, so Anwältin Kati Lang, die einen Chemnitzer Mandanten vertritt. „Erst wird schlampig ermittelt, dann das Verfahren jahrelang durch die Justiz verschleppt und schlussendlich freigesprochen.“

Opferberaterin Anna Schramm, die Geschädigte für die Beratungsstelle Support durch den Prozess begleitet hat, berichtet, dass die Straflosigkeit der Täter für die Betroffenen „ein schwerer Schlag“ sei. Sie bleiben nicht nur ohne eine juristische Anerkennung ihrer Gewalterfahrung zurück, sondern auch auf hohen Prozesskosten sitzen. Der Umgang der sächsischen Polizei und Justiz mit der organisierten rechten Gewalt erschüttert das Vertrauen in den Rechtsstaat. Er habe lernen müssen, so ein verbitterter Nebenkläger, „dass Neonazis von der Justiz in Sachsen nichts zu befürchten haben, wenn sie in einem Mob auf politische Gegner*innen losgehen“.

Der Chemnitz-Skandal, das macht es so brisant, reiht sich in ein beunruhigendes Muster ein. Auch das Verfahren wegen brutaler Überfälle der rechtsextremen Hooligan-Gruppierung „Faust des Ostens“ aus dem Umfeld von Dynamo Dresden wurde vom Landgericht Dresden derart lange verschleppt, bis die Täter acht Jahre nach Anklageerhebung mit milden Strafen davonkamen. Über viele Jahre zog sich auch die juristische Aufarbeitung des Neonazi-Überfalls auf den alternativen Leipziger Stadtteil Connewitz vor dem Amtsgericht Leipzig hin. Anstatt die Hintergründe über Absprachen, Netzwerke und Drahtzieher des marodierenden rechten Mobs umfassend aufzuklären, ließ sich das Gericht auf fragwürdige Deals ein. Im Januar 2016 hatten sich rund 200 rechtsextreme Gewalttäter auf einem Parkplatz verabredet und waren anschließend durch Connewitz gezogen, wo sie Anwohner und Läden angriffen. Etliche Täter kamen mit Geldstrafen davon, wenn sie vor Gericht nur zugaben, irgendwie dabei gewesen zu sein. Viele gaben an, nur kurz, zufällig oder ganz hinten im Sturmtrupp mitgelaufen zu sein. Die rechtsextremen Netzwerke hinter dem orchestrierten Angriff blieben unbehelligt. Immer wieder explodiert in Sachsen rechte Gewalt – immer wieder bleibt das nahezu folgenlos.

Seit Jahren erreichen rechte Gewaltstraftaten bundesweit neue Rekordmarken. Der Staat steht in der doppelten Pflicht, Opfer wirksam zu schützen und Tätern vor allem durch konsequente Strafverfolgung die rechtsstaatlichen Grenzen aufzuzeigen. Das bedeutet: Gründliche Ermittlungen, zügige Verfahren, angemessene Strafen. Sachsen zeigt seit Jahren, wie es nicht geht. Die Folgen sind fatal. Die rechtsextreme Szene kann diese demonstrative Nachsicht des Rechtsstaats nur so verstehen, dass systematische politische Gewalt nicht kategorisch als Tabubruch geächtet wird. Die deutschen Sicherheitsbehörden beobachten aktuell, dass eine junge, militante Neonazi-Generation heranwächst, in der mutmaßlich auch neue rechtsterroristische Strukturen entstehen. Die richtige Antwort darauf ist rechtsstaatliche Härte. Stattdessen ist der Lerneffekt aus dem Chemnitz-Komplex: Rechte Gewalttäter haben so gut wie nichts zu befürchten.

Ebenso fatal ist die Botschaft an jene Menschen, die bereit sind, für Demokratie auf die Straße zu gehen. Etliche von denen, die in Chemnitz nach „Herz statt Hetze“ auf die Straße gegangen sind und dafür bedroht, beleidigt, geschlagen und getreten wurden, haben den Glauben an den Rechtsstaat verloren. Ihnen und allen anderen, die sich Neonazis und Rassist*innen entgegenstellen, wird signalisiert: Ihr steht allein da. Auf den Schutz des Staates könnt ihr euch nicht verlassen. Dass der Rechtsstaat auch ganz anders kann, zeigt er beispielsweise, wenn es um Klimaaktivist*innen geht, die sich auf Straßen kleben oder den Flugbetrieb stören. Da werden dann schon mal zügig Haftstrafen verhängt. Offenkundig gibt es hierzulande je nach Täterprofil und Deliktart ganz unterschiedlichen Ermittlungseifer. Das darf nicht sein. Um marodierende Neonazis, die auf der Straße Menschen jagen und verletzen, rechtsstaatlich sauber abzuurteilen, braucht es keinen übermäßigen Verfolgungseifer – nur die Einhaltung polizeilicher und juristischer Standards. In Politik und Justiz wird offenbar immer noch nicht verstanden, was auf dem Spiel steht.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Analyse

„Ostmullen“: Wie junge Frauen zum rechten Lifestyle-Phänomen werden

Rechtsextreme Frauen im August 2024 bei einem neonazistischen Aufmarsch gegen den CSD in Magdeburg. (Quelle: Flickr/RechercheNetzwerk.Berlin)

Der Social-Media-Trend #Ostmullendienstag zeigt junge Frauen, die rechte Codes inszenieren – und von Männern sexualisiert kommentiert werden. Was harmlos wirkt, ist Teil einer Strategie: antifeministische Frauenbilder als Lifestyle-Angebot.

Von Selina Alin

Seit Anfang des Jahres kursiert auf X ein neuer Trend: Unter dem Hashtag #Ostmulllendienstag tauchen wöchentlich kurze Videos von jungen Frauen auf, die stolz sich selbst, ihre ostdeutsche Identität sowie ihre rechte politische Haltung inszenieren. Bereits die Verwendung des Begriffs „Ostmulle“ auf X verrät jedoch die misogyne Schlagseite: „Mulle“ ist eine abwertende Bezeichnung für Frau, „Ostmulle“ spielt zusätzlich auf eine ostdeutsche Herkunft an.

„Ostmullendienstag“: Von Selbstinszenierung zur Instrumentalisierung

Die Clips zeigen selbstbewusste junge Frauen, tätowiert, gepierct, in Fußballkurven oder vor rot-weiß-schwarzen Fahnen. Die Sounds reichen von Hardtekk über Deutschrap, viralen Popsongs bis hin zu einschlägigem Rechtsrock. Auf TikTok wirken die Auftritte trotzig und selbstbewusst, auf X dagegen übernehmen anonyme Männer die Deutungshoheit und Bezeichnung der Frauen als Ostmullen: Sie sammeln die Videos, kommentieren sie sexualisiert und küren wöchentlich die „attraktivsten Ostmullen“. Während die Frauen auf TikTok zumindest versuchen, sich als Subjekte zu präsentieren, verschiebt sich die Perspektive auf X, früher Twitter. Dort kuratieren meist ältere Männer ihre Auftritte, und machen sie zu Objekten männlicher Fantasien.

Was nach Trash und Ironie aussieht, offenbart sich bei genauerem Hinsehen als Teil einer Strategie, rechtsextreme Einstellungen weiter zu normalisieren und popularisieren: Rechte Frauenbilder werden popkulturell verpackt, sexualisiert und in die sozialen Netzwerke getragen. Martin Sellner, rechtsextremer Stichwortgeber der Szene, sieht in den „Ostmullen“ gar eine große Hoffnung, die Brandmauer einzureißen. Dabei handelt es sich bei den Ostmullen viel wahrscheinlicher um einen Mikrotrend, der auf X künstlich aufgeblasen wird.

Neue Rollenbilder – alte Muster

Der Ostmullen-Trend unterscheidet sich von bisherigen rechten weiblichen Inszenierungen wie den sogenannten „Tradwives“, die mit einem konservativen Hausfrauenideal und der dazugehörigen Ästhetik spielten. Ostmullen treten offensiver, jugendlicher und politischer auf. Das erweitert das Repertoire extrem rechter Online-Identitätsangebote für Frauen, über die stille Mutterrolle hinaus, hin zur kämpferischen Aktivistin.

Trotzdem bleibt der antifeministische Kern bestehen. Extrem rechte Frauenbilder verknüpfen Weiblichkeit mit klassischen Schönheitsidealen, biologistischen Zuschreibungen und Antifeminismus: schlank, langhaarig, fürsorglich, „weiß“. Gesellschaftliche Partizipation, Gleichberechtigung, Schutz vor Gewalt – und das auch außerhalb rassistischer Debatten – sowie reale Machtoptionen innerhalb der Szene spielen keine Rolle. Gleichzeitig werden Frauen instrumentalisiert, um rechtsextreme Ideologie attraktiver, harmloser und anschlussfähiger wirken zu lassen.

Warum Frauen die extreme Rechte attraktiv finden

Warum aber schließen sich Frauen einer Bewegung an, die sie selbst entrechtet? Extrem rechte Rollenbilder versprechen Halt in einer komplexen Gesellschaft. Wer Überforderung, prekäre Arbeit oder Ausschluss erlebt, findet hier klare Feindbilder und vorgezeichnete Lebenswege. Mutterschaft oder „Kämpferinnentum“ erscheinen als sinnstiftende Aufgaben und einfache Antworten.

Auch Rassismus spielt eine Rolle: Indem „Andere“, nicht-weiße Menschen abgewertet werden, können weiße Frauen eigene Unsicherheiten überdecken und sich überlegen fühlen. Zudem werden Misogynie sowie patriarchale Normen in der Szene nicht hinterfragt und kritisiert, sondern sich ihnen aktiv untergeordnet. Denn Misogynie ist kein bloßer Frauenhass, sondern ein System von Strafen und Belohnungen, das Frauen für die Einhaltung patriarchaler Normen belohnt und für Abweichungen sanktioniert. Extrem rechte Bewegungen können dadurch für Frauen attraktiv wirken, weil sie Anerkennung und relative Sicherheit in der Rolle der „richtigen Frau“ versprechen.

So erscheint es dann durchaus schlüssig, weshalb manche Frauen in einer von rechter Ideologie geprägten Umgebung selbst jene Inhalte vertreten. Anpassung bringt Zugehörigkeit und Schutz, während Widerspruch zu Isolation oder Gewalt führt.

Falscher Feminismus

Die extreme Rechte basiert auf Hierarchie und Ungleichheit, zwischen „Völkern“ und Kulturen ebenso wie zwischen Geschlechtern. Feminismus hingegen kämpft für Gleichheit und Teilhabe. Beides ist unvereinbar. Extrem rechte Frauenbilder mögen modernisiert auftreten, doch sie bleiben an patriarchale Grenzen gebunden. Auch Sichtbarkeit und Emanzipation innerhalb der Szene werden nur so lange geduldet, wie sie dieser nutzen.

Das Phänomen „Ostmullen“ zeigt exemplarisch, wie rechte Metapolitik funktioniert: Popkulturelle Trends werden genutzt, um Ideologie anschlussfähig zu machen. Am Ende aber bleibt vom Versprechen weiblicher Selbstbestimmung nichts übrig. Frauen in der Szene erfahren Sexismus, Gewalt und Abhängigkeit – während sie gleichzeitig als Lockvögel für eine Bewegung dienen, die auf ihre Entrechtung setzt.

Extrem rechte Frauen sind keine Randfiguren, sondern zentrale Akteurinnen – unterschätzt, instrumentalisiert und zugleich gefährlich. Ihr Auftreten auf TikTok wirkt jugendlich und trotzig, ist aber letztlich nur ein neues Kleid für alte Muster. Feminismus und extreme Rechte bleiben unvereinbar.

Mehr Informationen zum „Ostmullen“-Trend findest du in der aktuellen Ausgabe unseres Podcasts „Pinke Pille“.

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Mehr Informationen

Pinke Pille – Der Antifeminismus-Monitor

Du hast von der roten Pille gehört? Willkommen bei der pinken. Antifeminismus ist kein Randphänomen – er ist Mainstream. Und gefährlich. In „Pinke Pille“ nehmen wir antifeministische Ideologien auseinander und zeigen, wie sie rechte Jugendkulturen, Influencer*innen, Politik und Popkultur beeinflussen. Monatlich beschäftigen wir uns mit einem Thema. Wir sprechen über rechtsextreme Jugendgruppen, digitale Männlichkeitskulte und Ostmullen, über den Schulterschluss von Antifeminismus, Rassismus und Antisemitismus – und wie all das mit Anti-Gender-Hetze verknüpft ist.

Monatlich beschäftigen wir uns mit einem Thema. Wir sprechen über rechtsextreme Jugendgruppen, digitale Männlichkeitskulte und Ostmullen, über den Schulterschluss von Antifeminismus, Rassismus und Antisemitismus – und wie all das mit Anti-Gender-Hetze verknüpft ist. Für alle, die wissen wollen, wie Antifeminismus heute funktioniert – und was wir ihm entgegensetzen können. Eine Produktion der Amadeu Antonio Stiftung.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Interview

Warum die Gesellschaft noch keinen sicheren Umgang mit Rassismus hat

Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung (Quelle: Peter van Heesen)

Tahera Ameer im Interview: „Das gesellschaftliche Bewusstsein dafür, dass es Rassismus in Deutschland gibt, ist stark gestiegen. Das ist ein Schritt vorwärts, dazu hat die Amadeu Antonio Stiftung beigetragen. Bis praktische Maßnahmen umgesetzt werden, die Rassismus als strukturelles Problem bekämpfen, ist es noch ein weiter Weg. Wir brauchen Proviant und Ausdauer für einen Marathon, nicht für einen Sprint.“

Warum ist es so schwer, Rassismus zu bekämpfen?
Deutschland ist ein Einwanderungsland – das ist seit Jahrzehnten Realität. Trotzdem haben wir als Gesellschaft kein geteiltes Verständnis von dem Begriff „Einwanderungsgesellschaft“: Damit sind nicht die eingewanderten Personen und ihre Communitys gemeint, sondern die Gesellschaft insgesamt. Ohne dieses umfassende Verständnis bleibt Rassismus immer das Problem der Anderen.

Wie lässt sich das ändern?
Um überhaupt antirassistisch handeln zu können, muss man lernen zu differenzieren. Unterschiede unsichtbar zu machen und ganze Gruppen gleichzusetzen, sind Strategien der deutschen Rechten, die mit Rassismus Stimmung gegen die angeblich homogene Masse der Einwander*innen macht. Solch pauschalisierende Aussagen und rassistische Hetze verfangen bis weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft. Doch es ist gefährlich, Differenzen und innermigrantische Konflikte zu negieren. Und es ist ja nicht so, dass präzises und fundiertes Wissen schwächen würde. Im Gegenteil, es stärkt.

Wie zeigen sich die Widerstände gegen Antirassismus noch?
Zu Anfang war die Amadeu Antonio Stiftung immer mit dem Vorwurf konfrontiert, ganze Kommunen zu verunglimpfen, indem sie Rechtsextremismus sichtbar macht. Dabei könnten Verantwortungsträger*innen, lokale Bevölkerung und Zivilgesellschaft sich ja auch selbst gegen Rechtsextremismus engagieren und diejenigen unterstützen, die für eine demokratische Kultur und den Schutz von Minderheiten eintreten. Sie könnten die Probleme offen benennen, anstatt der vorherrschenden Meinung zu folgen und damit in dem vermeintlichen Zwang zu stehen, sie verteidigen zu müssen. Diese Abwehr und auch die Opferrolle, in die man sich begibt, kann kein identitätsstiftendes Konzept sein, mit dem wir die demokratische Kultur stärken. Damit können wir weder Opfer von Rassismus und Rechtsextremismus unterstützen noch den Artikel 3 des Grundgesetzes verwirklichen.

Welche Probleme gibt es noch?
Der Kampf gegen Rassismus wird stark vereinnahmt. Wenn wir wirklich konsequent antirassistisch handeln wollen, dürfen wir es nicht dem türkischen Nationalismus oder dem politischen Islam durchgehen lassen, wenn sie im Namen eines antirassistischen Anliegens versuchen, ihre antidemokratische Agenda umzusetzen. Aus lauter Angst vor einem Rassismusvorwurf, Täter*innen nicht als Täter*innen zu benennen, zeigt doch nur, dass diese Gesellschaft keinen sicheren Umgang im Erkennen und Benennen von Rassismus hat. Stattdessen werden alle von Rassismus betroffenen Menschen zu einer homogenen Gruppe von Opfern gemacht. Wir können es uns als Gesellschaft aber nicht leisten, wegzugucken, denn innermigrantischer Rassismus bedeutet eine alltägliche, teils tödliche Bedrohung für die Minderheiten innerhalb der Minderheiten.

Wie würde antirassistisches Handeln aussehen?
Ein konsequenter Antirassismus muss klar benennen und jenseits dieser Vereinnahmungen stattfinden. Die aktuelle Polarisierung stellt ein enormes Problem dar. Differenzierung und Konflikt werden auf beiden Seiten als Schwäche empfunden und nicht als Chance.

Sind wir als Gesellschaft dafür bereit?
Unsere Gesellschaft ist in großen Teilen noch weit davon entfernt, sich einen Begriff von der ganz konkreten Bedeutung von Rassismus für den Alltag und das Leben von Betroffenen zu machen. Täglich kommt es zu rassistischen Übergriffen, ohne dass die Mehrheit sich davon betroffen oder angesprochen fühlt. Die Ausdifferenzierung in die verschiedenen Rassismen und ihre jeweiligen historischen Ursprünge und Ausformungen sind eine große Herausforderung für eine Gesellschaft, die gerade erst begonnen hat, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen.

Wie unterstützt die Amadeu Antonio Stiftung diesen Prozess?
Zunächst ist Sichtbarkeit das Wichtigste. Dafür haben wir zusammen mit KURD-AKAD und anderen von innermigrantischem Rassismus betroffenen Wissenschaftler*innen und Expert*innen 2023 die Konferenz „Doppelt unsichtbar“ veranstaltet und 2024 den dazugehörigen Sammelband herausgebracht.

Welche Überzeugung steht dahinter?
Es muss jedem Menschen, der in seiner Differenz wahrgenommen werden will, möglich sein, ohne Angst verschieden und so überhaupt erst sichtbar zu sein, ohne Angst vor Instrumentalisierung. Die Amadeu Antonio Stiftung will alle Menschen, deren rassistische Gewalterfahrungen unsichtbar gemacht werden, darin unterstützen, den innermigrantischen Rassismus aufzudecken und ihm etwas entgegenzusetzen.

Wie zeigt sich, dass struktureller Rassismus ignoriert wird?
Wir haben kaum Repräsentation in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, keine Lobby, die sich dafür stark macht, die strukturellen Verhältnisse genau anzuschauen und zu verändern. Es gibt keinen politischen Willen, über die Bereitstellung von Ressourcen zu diskutieren, um zum Beispiel eine systematische paritätische Job-Besetzung anzustoßen oder die besonderen Bedarfe von Personen anzuerkennen, die von Rassismus betroffen sind.

Wie lässt sich das verändern?
Selbstverpflichtung, Aufklärung und Bildungsarbeit müssen vorangetrieben werden – alle Bereiche der Gesellschaft können das aktiv mitgestalten. Medien, Behörden, Unternehmen, Schulen, jede Institution könnte sich etwa selbst dazu verpflichten, dem Grundgesetz sowie den Anforderungen, vor die uns die Zusammensetzung unserer Gesellschaft stellt, nachzukommen. Allein die Frage zu beantworten: „Was ist mein Einflussbereich, in dem ich konkrete Veränderungen anstoßen kann, und wie tue ich das?“, wäre ein Quantensprung, obwohl wir da ja noch nicht mal bei Fragen der Umsetzung sind.

Im letzten Lagebild der Regierung von 2023 sagen 90 Prozent der Befragten, dass es Rassismus in Deutschland gibt.
Es gibt heute eine größere Wahrnehmung davon, dass Rassismus existiert, ja. Auch seine verschiedenen Facetten sind sichtbarer geworden, also Anti-Schwarzer Rassismus, Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja, antikurdischer Rassismus, antiasiatischer Rassismus, um nur einige zu nennen. Deswegen sind wir heute eher in der Lage, die spezifische Betroffenheit von Personen überhaupt wahrzunehmen.

Es hat sich also doch etwas geändert?
Aber klar! Es gibt sehr viele Initiativen und Organisationen, die ihre Anliegen, ihre Wut, ihre Visionen und ihre konkreten Ideen für eine bessere Gesellschaft als Betroffene und Expert*innen von Rassismus laut äußern, die Forderungen stellen und unsere Gesellschaft verändern. Außerdem gab es in der letzten Legislaturperiode die erste Antirassismusbeauftragte des Bundes, es gibt eine Antidiskriminierungsbeauftragte, einen Antiziganismusbeauftragten. Es gibt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das vor Diskriminierung durch Rassismus schützt. Wir haben gesellschaftlich einiges erreicht. Ich bin stolz darauf, dass die Amadeu Antonio Stiftung durch ihre Arbeit Teil dieses gesellschaftlichen Fortschritts ist. Wie es damit weitergeht, steht auf einem anderen Blatt.

Was ist zu befürchten?
Wir erleben starken Widerstand von Menschen, die, anders als noch vor einigen Jahren, sehr laut sagen: Wir wollen eine homogene Gesellschaft. Wer da nicht reinpasst, muss sich extrem konform und leistungsstark verhalten, sonst haben wir als Gesellschaft kein Interesse daran. Das widerspricht im Kern dem Gleichwertigkeitsgedanken, wie er im Grundgesetz festgeschrieben ist. Nur mit einem solchen (menschenfeindlichen) Mindset kann man darüber reden, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, oder gleich „Remigration“ fordern.

Die Amadeu Antonio Stiftung sticht ja auch deswegen heraus, weil sie sowohl Antisemitismus als auch Rassismus bekämpft.
Seit dem 7. Oktober 2023 kommt Antisemitismus viel öfter im Mantel der Rassismuskritik daher, Jüdinnen*Juden stehen nahezu ohne jegliche Solidarität da. Wer sich gegen Rassismus und gegen Antisemitismus engagiert, sollte von sich verlangen, das andere immer auch im Blick zu haben.

Was heißt das für die Amadeu Antonio Stiftung?
Als Stiftung verpflichten wir uns dazu, denen zur Seite zu stehen, die mit ihrer Bedrohungssituation kaum sichtbar und extrem marginalisiert sind. Das gilt leider unverändert – und seit dem 7. Oktober schlimmer denn je – für alle von Antisemitismus Betroffenen. Es gilt aber auch für Palästinenser*innen, die die Hamas nicht als Befreiungs- und Widerstandsorganisation betrachten, sondern als das, was sie ist: eine Terrororganisation, die nur auf Vernichtung aus ist. Als Stiftung nehmen wir es uns zur Aufgabe, Diskriminierungen, die von vielen gar nicht als Problem wahrgenommen werden, aufzuzeigen.

Was bedeutet das für Betroffene?
Fakt ist: Betroffene von Rassismus sind nicht alle gleich betroffen. Gruppen wie Kurd*innen, Alevit*innen oder Armenier*innen werden in der deutschen Mehrheitsgesellschaft als türkisch gelesen und diskriminiert und zugleich von türkischen Nationalist*innen diffamiert. Oder etwa Ezid*innen, die als muslimisch gelesen, aber vor allem von nationalistischen und rechtsextremen Muslim*innen bedroht werden. All diese Menschen leben als Minderheit innerhalb einer Minderheit. Solange wir als Gesellschaft nicht bereit sind, genau hinzuschauen und zu begreifen, dass eine Bedrohung u. a. von der organisierten türkischen Rechten ausgeht, kann die Demokratie ihrem Versprechen, Minderheiten zu schützen, nicht nachkommen.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Gefördertes Projekt

Thüringer Punkrockfestival: „Dreckig und bunt“ gegen rechtsextreme Hegemonie

Das Punkrockfestival „Dreckig und bunt“ im Landkreis Hildburghausen. (Quelle: Dirty Voices e.V.)

Im Thüringer Landkreis Hildburghausen sind seit den 1990er Jahren rechtsextreme Netzwerke gewachsen, die mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert werden. Das Punkrock-Festival „Dreckig und bunt“ will das ändern und setzt deutliche Zeichen gegen Hass und Hetze.

Von Vera Ohlendorf

„Wir wollen Brücken bauen“, sagt Vlo, der das Festival „Dreckig und bunt“ mitorganisiert, das am 20. und 21. Juni 2025 in Veilsdorf stattgefunden hat. Das klingt zunächst überraschend für ein Punkrockfestival, das jedes Jahr internationale Bands wie Los Fastidios oder Vitamin X einlädt und die ländliche Region für ein Wochenende mit Hardcore, Streetpunk, Moshpit und ein wenig Chaos aufmischt. Schnell wird aber klar, dass es hier um mehr geht als Musik, Bier und Subkultur. Das Festival ist ein Raum für alle, die sich nicht mit dem rechtsextrem dominierten Normalzustand im Landkreis abfinden wollen. Deshalb wird es von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert.

Begonnen hat alles Mitte der 2000er-Jahre mit einem Geburtstagskonzert. Daraus entstand 2009 der Vorgängerverein „Oi Brothers Thüringen e.V.“, der regelmäßig das „Eichigt Open Air“ in Veilsdorf veranstaltete. „Als dann Pegida und Thügida aufkamen, haben wir Probleme mit einigen Mitgliedern bekommen. Ein paar Leute haben sich rassistisch geäußert und sich diesen rechtsextremen Gruppen angeschlossen“, erzählt Vlo. Die Satzung hatte keine Ausschlussklausel, es kam zu Konflikten, der Verein löste sich auf. 2019 gründete sich der Dirty Voices e.V., nun mit deutlicher Abgrenzung gegen rechtsextreme Ideologien. Das erste „Dreckig und bunt“-Festival fand wegen der Corona-Pandemie erst 2022 statt.

Rechtsextreme Normalisierung zum Thema machen

„Wir sind sehr politisch geworden und haben es uns zur Aufgabe gemacht, auf die Entwicklungen zu reagieren, die wir hier im Landkreis und weltweit sehen“, sagt Frodo, ebenfalls im Organisationsteam aktiv. Das Festival will Punkparty mit politischer Bildung verbinden. „Während des Festivals gibt es Infostände, zum Beispiel mit Flyern und Broschüren der Kampagne ‚Kein Bock auf Nazis‘. Wir wollen darüber aufklären, wie rechtsextreme Strukturen in Südthüringen funktionieren. Dass wir das Problem Rechtsextremismus überhaupt thematisieren, ist hier nicht selbstverständlich“, beschreibt Vlo. Es sei sehr wichtig, ins Gespräch zu kommen und Menschen aus Veilsdorf und Umgebung in das Festivalgeschehen aktiv einzubinden. „Nicht alle, die wir erreichen und ansprechen wollen, haben die gleiche Basis wie wir. Man muss Gesprächsräume öffnen und Brücken bauen, um die Entwicklungen in Frage zu stellen.“

Starke rechtsextreme Netzwerke um Szene-Unternehmer Tommy Frenck

In Thüringen wurde die hier als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD sowohl bei den Landtagswahlen 2024 als auch bei den Bundestagswahlen 2025 stärkste Kraft. Bei den Kommunalwahlen der vergangenen Jahre war aber nicht nur die AfD erfolgreich: Der rechtsextreme Szene-Unternehmer Tommy Frenck, früher bei der NPD aktiv, ist mit dem „Bündnis Zukunft Hildburghausen“ (BZH) seit Jahren fest als Abgeordneter im Kreistag etabliert, das Bündnis verzeichnet steigende Zustimmungsraten. 2024 kam Frenck bei den Landratswahlen bis in die Stichwahl. 2014 kaufte er das Lokal „Goldener Löwe“ in Kloster Veßra und organisierte regelmäßig Veranstaltungen der freien Kameradschaftsszene und Rechtsrock-Festivals mit tausenden Teilnehmenden aus dem gesamten Bundesgebiet. International ist Frenck mit rechtsextremen Rockerclubs und anderen Neonazi-Strukturen gut vernetzt. Das Lokal in Thüringen musste er nach jahrelangem Rechtsstreit mit der Gemeinde letztlich schließen. Im vergangenen Herbst eröffnete ein neues Gasthaus mit dem Namen „Eiserner Löwe“ im benachbarten Brattendorf, offiziell durch eine andere Person betrieben. Hier kann Frenck dank einer Daueranmeldung beim Landratsamt bis Jahresende bis zudrei Neonazi-Konzerte pro Woche veranstalten.

„Tommy Frencks neues Domizil ist größer als vorher. Er hat mit dem Gasthaus, einem Shop, einem Klamottenlabel und weiteren Unternehmen eine große NS-Erlebniswelt geschaffen. Er ist nun bis auf 10 Kilometer Luftlinie an unser Festival herangerückt“, beschreibt Vlo. Über die Jahre ist ein Geflecht verschiedener Unternehmen entstanden. „Die AfD und das BZH von Tommy Frenck gewinnen stark an Zulauf, besonders seit der Corona-Zeit. Man muss aber sehen, dass die rechtsextremen Strukturen hier in den letzten 20 Jahren fast ungestört gewachsen sind“, so Vlo weiter. Örtliche Handwerksbetriebe arbeiten mit den Unternehmen von Frenck zusammen, der wachsende Einfluss rechtsextremer Positionen und Politiker*innen ist im Landkreis spürbar. Seit 2019 ist der Online-Handel Frencks ein bei der IHK anerkannter Ausbildungsbetrieb. Hier kann man Schlagstöcke, Messer, Fahnen und Szene-Kleidung mit rechtsextremen Codes kaufen. „Es gelingt ihm, Jugendliche für sich zu gewinnen und zu binden“, erzählt Vlo. Gut organisierte rechtsextreme Jugendgruppen sind entstanden und bekommen viel Zulauf. Tommy Frenck hat in der Region Prominentenstatus, posiert für Fotos und gibt Autogramme.

Raum schaffen für Gegenkultur und Solidarität

Spürbaren Gegenwind gibt es kaum noch. Das liegt auch daran, dass es in dem ländlich geprägten Landkreis an anderen Jugendangeboten fehlt. Viele Jugendclubs mussten in den letzten Jahren schließen. „Es ist deprimierend zu sehen, dass Jugendliche, die nicht rechts sind, hier spätestens nach der Ausbildung wegziehen. Wir versuchen, gegenzusteuern und zu zeigen, dass es auch hier Raum für Alternativen gibt. Wir wollen den Blickwinkel der Leute ein bisschen weiten und einen Ort schaffen, an dem sich nicht-rechtsextreme junge Menschen ausleben können, ohne angepöbelt zu werden oder Gewalt zu erleben“, betont Frodo. Über die Festivalzeit hinaus kooperiert der Verein deshalb auch mit anderen lokalen Musikprojekten und Bands.

Nachdem „Dreckig und bunt“ 2024 kurzfristig wegen eines heftigen Unwetters abgesagt werden musste, sind Vlo und Frodo froh, dass in diesem Jahr alles erfolgreich und störungsfrei gelaufen ist. „Rechtsextreme Gruppen haben seit Corona ihre Social-Media-Kanäle stark ausgebaut, die Radikalisierung junger Menschen im Netz ist professionell organisiert. Auch das ist eine Herausforderung für uns“, sagt Vlo. Statt Wettbewerb setzen die beiden auf Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen regionalen und überregionalen Konzertveranstaltenden und Vereinen, die mit ähnlichen Herausforderungen rechtsextremer Hegemonie zu kämpfen haben.

Trotzdem weitermachen gegen rechtsextremen Flächenbrand

Die Bedrohungslage für das Festival ist für Vlo und Frodo ein zentrales Thema. Bisher gebe es Rückhalt in Veilsdorf, der Festivaltermin wird im Amtsblatt des Ortes veröffentlicht. Gezielte Angriffe hat es bisher nicht gegeben. „2022 ist ein Mitglied des BZH aufs Festivalgelände gekommen. Wir haben ihn freundlich, aber bestimmt aufgefordert zu gehen“, beschreibt Frodo. „Uns ist es wichtig, dass es friedlich bleibt, wir wollen keine gewaltsamen Auseinandersetzungen und keine Eskalation.“ Mit der Förderung der Amadeu Antonio Stiftung wurden Sicherheitsmaßnahmen finanziert und eine professionelle Security engagiert, die nicht im Verdacht steht, mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten.

Manchmal kommt das Festival-Team an Belastungsgrenzen, denn alle arbeiten ehrenamtlich. Zu den organisatorischen Aufgaben kommt der Druck von außen: „Wer aus der Reihe tanzt, muss mit Sanktionen rechnen. Das hält viele davon ab, sich zu engagieren oder den Mund aufzumachen“, beschreibt Vlo. Er fordert mehr politischen Rückhalt und staatliche Unterstützung: „Rechtsextremismus ist ein Flächenbrand. Wir allein fühlen uns dem Ausmaß nicht gewachsen“, sagt er und kritisiert, dass Menschen häufig allein gelassen werden, wenn sie Angriffe und Gewalt erleben. „Wegen der Netzwerke um Tommy Frenck wurde die Polizeipräsenz erhöht, aber das hilft nur wenig. Meist kommen die Beamt*innen erst dann, wenn schon etwas passiert ist. Rechtsextreme Straftaten werden kaum verfolgt oder mit niedrigen Strafen geahndet. Man hört immer noch viel Verharmlosendes. Angriffe werden zum Beispiel als ‚Streit zwischen Jugendlichen‘ abgetan. Auch deshalb können sich Neonazis hier in der Region seit vielen Jahren wohlfühlen und sind gern gesehene Gäste.“

Wie ist es unter diesen Umständen überhaupt möglich, ein politisches Punkfestival zu organisieren, das für demokratische Werte eintritt und Rechtsextremismus bekämpfen will? „Man muss weitermachen. Wenn niemand mehr was sagt, dann haben die gewonnen. Dagegenstellen, das ist ganz wichtig!“

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Monitoring

Im Visier von Rechtsextremen: Mehr als 70 CSDs in 2025 wurden gestört

Sie waren in Potsdam, Dresden, Saarbrücken, Wetzlar, Berlin, Eberswalde, in Neumünster, Pforzheim, Gera und Chemnitz. In Ost- und Westdeutschland, im Süden und im Norden, auf dem Land und in der Stadt –  Neonazis mobilisieren in dieser Saison wie auch schon im letzten Jahr im großen Stil gegen Pride-Paraden und CSDs. 

Über 240 CSDs finden dieses Jahr insgesamt in Deutschland statt, so viele wie nie zuvor! CSDs machen queeres* und trans* Leben sichtbar. Sie sind kraftvolle Demonstrationen für gleiche Rechte, Selbstbestimmung, Toleranz und Vielfalt –  zentrale demokratische Werte, die Rechtsextremen ein Dorn im Auge sind. Besonders im ländlichen Raum sind sie oft die wenigen öffentlichen Orte, an denen Vielfalt, Gleichwertigkeit und Demokratie erfahrbar werden.

Unser Monitoring zeigt: Stand jetzt wurden in diesem Jahr mindestens 70 CSDs gestört. Nur etwas mehr als 70 Prozent konnten damit störungsfrei verlaufen. Vor, während und nach CSDs kam und kommt es zu rechtsextremer Mobilisierung, Hasskommentaren, tätliche Angriffen, Gegenveranstaltungen, Störversuchen auf kommunalpolitischer Ebene und Zerstörung von Pride-Symbolen.

Dennoch sprechen Medien von störungsfreien“ CSDs – Wie kann das sein?

Vor dem CSD in Bremen wird ein anonymer Drohbrief verschickt. Wenn der CSD am geplanten Termin stattfände, „wird es viele Tote geben. Niemand kann sie schützen.“ In Ronnenberg (Niedersachsen) versuchte die AfD im Stadtrat, den CSD per Antrag zu verbieten und forderte die Herausgabe der Namen der Verwaltungsbeamt*innen, die den CSD genehmigt hatten. Regelmäßig werden Regenbogenflaggen gestohlen, teilweise sogar verbrannt und zur Bewerbung der Gegendemonstration in Videos auf Social Media genutzt.

In der Kommentarspalte unter Postings zu CSDs von Nachrichtenkanälen oder Veranstalter*innen häufen sich menschenfeindliche, queer- und transfeindliche Aussagen bis hin zu Morddrohungen. Müssen wir uns daran gewöhnen, dass CSDs im Jahr 2025 nur noch mit ausgefeiltem Sicherheitskonzept und massiver Polizeipräsenz stattfinden können? Wird die rechtsextreme Drohkulisse „normal“?

Knapp 30 Prozent der CSDs von Rechtsextremen gestört

Die Amadeu Antonio Stiftung zählt bislang 27 Gegendemonstrationen und -veranstaltungen. Politik und Medien sprechen dennoch von „friedlichen CSDs“. Die rechtsextreme Raumnahme und Machtdemonstration wird das neue Normal. Unter diesen Umständen sind CSDs zwar möglicherweise „friedliche Veranstaltungen“ – aber deshalb trotzdem noch lang keine sicheren. Jede Person, die für Gleichstellung und Akzeptanz, gegen Gewalt und für queere* und trans* Rechte auf die Straße geht, beweist Mut. Mut, der vor ein paar Jahren so noch nicht nötig war. Was einst als safer space galt, wird vor allem für trans* und queer* gelesene Menschen zunehmend zum Ort der Bedrohung – nicht nur während des CSDs, sondern auch auf der An- und Abreise. Veranstalter*innen und Engagierte vor Ort sind wieder auf sich gestellt, sobald der CSD vorbei ist und seine (über-)regionale Aufmerksamkeit von außen nachlässt. Insbesondere in kleineren Städten, in denen man sich gegenseitig kennt, kommt es oft zu Bedrohungen, Einschüchterungen und Gewalt durch die lokale Neonazi-Szene.

Professionalisierung der rechtsextremen Mobilisierung

Die Mobilisierung gegen die CSDs hat sich in den letzten Monaten massiv professionalisiert. Rechtsextreme Jugendgruppen, die immer mehr Follower und Aufrufe erhalten, nutzen ihre Reichweite auf Social Media für eine organisierte Bewerbung ihrer Veranstaltungen. Sie verwenden dieselben Layouts sowie Slogans und fluten damit ihre Infokanäle und Accounts.

Zur Demonstration gegen den CSD in Bautzen organisierten Neonazis aus dem erweiterten Umland eine gemeinsame An- und Abreise und ein prominent besetztes Bühnenprogramm. Zwei rechtsextreme Szenegrößen, Proto und Kavalier vom rechtsextremen Raplabel „Neuer Deutscher Standard“, begleiteten den rechtsextremen Aufmarsch mit Livemusik. Eine solche Organisation im Vorfeld trägt nicht nur zur Mobilisierung bei und senkt die Hemmschwelle zur Teilnahme. Bereits auf dem Hinweg konnten die angestachelten Rechtsextremen ihren Hass gemeinschaftlich und selbst ermächtigt in die Tat umsetzen. Pöbeleien und Bedrohungen gegen CSD-Teilnehmende wirken identitätsstiftend nach innen und bedrohlich nach außen. „Angstfrei sind hier die wenigsten“ dokumentiert ein MDR-Reporter am Rande des CSD-Bautzen.

Letztes Jahr standen hier rund 1.000 Teilnehmende fast 700 Rechtsextremen gegenüber. Der Aufmarsch in Bautzen war eine der größten rechtsextremen Gegenveranstaltungen der CSD-Saison 2024. Der Vorfall erzeugt ein großes mediales Echo und ist einer der prägenden Angriffe Rechtsextremer im Jahr 2024. Bereits am Tag davor ist eine geplante Abschlussparty abgesagt worden – aus Angst vor rechtsextremen Demonstrationen.

Auch in diesem Jahr eskalierte die Gewalt. Bei der Abreise wurden Journalist*innen und CSD-Teilnehmende von einer Gruppe Neonazis bedroht, geschlagen und getreten. Trotzdem scheiterten die rund 500 vor Ort anwesenden Nazis daran, eine Drohkulisse wie 2024 aufzubauen. 4.000 Menschen konnten ein kraftvolles Zeichen für ein queeres Hinterland und damit demokratische Räume setzen.

Wird Magdeburg das neue Bautzen?

Nach Bautzen konzentriert sich die Mobilisierung der Neonazis schnell auf einen neuen Ort: Magdeburg. Hier finden am 23. August der CSD, aber auch eine Gegendemonstration gegen den „LGBTQ+ Zirkus“ statt, wie rechtsextreme Jugendorganisationen auf Telegram schreiben. Nach Magdeburg wird ebenfalls mit rechtsextremen Szenegrößen und Neonazikadern gelockt: Phil von Flak tritt auf, stellvertretender Bundesvorsitzender der Partei Die Heimat sowie Mitglied der Rechtsrockband FLAK. Der bereits mehrfach verurteilte Neonazi Sven Skoda hält eine Rede. Auch eine nicht näher beschriebene, als „Aktivistin“ bezeichnete Person wird als Rednerin angepriesen. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich hierbei um die verurteilte Rechtsextreme Marla-Svenja Liebich handelt. Erst kurz vor dem bevorstehenden Haftantritt ließ Liebich ihren Geschlechtseintrag von männlich zu weiblich ändern, um das Selbstbestimmungsgesetz verächtlich zu machen.

Ob die Mobilisierungsstrategie fruchtet, wird sich in Magdeburg zeigen. Die Zahl der Teilnehmenden an der rechtsextremen Gegendemonstration in Bautzen hat sich im Vergleich zum Vorjahr halbiert –  ein Etappensieg der demokratischen Zivilgesellschaft, die trotz der massiven Bedrohungslage und erschreckender Bilder vergangener CSDs den Mut gefunden hat, zu bleiben, mitzumachen und laut zu sein.

Gefördertes Projekt

Nach 50 Jahren: Gedenken an rassistische Hetzjagd auf Vertragsarbeiter in Erfurt

Gruppenbild von algerischen Vertragsarbeitern in Erfurt. (Quelle: Mohamed Kecheroud und Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt)

Am 10. August 1975 jagten bis zu 300 DDR-Bürger*innen algerische Vertragsarbeiter durch die Erfurter Innenstadt und verletzten einige schwer. 50 Jahre später erinnerten Betroffene und Erfurter*innen an die Ereignisse. In der Öffentlichkeit spielt die Auseinandersetzung mit rassistischer Gewalt in der DDR weiterhin kaum eine Rolle. Die Auseinandersetzung mit rassistischer Gewalt findet auch Jahrzehnte später viel zu selten statt.

von Vera Ohlendorf

Hamdane kam 1975 mit Anfang 20 als Vertragsarbeiter nach Erfurt, blieb bis 1979 und ist nun für eine Gedenkveranstaltung zurückgekehrt. Gemeinsam mit seinen ehemaligen Kollegen Ali und Manaa spricht er als Betroffener der Hetzjagd vor 50 Jahren zu den knapp 70 Personen, die sich am 10. August 2025 auf dem Domplatz versammelt haben. Die Erinnerungen an Rassismus und Gewalt wühlen ihn bis heute sichtlich auf: „In jedem Menschen gibt es Schmerzen und Opfer, die niemals ausgelöscht sind. Narben, die niemand geheilt hat. Gefühle, die niemand verurteilen kann. Weil niemand mit denselben Tränen geweint und mit demselben Schmerz gelitten hat. Jeder von uns weiß, was in seinem Herzen verschlossen ist.“

Die Perspektive der Betroffenen sichtbar machen

Insgesamt kamen zwischen 1974 und 1984 über 8.000 fast ausschließlich männliche Vertragsarbeiter aus Algerien in die DDR. Die meisten wurden im Bausektor und in der Braunkohleindustrie eingesetzt. 300 von ihnen lebten und arbeiteten in Erfurt. Hamdane, Manaa und Ali leisteten im Straßen- und Tiefbau-Kombinat und im Wohnungsbaukombinat schwere körperliche Arbeit. Als Kind hatten sie den algerischen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich miterlebt und ihre Väter oder Brüder verloren. Sie kamen wie die anderen Algerier auch mit der Hoffnung auf gute Bezahlung und eine fundierte Ausbildung in die DDR. Die Realität sah anders aus: Sie erhielten zunächst weniger Lohn als ihre deutschen und osteuropäischen Kollegen, die Ausbildungsangebote fanden nach langen Arbeitstagen in den Abendstunden statt. Immer wieder kam es deshalb zu Streiks. Die meisten Vertragsarbeiter waren in beengten Wohnheimen untergebracht. Die Regierung wollte den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung möglichst verhindern. Maßnahmen zur Integration waren nicht vorgesehen.

Da die meisten Algerier nach vier Jahren Vertragslaufzeit nach Algerien zurückkehren mussten, sind ihre Perspektiven bisher kaum erforscht. Jan Schubert und Agnès Arp von der Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt schließen diese Leerstellen im Rahmen des Projektes „Algerische Arbeitsmigranten in der DDR“ und führten erstmals lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen algerischen Vertragsarbeitern und weiteren Personen aus deren Umfeldern durch. Neben vielen anderen Themen spielt die Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Rassismus in der DDR im Rahmen der Forschungen und der Interviews eine wichtige Rolle.

Die meisten jüngeren Erfurter*innen wissen heute so gut wie nichts über die pogromartige Hetzjagd und weitere Ausschreitungen, die sich über drei Tage vom 10. bis zum 13. August 1975 zogen. Ältere Erfurter*innen reproduzieren nicht selten rassistische und sexistische Narrative und zeigen wenig Empathie mit den Betroffenen. Über Jahrzehnte hinweg gab es keine Erinnerungsarbeit in der Stadt. Die Wissenschaftler*innen aus Erfurt haben in diesem Jahr die erste Gedenkveranstaltung und begleitende Podiumsdiskussionen mit Betroffenen organisiert und wurden dabei durch die Thüringer Landeszentrale für politische Bildung, die Amadeu Antonio Stiftung und viele weitere Akteur*innen unterstützt.

Pogrom mit Vorgeschichte

Rassismus und nationalistische Einstellungen waren in der DDR verbreitet. Regierung und Medien idealisierten die „Völkerfreundschaft“ und betonten die Solidarität der Bevölkerung gegenüber den Vertragsarbeitern, die die DDR auch aus weiteren sozialistischen Staaten anwarb. Rassismus galt offiziell als Problem des kapitalistischen Westens. Eine fundierte Auseinandersetzung, etwa auch mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, fanden nicht oder nur einseitig statt.

Das Baukombinat Erfurt verteilte 1974 eine „Aufklärungsbroschüre“ über die algerischen Arbeiter, in denen sie ihnen „rückständige Lebensweise“, Leistungsunwillen und eine Vorliebe für „12- bis 14-jährige Mädchen“ andichteten. Feindbilder und Stereotype wurden so offiziell gefestigt. In den Wochen vor dem 10. August 1975 waren wohl auch deshalb rassistische Gerüchte in Erfurt verbreitet. Den algerischen Vertragsarbeitern wurden Vergewaltigungen und Morde unterstellt. Laut Ermittlungen der Stasi wurden die Falschinformationen böswillig durch einzelne Akteur*innen in Umlauf gebracht. Keine dieser angeblichen Straftaten wurde jemals nachgewiesen. Am 10. August kam es auf dem Domplatz während eines Volksfests zu Auseinandersetzungen. Hamdane erinnert sich:

„Eine Gruppe junger Leute, die von irgendeinem bösen Geist aufgehetzt worden waren, wollte um jeden Preis eine Schlägerei mit uns anzetteln. Es begann mit Beleidigungen und Schimpfwörtern gegenüber unseren Freundinnen […]. Dann begannen sie, uns anzuspucken. Als wir nicht auf ihre Beleidigungen reagierten, schlug einer der jungen Männer einen Kollegen mit der Faust. Daraufhin schlug der Kollege mit dem Kopf zurück.“

Es kam zu einer Massenschlägerei. 25 Algerier wurden in der Folge von etwa 300 DDR-Bürger*innen über den Fischmarkt bis zum Hauptbahnhof gejagt. Die rassistischen Verfolger waren teils mit Eisenstangen und Latten bewaffnet, skandierten „Schlagt die Algerier tot“ und äußerten weitere Todesdrohungen. Die Volkspolizei setzte Hunde auch gegen die Algerier ein. Die Opfer wurden teils schwer verletzt. Hamdane versuchte, zu fliehen: „Als ich am Hauptbahnhof ankam, wollte ich ins Palastcafé gehen, aber dort wurde mir die Eingangstür verschlossen. Ich war in einer ausweglosen Situation. Die Meute trieb mich in die Enge und durch die Schläge verlor ich das Bewusstsein. Gegen Mitternacht wachte ich in einer Klinik in Erfurt-Nord auf.“ Auch Ali erzählt im Rahmen der Gedenkveranstaltung von seinen Erfahrungen an diesem Tag: „Am Bahnhof fand ich mich von sehr aggressiven jungen Männern umzingelt, die mich fast gelyncht hätten. Wenn die Algerier Manaa und Abbas nicht eingegriffen hätten, wäre ich nicht mehr am Leben.“

Zwei Tage später wurden algerische Arbeiter erneut in der Innenstadt durch 150 überwiegend junge Männer angegriffen und verfolgt. Erst am 13. August 1975 gelang es der Polizei, die Lage zu beruhigen, nachdem zuvor ein Wohnheim der Algerier von einem weiteren mit Stöcken bewaffneten Mob belagert und bedroht worden war. Viele Algerier verweigerten in den folgenden Tagen die Arbeit und nahmen nicht an den Ausbildungen teil. Im Anschluss kam es zu Ermittlungen der Behörden, die auch Gespräche mit den Betroffenen umfassten. Lediglich fünf der Täter wurden wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu Haftstrafen verurteilt.

Keine Aufarbeitung rassistischer Gewalt in der DDR

In den Medien wurden die Ereignisse am Rande erwähnt und als „Rowdytum“ verharmlost, Rassismus und Gewalt wurden nicht benannt. Annegret Schüle, Leiterin des „Erinnerungsorts Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz” geht in ihrem Redebeitrag während der Gedenkveranstaltung auf die sexistischen Anteile der rassistischen Diskurse ein, die zu der Hetzjagd führten: „‚Sie nehmen uns die Mädchen weg‘ war die Behauptung, die in diesen Tagen in Erfurt kursierte. Wegnehmen kann man nur etwas, das jemandem gehört. Die jungen Frauen, um die es ging, wurden also zum Eigentum der Männer erklärt. Eine eigene Entscheidung, welchen Männern sie sich zuwenden wollen, wurde ihnen von ihren patriarchalen, deutschen Zeitgenossen verwehrt.“ Einige der festgenommenen Männer gaben 1975 zu Protokoll, sie hätten ihre „Männlichkeit“ beweisen wollen. Bis heute kursieren in Erfurt Gerüchte über die angebliche sexuelle Devianz der „Fremden“. Sie werden in rassistischen und migrationsfeindlichen Narrativen der Gegenwart weltweit immer wieder neu reproduziert.

Die Erfurter Hetzjagd gilt als erster rassistischer Pogrom in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Rassistische, antisemitische und weitere rechtsextrem motivierte Straftaten waren in der DDR aber nicht so selten, wie es der SED-Regierung wohl lieb gewesen wäre. In den letzten Jahren hat der Historiker Harry Waibel anhand von Stasi-Unterlagen und anderen Archivdokumenten mehr als 700 rassistische und rechtsextreme Angriffe mit mindestens 12 Todesopfern in der DDR recherchiert. Immer wieder waren Vertragsarbeiter*innen betroffen, etwa aus Polen, Algerien, Vietnam, Mosambik, Ungarn und weiteren Ländern. Zu Ermittlungen oder gar Verurteilungen kam es nur selten. Die Straftaten werden bis heute meist nicht öffentlich thematisiert. 2025 wird in Merseburg den Opfern einer weiteren rassistischen Hetzjagd gedacht. Am Abend des 12. August 1979 kam es vor einer Disko zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Stein- und Flaschenwürfen zwischen kubanischen Vertragsarbeitern und DDR-Bürger*innen. Die Kubaner Delfín Guerra und Raúl García Paret ertranken kurz darauf in der Saale. Die genauen Umstände sind bis heute ungeklärt, strafrechtliche Maßnahmen wurden nicht eingeleitet. Seit sechs Jahren erinnert die Initiative 12. August an die rassistische Gewalt in Merseburg. In diesem Jahr wurden zwei Gedenktafeln an die Opfer in der Stadt angebracht.

Gedenkveranstaltung an rassistische Hetzjagd auf Vertragsarbeiter in Erfurt

Kontinuitäten rassistischer und rechtsextremer Gewalt nach 1945 bis heute

Die rechtsextrem motivierten, rassistischen Ausschreitungen der 1990er Jahre in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 waren keine Einzelfälle. Sie haben ihre Vorgeschichte in zahlreichen ähnlichen Verbrechen vor Mauerfall und Wiedervereinigung, die bis heute kaum bekannt und mehrheitlich nicht aufgearbeitet sind. Rassistische, rechtsextreme und antisemitische Gewalt nimmt aktuell in Thüringen und bundesweit stark zu. Eine Vertreterin der Thüringer Beratungsstelle ezra betont in ihrem Redebeitrag, dass die meisten rassistischen Straftaten damals wie heute in den Straßen passieren und damals wie heute kaum öffentliche Aufmerksamkeit finden. Damals wie heute werden rassistische Motive häufig verharmlost und Täter*innen nicht oder nur milde bestraft. Die Perspektiven der Opfer finden mehrheitlich keinen Raum, viele von ihnen erleben eine Täter-Opfer-Umkehr durch Gesellschaft oder Behörden.

Solidarität und zerrissene Familien

Hamdane, Ali und Manaa sind nach fast 50 Jahren nach Erfurt zurückgekommen, um ein Zeichen gegen Rassismus gestern und heute zu setzen. Es ist ihnen wichtig, auch von der großen Solidarität der Vertragsarbeiter untereinander und von den vielen Erfurter*innen zu berichten, von denen sie Hilfe und Unterstützung bekamen. Die drei Männer verbinden neben den leidvollen Erfahrungen auch positive Erinnerungen mit der Stadt: „Es waren wunderbare Jahre bis auf dieses traurige Ereignis. Deutschland ist meine zweite Heimat geworden“, erzählt Ali.

Obwohl die DDR-Behörden die Vertragsarbeiter von der deutschen Bevölkerung segregieren wollten, ist es den Algeriern gelungen, viele Freundschaften zu schließen und Liebesbeziehungen zu führen: Ebenso wie die Streiks gegen geringe Entlohnung und schlechte Arbeitsbedingungen war auch das Widerstand gegen die ausgrenzenden und strukturell rassistischen Regeln. Viele algerische Vertragsarbeiter haben die DDR 1979 nicht freiwillig verlassen. Ihre Aufenthaltsgenehmigungen endeten gemäß dem Abkommen mit Algerien mit ihren Arbeitsverträgen nach vier Jahren. Einige mussten ihre Kinder und Freundinnen zurücklassen, die Bindungen brachen über die Jahre ab. Über das Projekt der Oral-History-Forschungsstelle konnten familiäre Kontakte in drei Fällen wiederhergestellt werden. Viele andere ehemalige algerische Vertragsarbeiter sind bis heute auf der Suche nach ihren erwachsenen Kindern in Deutschland, was durch restriktive Visa-Regelungen erschwert wird.

Aufarbeitungsprozesse stehen erst am Anfang

Gedenkveranstaltungen wie die in Erfurt und Merseburg sind wichtig, um die Kontinuitäten rassistischer und rechtsextremer Gewalt seit 1945 sichtbar zu machen. Nur wenn es gelingt, die Perspektiven Betroffener im kollektiven Gedächtnis zu verankern und erlittenes Unrecht zu entschädigen, besteht die Chance, menschenfeindliche Narrative zu brechen. In Erfurt fand das Gedenken in diesem Jahr leider ohne Beteiligung von offiziellen Vertreter*innen der Stadt Erfurt oder des Landes Thüringen statt. Auch dieser Umstand zeigt: Die Aufarbeitung von Rechtsextremismus und Rassismus in der DDR ist ein Prozess, der gerade erst beginnt. Solidarität mit den Opfern rassistischer Gewalt ist heute in vielen Fällen nicht selbstverständlicher als in den 1970er Jahren.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Analyse

Gamescom 2025: Wie Rechtsextreme Gaming instrumentalisieren

Symbolbild (Quelle: Unsplash)

„Games – Perfekte Unterhaltung“ lautet das Motto der diesjährigen Gamescom, die vom 20. bis 24. August in Köln stattfindet. Das größte Videospiel-Event Europas lockt jährlich Hunderttausende in die Messehallen und unterstreicht die Relevanz und Vielschichtigkeit der Gaming-Kultur. Auch Rechtsextreme versuchen seit Jahren, Videospiele und ihre Plattformen zu instrumentalisieren. Zeit für eine Bestandsaufnahme und einen differenzierten Blick auf Rechtsextremismus und Gaming.

Von Mick Prinz und Severin Schwalb

Videospiele bieten immer mehr Möglichkeiten für den Einsatz in der Bildungsarbeit und Wissen zu unterschiedlichsten Themen immersiv zu vermitteln. Vorbei sind die Zeiten, in denen simple Lernspiele Fakten mit dem Game-Design-Holzhammer servierten. Sowohl klassische Unterhaltungsgames, als auch eher in Bildungskontexten eingesetzte „Serious Games” liefern spannende Fakten zu historischen Settings, stellen Spielende vor moralische Fragen oder vermitteln eindrucksvoll die Perspektive unterschiedlicher Betroffenengruppen.

Pädagogische Chancen und progressive Entwicklungen

Während man sich in „The Darkest Files” dem Anwaltsteam rund um Fritz Bauer anschließt und NS-Verbrecher vor Gericht bringt, ermöglicht die VR-Erfahrung „Unhome” bewegende Einblicke in die alltäglichen Herausforderungen von wohnungslosen Menschen in Deutschland. Auch Spiele wie „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm” oder „Das ILIOS Experiment” stehen Schulen kostenfrei zur Verfügung und regen zum Nachdenken über Toleranz und gesellschaftliche Teilhabe an. Dass dies auch mit den bei Jugendlichen beliebten Titeln funktioniert, zeigen Beispiele wie das digitale Shoa Museum „Voices of the Forgotten” in Fortnite oder ein Minecraft Server auf dem ukrainische Geflüchtete psychosoziale Unterstützung erhalten.

Screenshot der Fortnite Map „Voices of the Forgotten” – einem digitalen Holocaust-Museum

Eine neue Studie des Branchenverbands der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche (bitkom) unterstreicht: Gaming ist längst kein reines Jugendphänomen mehr und findet nicht nur in einer primär männlichen Zielgruppe statt. Im Gegenteil, es ist ein vielschichtiges und heterogenes Kulturgut, das in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und es geschafft hat, sich von stigmatisierenden Verallgemeinerungen zu lösen. Doch zum Gaming 2025 gehören auch regelmäßige Instrumentalisierungversuche durch eine rechtsextreme Minderheit, toxisches Grundrauschen in Ingame Chats und  mühselige Debatten über Diversität.

Toxicity und Hass im Gaming

Abwertungen, Beleidigungen, Diskriminierungen sind in einigen Text- und Voicechats Teil alltäglicher Kommunikation. Laut einer Studie der ADL haben 76 Prozent aller Spieler*innen schon Hass im Netz erlebt. Besonders betroffen von Hate Speech sind dabei Frauen, Queers und Jüdinnen*Juden, die aufgrund ihrer Identität angegriffen werden.

Wichtig: Toxische Gamer*innen sind nicht unbedingt deckungsgleich mit der lauten rechtsextremen Minderheit, die Videospiele strategisch nutzt, um menschenverachtende Narrative zu verbreiten. Rechtsextreme sind nur ein kleiner Teil der Gaming-Welt und nicht repräsentativ für vielschichtige Videospiel-Communitys.

Dass sich aber Rechtsextreme im Gaming so wohl fühlen, hat mehrere Gründe: Zum einen, stoßen rechtsextreme Erzählungen in Räumen, in denen Beleidigungen und Diskriminierung ohnehin normal sind, auf weniger Widerstand und werden eher akzeptiert. Wenig Moderation und die Missachtung eigener Plattformguidelines begünstigt die Verbreitung rechtsextremer Talkingpoints und Propagandamedien. Rechtsextreme Akteur*innen haben längst verstanden, wie sie unregulierte Plattformen und das toxische Grundrauschen für die eigenen Zwecke nutzen können.

So wurde die Gamergate-Kontroverse, eine 2013 beginnende, antifeministische Hetzkampagne, zum Vorbild für die US-amerikanische Alt Right, um die aufgeladenen Debatten in Videospielräumen auszunutzen. Hass formulierte sich gegen progressive Entwicklungen in der Gaming-Kultur, gegen eine vermeintliche Political Correctness und gegen weibliche und nicht binäre Akteur*innen in der Games-Branche.

Auch heute, über zehn Jahre später, versuchen rechtsextreme Player Diskussionen um vermeintlich „woke“ Games zu dominieren und anschlussfähig in einem breiten Gaming-Mainstream zu werden. Das Narrativ: Früher war Gaming weniger politisiert und dadurch weniger „weichgespült“. Die Ablehnung macht sich auch an einzelnen Personen oder Unternehmen deutlich, wie beispielsweise am kanadischen Beratungsunternehmen Sweet Baby Inc., welches Entwicklungsstudios zu Themen wie Diversität und Repräsentation berät. Aber auch große Titel wie „Baldur`s Gate 3“ (Spieler*innen können sich für ihre Charaktere zwischen mehr Optionen als männlich und weiblich entscheiden) oder „Kingdom Come Deliverance II“ (queere Beziehungen und nicht-weiße Figuren spielen eine Rolle) werden von rechten und rechtsextremen Gamern als Beleg für eine angebliche destruktive „wokeness“ im Gaming angeführt.

Der Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung Martin Sellner versucht durch eine Kritik an Diversität in Games anschlussfähig zu bleiben (Screenshot von X).

Rechtsextremismus auf Gaming-Plattformen

Es gibt zahlreiche Gaming-Plattformen, auf denen Spiele gekauft und bewertet werden, Streaming-Content und Gruppen entstehen oder in Foren und Kommentarsektionen über die unterschiedlichsten Themen diskutiert wird. Rechtsextreme machen auch auf Plattformen wie Steam, Twitch, Discord oder Roblox nur einen geringen Teil der User*innen aus, nutzen aber die Plattformen strategisch, um sich zu vernetzen, zu mobilisieren oder menschenfeindliche Ideologien zu verbreiten. So gibt es auf Steam über 65.000 Profile mit „Hitler“ im Namen. Darunter seit Jahren existierende Profile mit Hitlerbild im Avatar oder anderer NS-Kader. Das Ziel vieler rechtsextremer Angebote im Gaming ist in der Regel nicht die Ansprache komplett Unbeteiligter, sondern die Vernetzung von Menschen mit einem gefestigten rechten Weltbild. Das verdeutlichen zum Beispiel die zahlreichen Wehrmachtsfangruppen, in denen Rechtsextreme mit wenigen Klicks in den Austausch mit anderen treten können.

Auch andere rechtsextreme Symbole und Codes, wie die schwarze Sonne oder Zahlenkombinationen finden sich zuhauf auf der Plattform. Daneben werden Rechtsterroristen glorifiziert oder Betroffene rassistischer Gewalt diffamiert.

Mit wenigen Klicks auffindbar: eindeutige rechtsextreme Profile auf Steam.

Die Debatte über Rechtsterrorismus und Videospiele darf dabei nicht mit Killerspielnarrativen gefüllt werden: Abbildungen und Gewaltdarstellungen sind nicht Kern des Problems, sondern die Gaming-Infrastruktur, die die Vernetzung von Terroristen vereinfacht. Ein trauriges Beispiel liefert das rechtsterroristische Attentat am OEZ in München 2016. Der Täter hatte sich in einer geflüchtetenfeindlichen Steam-Gruppe mit anderen Rechtsextremen über Ideologie, Waffenkauf und Anschlagsideen ausgetauscht. Er ermordete neun Menschen. Ein weiteres Gruppenmitglied tat es ihm gleich und tötete eineinhalb Jahre später in den USA zwei Menschen. Erst 2024 folgte ein weiterer Fall, bei dem sich ein Rechtsterrorist aus der Türkei auf Steam mit einem anderen Rechtsextremisten vernetzte und über Anschlagsideen austauschte. In Folge wurden fünf Menschen verletzt.

Auch andere Gaming- und gamingnahe Plattformen werden von Rechtsextremen genutzt. Auf geschlossenen Discordservern werden „Hate Raids” organisiert, die sich vor allem gegen weibliche und trans Streamer*innen richten. Dutzende Accounts strömen koordiniert in Livestreams oder Kommentarspalten und versuchen, ihre Opfer zu verunsichern, bloßzustellen und anzugreifen. Auf der Livestreaming-Plattform Twitch dagegen bekommen rechte Influencer*innen eine Bühne und in Talkformaten werden rechtsextreme Meinungen als vermeintlich legitime Diskussionspunkte angeführt.

Neben diesen „Mit Rechten reden” Formaten werden in der „Just Chatting” Sektion auf der Plattform mit Blick auf den Krieg in Gaza vermehrt Rassismus und Antisemitismus gegeneinander ausgespielt. Die Taten der antisemitischen Terrorgruppe Hamas werden als legitimer Widerstand dargestellt oder antisemitische Codes und Holocaustrelativierung geteilt. Gleichzeitig gibt es auch differenzierte Streamer*innen, mit einem Blick für die Perspektive der Menschen in Israel, Gaza und den besetzten Gebieten wahrnehmen, Terrorismus benennen und das Handeln der rechtsextremen israelischen Regierung kritisieren.

Rechtsextreme Modifikationen und Spiele

Viele Videospielplattformen bieten die Möglichkeit, Games über sogenannte Modifikationen zu erweitern oder eigene Bereiche (UGC – User generated content) zu erstellen. Bei rechten und reaktionären Gamer*innen sind dabei besonders jene Mods beliebt, die progressive Entwicklungen umkehren und Diversität aus Spielen entfernen. So werden beispielsweise in Fanerweiterungen zu „Spider Man“ Black-Lives-Matter-Graffitis durch völkische und rechtskonservative Bilder ersetzt, während in einer Mod zu „Baldur’s Gate 3” queere- und trans Figuren entfernt oder umgedeutet werden.

Auch im Steamworkshop finden sich neben zahlreichen „Anti-Diversity”-Inhalten auch Modifikationen, welche in Spielen in denen es um den Zweiten Weltkrieg geht, die Waffen-SS als vermeintlich legitime Fraktion integrieren oder einen Gefängnissimulator in einen „KZ Manager” umwandeln.

Auch auf Roblox – einer Gamingplattform die vor allem bei Kindern beliebt ist – werden eigene Spiele (sogenannte „Erlebnisse”) erstellt. Selbst wenn der allergrößte Teil der über 24 Millionen Erlebnisse keine problematischen Inhalte aufweist, gibt es auch von rechten Fans erstellte Mini-Games, in denen sich Spieler*innen als Wehrmachtssoldat durch ein fiktives Berlin 1940 bewegen, Schießübungen auf Hakenkreuzbannern ausüben oder rechtsterroristische Attentate nachspielen. Im Gegensatz zu vielen anderen Plattformen reagiert Roblox jedoch auf die rechtsextremen Instrumentalisierungsversuche und entfernt die Inhalte, wie beispielsweise die Attentate von Halle (2019) oder Buffalo (2022).

Mittlerweile entfernt: Das antisemitische Attentat auf die Synagoge in Halle in Roblox.

Neben diesen Fan-Inhalten auf bestehenden Plattformen und zu existierenden Spielen versuchen rechtsextreme Entwickler auch, mit eigenen Propagandagames einen Vorstoß in den Gamesmarkt, die im Großteil der Gaming-Communitys nicht viel Anklang finden. So versuchte sich zum Beispiel der US-amerikanische Verschwörungsideologe Alex Jones an einem eigenen Run-and-Gun-Shooter, die österreichische FPÖ an einem Moorhuhn-Klon, bei dem Moscheen und Muezzine weggeklickt werden müssen. Ein Studio aus den Reihen der rechtsextremen „Identitären Bewegung” führt gerade mit gleich mehreren Titeln einen Strategiewechsel durch: Rechtsextreme Inhalte werden viel verschleierter dargestellt und dienen mehr der Finanzierung eigener Projekte. Erstes Spielmaterial lässt vermuten, dass auch diese Games keinen Erfolg mit sich bringen. Die „Junge Alternative” veröffentlichte zu den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen ein wenig innovatives Browsergame im Stil von Candy Crush. In einem Wahlwerbespot versuchte die ehemalige Jugendorganisation der AfD bei reaktionären Gamer*innen zu punkten. In dem Spot formuliert eine Stimme aus dem Off: „Gaming ist einfach nicht mehr das, was es mal war. Einmal das falsche Wort im Voice-Chat gedroppt und du wirst gesperrt. Gaming ohne Zensur? Ja!”

Was tun gegen digitalen Hass? Digitale Zivilcourage!

Was auf den ersten Blick wie ein Randphänomen wirkt, ist in Wahrheit Teil einer kalkulierten und mehrgleisigen Strategie: Rechtsextreme Akteur*innen dringen in Gaming-Communitys ein, um ihre Ideologie zu platzieren und langfristig zu normalisieren. Wer sie als unbedeutende Minderheit abtut, übernimmt unbewusst ihre Verharmlosungstaktik und überlässt ihnen damit das Spielfeld.

Was also tun? Der erste und wichtigste Schritt ist es, toxische Inhalte und User*innen zu melden. Weil proaktive Moderation so selten ist, steigert das die Chancen, dass Inhalte, die gegen die Plattformrichtlinien verstoßen, auch entfernt werden. Besonders wichtig ist das bei in Deutschland strafrechtlich relevanten Inhalten wie  Beleidigungen, Drohungen oder verfassungswidrigen Symbolen. Solche Fälle können unkompliziert an die Meldestelle REspect! übermittelt werden. Diese prüft die Inhalte und leitet sie an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden weiter. Zum einen schaffen wiederholte Hinweise bei Plattformen und Behörden ein Problembewusstsein, zum anderen entlastet es Betroffene, wenn sie sich nicht selbst um die Löschung kümmern oder die Aussagen überhaupt lesen müssen.

Solche digitale Zivilcourage ist eine einfache, aber wirkungsvolle Möglichkeit, Betroffene zu unterstützen und den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen. Ob in Gaming-Chats oder Kommentarspalten auf Social Media – es ist wichtig, Position zu beziehen und Gegenrede zu betreiben. Selbst wenn die Chance gering ist, das Gegenüber umzustimmen, verdeutlicht die Gegenrede, dass nicht alle hinter solchen Aussagen stehen. Die schweigenden Mehrheit hat eine niedrigschwellige Möglichkeit, ihre Zustimmung per Like oder kurzem Kommentar zu zeigen. Auch Solidaritätsbekundungen mit Betroffenen – ob öffentlich oder per Privatnachricht – sind wichtig, um ihnen das Gefühl zu nehmen, alleine gegen den digitalen Mob zu stehen. Gerade wenn Kommentare gezielt mit rechten Meinungen geflutet werden, ist strategisches Liken und Kommentieren entscheidend, um Gegenpositionen sichtbar zu machen.

Gemeinsam für eine digitale Zivilgesellschaft

Aber bei all diesen Gegenstrategien liegt die Verantwortung auf den Schultern Einzelner, die dabei an ihre Grenzen kommen können. Hier setzt Good Gaming Support an. Damit rechtsextreme Akteur*innen nicht weiter ungestört Themen setzen und unliebsame Stimmen aus der Gaming-Öffentlichkeit drängen können, bieten das Projekt konkrete Unterstützungsangebote.

Das Beratungsangebot richtet sich an Gamer*innen, Content Creator*innen und Betroffene von Hass und Drohungen, mit Austausch und persönlicher Hilfe zum Umgang mit Angriffen. Content Creator*innen, Veranstalter, E-Sport-Vereine oder andere Akteur*innen können mit Hilfe des Teams Position beziehen. Mit ihrer Reichweite und Vorbildfunktion haben sie großen Einfluss auf das Klima im Online-Diskurs.

Für Pädagogische Fachkräfte die bisher wenig Berührungspunkte mit dem Thema hatten, aber auch für Jugendliche, Gamer*innen, Personen aus der Games Branche oder andere Interessierte bietet Good Gaming Support Workshops und Vorträge an, die zu den Herausforderungen und Chancen digitaler Welten und zu den verschiedenen Formen rechtsextremer Einflussnahme informieren. Grundlage ist ein qualitatives Monitoring von Gaming-Communitys, und die Analyse aktueller Trends, toxischer Narrative und rechtsextremer Strömungen.

Plattformbetreiber, Sicherheitsbehörden und Politik werden mit dem Projekt sensibilisiert. Sie legen die Spielregeln für/auf den Plattformen fest und haben den größten Hebel, um dem toxischen Klima entgegenzuwirken. Gaming darf nicht stigmatisiert oder unter Generalverdacht gestellt werden. Denn der Widerstand gegen digitalen Rechtsextremismus muss mit, nicht gegen Gamer*innen stattfinden. Nur wenn Einzelpersonen, Vereine, die Games-Branche und Content Creator*innen gemeinsam eine starke digitale Zivilgesellschaft bilden und Plattformbetreiber, Sicherheitsbehörden und Politik klare Regeln festlegen und durchsetzen, lässt sich die toxische Diskursvergiftung und extremistische Einflussnahme im Gaming wirksam stoppen.

Zur Gamescom 2025 sollte der Blick also nicht nur auf spannende Neuerscheinungen und auf das Schulterklopfen der deutschen Games-Branche liegen, sondern auch auf die sich leider nach wie vor weiterentwickelnden rechtsextremen Strategien innerhalb der Gaming-Welten.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Neuerscheinung

Enthemmter Antisemitismus: Antisemitische Vorfälle in Thüringen erreichen mit 392 Vorfällen einen neuen Höchststand

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen dokumentiert mit 392 Meldungen einen neuen Höchststand antisemitischer Vorfälle in Thüringen. Die Gesamtzahl der von der Meldestelle dokumentierten Vorfälle stieg im Vergleich zum Vorjahr (297) um rund ein Drittel an. Jeder achte antisemitische Vorfall ist Thüringer Hochschulen zuzuordnen. Erstmals seit Beginn der Dokumentation wurden die meisten Vorfälle der Erscheinungsform „israelbezogener Antisemitismus“ zugeordnet.

Von den 392 Gesamtvorfällen entfielen 291 auf die Kategorie verletzendes Verhalten wie antisemitische Beleidigungen, Kommentare oder Beschmierungen. 54 auf gezielte Sachbeschädigungen, 38 auf Massenzuschriften, 7 auf Bedrohungen und 2 auf Angriffe. Im bundesweiten Vergleich liegt Thüringen mit der dokumentierten Vorfallzahl im Mittelfeld, unter den ostdeutschen Bundesländern (ausgenommen Berlin) steht der Freistaat allerdings an der Spitze.

Auch im Jahr 2024 stand der Großteil der Vorfälle in direktem Zusammenhang mit den Auswirkungen und Folgen des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Militäreinsatz in Gaza. Mit insgesamt 197 erfassten Vorfällen entfielen erstmals seit Beginn der Dokumentation der Großteil der gemeldeten Vorfälle auf die Erscheinungsform „israelbezogener Antisemitismus“. Damit einher geht eine deutliche Steigerung der Vorfälle mit Hintergründen aus dem  links-antiimperialistischen Spektrum (26 Vorfälle) und dem antiisraelischen Aktivismus (63 Vorfälle).

RIAS Thüringen beobachtet in diesem Kontext eine zunehmende Aggressivität und Enthemmung im antiisraelischen Protestgeschehen. So fanden beide erfassten Fälle von tätlichen Angriffen am Rande von antiisraelischen Versammlungen statt. Etwa die Hälfte aller Vorfälle fand an öffentlichen Orten wie der Straße, öffentlichen Gebäuden und Grünanlagen sowie im öffentlichen Personennahverkehr statt. Diese Zahlen verdichten das Bild einer deutlichen antisemitischen Raumnahme, welche für Betroffene einen alltagsprägenden Charakter annehmen kann. Es droht die Entstehung von Angsträumen.

In besonders zugespitzter Form äußert sich diese Entwicklung an den Thüringer Hochschulen, wo sich antisemitische Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr vervierfachten. Hier stieg die Anzahl von 10 Vorfällen im Jahr 2023 auf 46 in 2024. Da jüdische Studierende oder Hochschulmitarbeitende diese Orte nicht meiden können, ohne ihre Ausbildung oder ihren Arbeitsplatz zu gefährden, entstehen für Betroffene an hier besondere Belastungen.

„Das antisemitische Vorfallgeschehen ging 2024 in Thüringen verstärkt von gefährlichen Allianzen verschiedener scheinbar progressiver Gruppierungen, aus dem akademischen, migrantischen und
antiimperialistischen Milieu aus. Hier kam es zu einer deutlichen Steigerung der Aggressivität antisemitischer Äußerungen. Schmierereien wie „Gas Jews“ oder „Zionisten schlachten“ schaffen ein
Klima der Bedrohung und Angst für Jüdinnen und Juden“ erläutert Susanne Zielinski, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen. „Antisemitismus aus diesen Milieus wird allerdings weitaus weniger kritisch adressiert als der aus dem rechtsextremen Spektrum. Diese Verharmlosung führt dazu, dass israelbezogener Antisemitismus ungehindert ins akademische und gesellschaftliche Leben einsickern kann.“

Der Post-Shoah-Antisemitismus blieb mit 40% der Gesamtvorfälle auch 2024 auf einem konstant hohen Niveau. Erneut äußerte sich diese Erscheinungsform durch zahlreiche enthemmte und planvolle Angriffe auf die Erinnerungskultur, die darauf abzielen die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der  NS-Vergangenheit zu delegitimieren. So stellen Stolpersteinbeschädigungen und rechtsextreme Provokationen und Bedrohungen gegenüber NS-Gedenkstätten und ihren Mitarbeitenden ein kontinuierliches Grundrauschen im Vorfallgeschehen dar.

„Die im aktuellen RIAS-Bericht vorgelegten Zahlen spiegeln eine bittere Realität wider: Seit dem 7. Oktober 2023 hat antisemitische Gewalt und Anfeindung in erschütterndem Maße zugenommen. Auch Jüdinnen und Juden in Thüringen sind betroffen – viele sind in Sorge, manche leben in Angst. Antisemitismus – in welcher Form auch immer – richtet sich gegen uns alle. Für eine sachliche
Auseinandersetzung und wirksame Gegenmaßnahmen ist die Arbeit von RIAS unverzichtbar. Die Bekämpfung des Antisemitismus erfordert das Engagement der gesamten Zivilgesellschaft“, kommentiert Prof. Dr.-Ing. habil. Reinhard Schramm, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.


RIAS Thüringen ist eine zivilgesellschaftliche Dokumentations- und Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Thüringen in der Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung und wird von der Thüringer Staatskanzlei gefördert.

AfD Brandenburg gesichert rechtsextrem: Der gefährlichste Landesverband überhaupt?

Symbolbild: Gutachten des Verfassungsschutzes

Der Verfassungsschutz stuft die AfD Brandenburg nach politischem Hin und Her nun offiziell als „gesichert rechtsextrem“ ein. Das ist keine Überraschung – aber ein längst überfälliger Schritt. Das 142 Seiten starke Gutachten des Verfassungsschutzes liest sich wie ein Handbuch zum planvollen Demokratieabbau.

Von Lorenz Blumenthaler

Nach langem politischen hin und her bestätigt der Brandenburger Verfassungsschutz, was alle, die es wissen wollen, unlängst wissen: Der Brandenburger Landesverband ist gesichert rechtsextrem!

Nach den Landesverbänden in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt ist der Landesverband Brandenburg der Vierte, der als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde.

„Taktische Zurückhaltung“ – Fehlanzeige! So steht es im Gutachten. Die Beweislast ist erschlagend. Auf 142 Seiten führt die Behörde Belege und Beweise auf, inwiefern der Brandenburger Landesverband an der Abschaffung der Demokratie arbeitet.

  1. „Remigration“ als Kern der verfassungsfeindlichen Agenda
    Der Begriff „Remigration“ ist in Brandenburgs AfD mehr als nur ein Schlagwort – er ist zentraler, verfassungsfeindlicher Kern. Die Führung betreibt einen regelrechten rassistischen Überbietungswettbewerb. Landeschef René Springer versprach 2024, nach Bekanntwerden des Potsdamer „Remigrations“-Treffens: „Wir werden Ausländer in ihre Heimat zurückführen. Millionenfach. Das ist kein #Geheimplan. Das ist ein Versprechen.“ Die Abgeordnete Lena Kotré ging noch weiter: Auch eingebürgerte Migrant*innen sollen das Land verlassen – „freiwillig“ sei dabei nicht das Mittel der Wahl. Die AfD Brandenburg strebt eine ethnisch definierte „Volksgemeinschaft“ an, in der Staatsbürger*innen je nach Herkunft ungleich behandelt werden. Seit Sommer 2024 bezeichnet sie sich als „Partei der Deutschen“.
  2. Enge Vernetzung mit dem rechtsextremen Vorfeld
    In kaum einem anderen Landesverband sind die Verbindungen zur organisierten extremen Rechten so eng wie in Brandenburg: Kontakte zur Identitären Bewegung, zum „Compact“-Magazin, zum Bürgerstammtisch Jüterbog – und zum „Institut für Staatspolitik“ (IfS). Dessen ehemaliger Leiter Erik Lehnert ist heute Fraktionsgeschäftsführer der AfD im Landtag. Lehnert schwärmt von der faschistoiden Diktatur Salazars in Portugal, lehnt den „Parteienstaat“ ab und fordert dessen Abschaffung, wenn er einer „Gesundung“ im Weg stehe. Beim Sommerfest des extrem rechten Antaios-Verlags erklärte er, dass man „anders vorgehen“ müsse, wenn die Verfassung im Weg stehe. Expliziter äußert sich auch ein Björn Höcke nicht.
  3. Systemsturz – im Zweifel mit Gewalt!
    Brandenburgs AfD belässt es nicht bei rechtsextremer „Regierungskritik“. Sie arbeitet offen und planvoll auf einen Sturz des politischen Systems hin. Marlon Deter, Vorsitzender des Kreisverbands Potsdam-Mittelmark, rief 2024: „Wir werden das Imperium der Kartellparteien zum Einsturz bringen.“
  4. Völlige Entgrenzung des Rechtsextremismus
    In Südbrandenburg strebt die AfD unlängst „kulturelle Hegemonie“ an. In Jüterbog fanden Parteitage mit militanten Rechtsextremen im Saal statt. Der lokale Bürgerstammtisch verbreitet NS-Ästhetik, AfD-Abgeordnete treten dort völlig unverfroren auf.
  5. Die Menschenwürde wird mit Füßen getreten
    Die Verbreitung rassistischer Verschwörungserzählungen, wie vom „Großen Austausch“ und einer angeblichen „Umvolkung“, gehören zum festen Repertoire. René Springer erklärte: „Kopftücher des Islam werden das Leichentuch Europas.“ Steffen Kotré spricht von „Messereinwanderung“.
  6. Systematische Angriffe auf das Rechtsstaatsprinzip
    Politische Gegner*innen werden als „Verbrecher“ oder „Geisteskranke“ diffamiert. AfD-Fraktionschef Berndt forderte, Ministerpräsident Woidke vor Gericht zu stellen. Abgeordneter Lars Hünich drohte: „Wir sorgen dafür, dass die Handschellen klicken!“ Gewalt gilt längst als legitimes politisches Mittel.
  7. Verzahnung & Vernetzung mit militanten Neonazis
    Neonazi-Kampfsportler sichern AfD-Veranstaltungen. Abgeordnete werben für und bei militanten Jungnazi-Gruppen wie „Junge Tat“ und teilen Inhalte rechtsextremer Musiklabels. Der parlamentarische Arm militanter Neonazis sitzt in Brandenburg längst im Landtag.

Fazit

Die AfD Brandenburg ist ein verfassungsfeindliches Projekt – eng verzahnt mit militanten Neonazis, die schon heute Gewalt gegen politische Gegner*innen anwenden. Ihre Netzwerke reichen bis in den Verfassungsschutz. Dass das Gutachten vorab geleakt wurde – ausgerechnet an das rechtsalternative Medium Nius – spricht Bände. Demokratie verteidigen heißt: Strukturen klar benennen und ihnen entschlossen entgegentreten.

Analyse

Ideologie: Was ist eigentlich Sozialdarwinismus?

Im KZ Sachsenhausen erinnern zwei Stelen an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus. Die linke Stele trägt den schwarzen Winkel und erinnert an die als „Asoziale“ Stigmatisierten. Die rechte Stele trägt den grünen Winkel und erinnert an die als „Berufsverbrecher“ Stigmatisierten. (Quelle: Foto: Amadeu Antonio Stiftung / Luisa Gerdsmeyer)

Menschen in „wertvoll” und „nutzlos” einzuteilen, kann tödlich enden. Sozialdarwinismus gibt es in der Mitte der Gesellschaft genauso wie bei rechten Schlägern. 

Von Merle Stöver 

Im November 2000 ermordeten drei Neonazis in Greifswald Eckhard Rütz. Sie überfielen den obdachlosen 42-Jährigen an seinem Schlafplatz vor der Uni-Mensa und misshandelten ihn bewaffnet mit Baumstützpfählen. Er verstarb noch am Tatort. Die Tat begründete einer der Täter in einer Vernehmung damit, dass Eckhard Rütz „dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche gelegen“ hätte. Sie hätten ihm einen „Denkzettel“ verpassen wollen, meinte ein Mittäter.

Sozialdarwinismus ist eine der zentralen Säulen des Rechtsextremismus – doch wer ihn nur hier vermutet, irrt. Vorstellungen, dass die Gesellschaft sich um ein angebliches Recht des Stärkeren konstituiere oder dass manche nicht genug leisteten und dadurch eine Last, „nutzlos“ oder „minderwertig“ seien, sind sowohl gesellschaftlich als auch historisch auf einem breiten Kontinuum zu verorten.

Mit dem Satz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ befürwortete 2006 etwa Franz Müntefering (SPD), seinerzeit Bundesminister für Arbeit und Soziales, das sogenannte Optimierungsgesetz der Hartz-IV-Reform und die darin vorgesehenen Kontrollbesuche bei Bezieher*innen des Arbeitslosengeldes. Eine ähnliche Schlagrichtung hatten einige Äußerungen während der Corona-Pandemie. So zweifelte die Publizistin Julia Löhr bereits im März 2020 die Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen an und fragte in der FAZ: „Rechtfertigt der Schutz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, für die das Virus lebensbedrohlich ist, erhebliche Teile der Gesellschaft in wirtschaftliche Existenzängste zu stürzen?“

Bei aller Unterschiedlichkeit laufen die drei Beispiele auf die Grundprinzipien des Sozialdarwinismus hinaus. Dass den Genannten derartige Äußerungen und Forderungen offenbar leicht über die Lippen gehen, hat im Wesentlichen zwei Gründe: Einerseits sind derartige Positionen weit verbreitet und schlagen sich auch etwa in den Umfragen der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nieder. Andererseits erfahren die Positionen zugleich nur wenig Tabuisierung und Gegenwehr. Diejenigen, die durch derartige Überzeugungen diskriminiert oder gar gefährdet werden, verfügen oft über keine Lobby, waren historisch Verfolgung ausgesetzt und erleben heute Marginalisierung, Ausschluss und Verdrängung.

Was ist Sozialdarwinismus?

Den Kern des Sozialdarwinismus als Ideologie und Überzeugung bilden die Annahmen, dass es in einer Gesellschaft Stärkere und Schwächere gebe und dass das Recht des Stärkeren gelte. Im Fokus steht dabei der vermeintliche (ökonomische) Nutzen von Menschen für die Gemeinschaft. Diese Wahrnehmung und Einteilung von Menschen in „wertvoll/nützlich“ und „wertlos/nutzlos“ äußert sich insbesondere in der Abwertung von Wohnungslosen, Sozialhilfeempfänger*innen, Langzeitarbeitslosen und Drogenkonsument*innen, aber auch in ableistischer Form von Menschen mit Behinderungen. Aus dieser Abwertung folgen im Sozialdarwinismus meist Maßnahmen und Gewalt gegen die Genannten.

Anders als es etwa Formen von Rassismus inhärent ist, werden Betroffene nicht als konkrete Bedrohung von außen oder als Feind*innen markiert, die es zu bekämpfen gelte. Sie werden in erster Linie als Last für die Gemeinschaft gesehen und daraus folgend als innere Gefahr. Sozialdarwinismus ist eine Ideologie, die nur im Zusammenhang mit der Vorstellung einer Gemeinschaft verstanden werden kann, wobei Gemeinschaft „Volk“, „Volkskörper“, „Volksgemeinschaft“, aber auch „Gesellschaft“ und „die Wirtschaft“ meinen kann. Das Individuum wird danach beurteilt, wie viel es angeblich für die Gemeinschaft leistet, wie „nützlich“ es ist oder ob es sie womöglich zurückhält oder gar verdirbt.

Militärischer Drill, Zwangsarbeit und Vernichtung

Sozialdarwinismus ist eine historisch gewachsene Ideologie und Praxis, deren Theoretisierung auf die Evolutionstheorie nach Charles Darwin (1809 – 1882) zurückgeht. Darwins Lehre, nach der sich die anpassungsfähigsten Tiere und Pflanzen durchsetzen, übertrug unter anderem Herbert Spencer (1820 – 1903) pseudowissenschaftlich auf das menschliche Zusammenleben. Diese Idee fand von Beginn an über alle politischen Lager hinweg zahlreiche Anhänger*innen.

Im Deutschen Kaiserreich galt zunächst beispielsweise die Arbeits- und Obdachlosigkeit insbesondere Alleinstehender als selbstverschuldete Konsequenz fehlender Arbeitsdisziplin und devianter Moralvorstellungen. Obwohl die Zuschreibungen sich unterschieden, Männer als „arbeitsscheue Vagabunden“ geschmäht und Frauen der Prostitution verdächtigt wurden, war in beiden Fällen die Annahme zentral, dass sie mit Zwang in die Gesellschaft reintegriert werden müssten. Mit den Arbeitshäusern entstand ein System aus Gewalt, Zwangsarbeit und des militärischen Drills, das der Disziplinierung der Menschen galt, die als deviant markiert wurden.

Zum Beginn des 20. Jahrhunderts gewannen schließlich eugenische Annahmen Einfluss, denen zufolge deviantes Verhalten auf pathologische Ursachen (etwa den pseudowissenschaftlich belegten „Wandertrieb“) zurückzuführen sei. Zwar wurde dadurch die Sinnhaftigkeit von Strafen hinterfragt, weil mit der Pathologisierung das Attestieren einer Schuldunfähigkeit einherging, doch wurden nun Forderungen nach Zwangsbewahrung und sogar -sterilisierung laut. Damit stellte sich in der Weimarer Republik in den 1920er Jahren der Kern sozialdarwinistischer Überzeugungen heraus: Personen sollten nicht nur aus der Gemeinschaft entfernt und weggesperrt werden, vielmehr sollte ihre Fortpflanzung verhindert werden. „Ausmerze“ galt als sozialrevolutionäre Idee, die eine gesundere, leistungsstärkere Gesellschaft hervorbringe und die das Leiden der Schwachen nicht unnötig verlängere.

Die Nationalsozialisten nahmen diese Vorarbeit nach der Machtübertragung 1933 dankbar auf. Als „asozial“ und „gemeinschaftsfremd“ galt, wer nicht den Normen der „Volksgemeinschaft“ entsprach. Diese wiederum stand als dem Führerprinzip untergeordnete Gemeinschaft der „deutschen Volksgenossen“ im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Weltanschauung. Der Sozialdarwinismus der Nationalsozialisten zielte darauf, die „Volksgemeinschaft“ von denen zu befreien, die zu „Ballastexistenzen“ erklärt wurden. Auf der Grundlage verschiedener Gesetze und Erlässe wurden nun Menschen als „minderwertig“ und „erbkrank“ stigmatisiert, entmündigt, zwangssterilisiert und in Arbeitshäuser, Psychiatrien, Tötungsanstalten und Konzentrationslager verschleppt. Sie wurden gezielt und systematisch ermordet oder fielen der schweren Zwangsarbeit, Krankheiten und medizinischen Experimenten zum Opfer.

Die meisten Überlebenden erhielten keine Entschädigungen und stießen in beiden deutschen Nachfolgestaaten auf Verleugnung, Isolation und Ablehnung. Erst Ende der 1960er Jahre wurden in der BRD die Arbeitshäuser geschlossen und die Zwangsunterbringung von „Gefährdeten“ verworfen. Die DDR schuf mit dem sogenannten „Asozialenparagrafen“ (§ 249 StGB DDR) ein strenges Instrument der Sozialdisziplinierung. Bis zur Wiedervereinigung blieben die Zahlen derer, die auf dieser Grundlage zu Haft und Arbeitserziehung verurteilt wurden, konstant hoch.

Erst 2020 erkannte der Deutsche Bundestag die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten als Opfer des Nationalsozialismus an. Die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde („Euthanasie“) und der Zwangssterilisationen wurden sogar erst 2025 explizit anerkannt. Die meisten Entschädigungsberechtigten waren zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben. Die AfD enthielt sich als einzige Fraktion bei der Abstimmung im Januar 2020 und begründete dies mit der fadenscheinigen Behauptung, dass unter denen, die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden, Kriminelle gewesen seien, die demnach nicht pauschal zu Opfern des Nationalsozialismus erklärt werden könnten.

Worte und Taten der Rechtsextremen

Im Sozialdarwinismus der extremen Rechten verbinden sich zwei Elemente miteinander: So basiert er einerseits auf der Relativierung oder Glorifizierung der nationalsozialistischen Verbrechen und Täter sowie der Verhöhnung der Opfer. Andererseits gilt ihm die bereits beschriebene antiegalitaristische Überzeugung als Grundpfeiler, nach der Menschen von Natur aus unterschiedlich seien und es sich dabei um eine naturgegebene Hierarchie handele. Soziale Ungleichheiten folgten demnach vermeintlich nicht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern aus einer unveränderbaren Ungleichwertigkeit. Daraus folgt die Ablehnung jedes gesellschaftlichen Solidarsystems, wie 2007 eine Plenarrede des damaligen Fraktionsvorsitzenden der NPD (heute Die Heimat) in Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs, deutlich machte. Pastörs sagte: „Unser erstes Augenmerk hat dem Gesunden und Starken zu gelten. Dieses ist zuallererst zu fördern und zu unterstützen. Das ist keine Selektion, sondern einfache Logik.“

Die AfD übersetzt das sozialdarwinistische Grundprinzip in konkrete Forderungen: Sie wirbt für die Verpflichtung von Bürgergeld-Empfänger*innen zu gemeinnütziger Arbeit. Sollten diese dem nicht nachkommen, fordert die AfD, zunächst lediglich Sachleistungen und schließlich gar keine Leistungen mehr auszugeben. Dass sich auch die Position zu Inklusionspolitik hier einfügt, belegen Äußerungen Björn Höckes. Der Thüringer AfD-Vorsitzende diffamierte im MDR-Sommerinterview 2023 inklusive Beschulung von Schüler*innen mit und ohne Behinderungen als „Ideologieprojekt“ und „Belastungsfaktor“, der Schüler*innen nicht leistungsfähiger mache und von dem das Bildungssystem befreit werden müsste. An anderer Stelle verbinden Rechtsextreme Sozialdarwinismus zudem oft mit Rassismus und Antiziganismus. Dies mündet in Einwanderungsdebatten in der Hetze gegen vermeintliche „Sozialschmarotzer“ und in Forderungen nach der Abschaffung des Asylrechts oder der EU-Freizügigkeit.

Rechtsextreme setzen diese Einstellungen und Überzeugungen oft in die Tat um. Die Vorstellung eines homogenen Volkes ohne Abweichungen und des Rechtes der Stärkeren dient ihnen als Motivation für Einschüchterung, Gewalt und sogar Mord: Mindestens 23 Menschen wurden seit 1990 aus sozialdarwinistischen Motiven getötet – weil sie wie Horst Pulter obdachlos waren, weil sie wie Dieter Eich Sozialhilfeempfänger*innen waren oder aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Behinderungen wie im Fall von Jörg Danek. Die Zahl der Fälle, die nicht staatlich anerkannt wurden, denen aber von zivilgesellschaftlicher Seite sozialdarwinistische Motive nachgewiesen wurden, ist wesentlich höher.

In der Mitte

An dieser Stelle ist die Brücke erneut zur „Mitte“ der Gesellschaft zu schlagen: Denn insbesondere sozialdarwinistisch motivierte Taten werden oftmals entpolitisiert, nicht als rechte Gewalt anerkannt und geraten schnell in Vergessenheit. Meist findet weder eine Auseinandersetzung mit den Tatmotiven noch mit Maßnahmen statt, die die betroffenen Menschen effektiv vor Hassverbrechen schützen würden. Stattdessen begegnen viele den Opfern mit Gleichgültigkeit.

In den repräsentativen Umfragen der Mitte-Studie 2022/2023 stimmten der Aussage, dass bettelnde Obdachlose aus den Fußgängerzonen entfernt werden sollten, 19,8 Prozent mindestens „eher“ und weitere 22,4 Prozent „teils“ zu. Sogar 34,8 Prozent waren mindestens „eher“ und weitere 31,2 Prozent zumindest „teils“ der Meinung, dass Langzeitarbeitslose sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machten. Diese Zustimmungswerte weisen zum einen auf feindliche Einstellungen gegenüber den Genannten hin, zum anderen impliziert erstere Aussage sogar einen Handlungsaufruf, der von kommunalen Verwaltungen, Polizei und Sicherheitsdiensten an vielen Orten auch in die Tat umgesetzt wird.

Die eingangs genannten Beispiele – der Mord an Eckhard Rütz, die Äußerung Münteferings und die Prioritätensetzung während der Pandemie – zeigen die Flexibilität dessen, welche Konsequenzen ideologisch für die angeblich Schwächeren veispielorgesehen sind: Sie variieren zwischen Sanktionierung und Disziplinierung auf der einen und Vernichtung und Mord auf der anderen Seite. Lucius Teidelbaum spricht hier von einem manifesten Sozialdarwinismus, der die Überzeugungen und Handlungen der Rechtsextremen meint, und einem latenten Sozialdarwinismus, der sich in Einstellungen und ihrer Übersetzung in Leistungskürzungen oder Platzverweisen zeige. Gemein ist beidem jedoch eines: Dass die Würde eines Menschen von seiner Leistung abhänge.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Monitoring

Rechtes Frauennetzwerk auf Instagram – eine Analyse neurechter Influencerinnen und ihrer Wirkmacht

Rechtsextreme nutzen TikTok vielfältig für Inhalte - aber vor allem um für die Unterstützer*innen-Werbung unter Jugendlichen. (Quelle: Belltower.News / Bild generiert mit DALL-E)

von Gideon Wetzel, Sächsische Forschungs- und Dokumentationsstelle für Demokratie, Amadeu Antonio Stiftung

Der Text ist Online-Teil der Veröffentlichung „(R)echte Männer und Frauen. Analysen zu Geschlecht und Rechtsextremismus

Soziale Medien sind eines der wichtigsten Instrumente extrem rechter Akteur*innen, um ihre Inhalte zu verbreiten und Zielgruppen fernab ihrer Stammklientel zu erreichen. Immer wieder beweisen vor allem Mitglieder des AfD-Umfelds, aber auch neurechte Influencer*innen hier besonderes Geschick – doch wie sind diese untereinander vernetzt, welcher ideologische Background kennzeichnet sie und welchen Einfluss entfalten sie in nichtrechte Sphären? Die Analyse eines Netzwerks neurechter Influencer*innen gibt Einblicke zu diesen Fragen.

Soziale Plattformen wie Instagram sind für die extreme und insbesondere die selbsternannte Neue Rechte ein wichtiges Medium bei der Agitation im vorpolitischen Raum. Hier trifft man auf breite Bevölkerungsschichten, politische Gegenspieler*innen und den sogenannten Mainstream. Im vorpolitischen Raum, also auch in Teilen der Zivilgesellschaft, sieht die extreme Rechte ein wichtiges Betätigungsfeld im Kampf um kulturelle Hegemonie, welche als Voraussetzung für einen politischen Wandel angesehen wird. „In den intimen Öffentlichkeiten des Internets sind rechte Gefühle omnipräsent und für Nutzer*innen beheimatend. Sie bestimmen vielfach das Diskursklima, sind zu wirkmächtigen Parallelwelten mutiert, drängen auf Realität und stellen sie in massenwirksamer Form für viele bereit“ (Strick 2021: 22).


Der Plattform-Algorithmus

  • Instagrams Hauptmedium sind Bilder, aber auch Videos (Reels) haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Stories ad hoc und affektiv gestalteter und somit authentischerer Content sind von großer Bedeutung und werden ästhetisiert aufbereitet. Eben jene vergänglichen, weil innerhalb von 24 Stunden von der Plattform verschwindenden Stories werden dabei gern genutzt, um explizitere Inhalte zu teilen – zumal die automatische Löschung dieser Content-Form sie schwerer moderierbar macht.
  • Akteur*innen auf Instagram unterliegen den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie. Grundlage für die Steuerung dieser Aufmerksamkeit ist der geheimnisumwobene „Algorithmus“. Einfach definiert sind Algorithmen Handlungsvorschriften zur Lösung eines Problems. Im Kontext von Sozialen Medien ist damit insbesondere die Verteilung und Priorisierung von Inhalten, welche in den Feed jede*r Nutzer*in eingespeist werden, gemeint. Der Algorithmus löst also grob gesagt das Problem, die Inhalte möglichst entsprechend der individuellen Aufmerksamkeitsstruktur der einzelnen Nutzer*innen zu priorisieren und zu verteilen. Dafür entwickeln Plattformen wie Instagram den Algorithmus stetig weiter und passen ihn an aktuelle technische sowie gesellschaftliche Dynamiken an. Im Grunde geht es darum, die Nutzer*innen möglichst viel Zeit auf der Plattform verbringen zu lassen, da somit auch die aufgebrachte Zeit für den Konsum von Werbung steigt – welche die Haupteinnahmequelle für kommerzielle Plattformen wie Instagram ist.
  • Somit werden von Instagram auch Profile bevorzugt behandelt, die möglichst viel Aufmerksamkeit binden. Entsprechend erfolgreiche Inhalte werden von der Plattform in die Vorschläge und Feeds jener Nutzer*innen gespült, die den Content-Creator*innen nicht folgen: Sie gehen viral. Diesen Effekt will sich selbstverständlich auch die Neue Rechte zu Nutzen machen. Viele Strategien zielen auf emotional ansprechende, empörende, die Aufmerksamkeit stärker vereinnahmende Videos ab. Da eine Anfeindung und Abwertung marginalisierter Gruppen aktuell gegen die meisten Nutzungsbedingungen Sozialer Plattformen verstößt, werden solche politische Ansichten und Botschaften in Codes versteckt. Sogenannte Dogwhistles[1] oder die Verwendung von Memes spielen hierbei eine große Rolle (MISRIK 2023).
  • Einen positiven Effekt auf die Verbreitung von Inhalten kann ebenfalls der Zusammenschluss von Akteur*innen durch gegenseitiges Folgen, Teilen, Liken, Kommentieren und Bewerben haben, damit der Instagram-Algorithmus den Inhalten eine höhere Relevanz beimisst. Wir reden hierbei von einem Netzwerk.

Im Folgenden wird ein Netzwerk von neurechten Influencerinnen auf Instagram untersucht. Uns interessiert, wie sie vernetzt sind, welchen ideologischen Background sie haben, wie anschlussfähig sie an nicht rechte Netzwerke sind und wie sich die Inhalte ihrer Postings und Stories einordnen lassen. Ausgangspunkt der Untersuchung sind 17 öffentliche Profile bekannter und aktuell aktiver Akteurinnen der extrem rechten und neurechten Szene, welche Charakteristika von Influencerinnen (s. Beitrag „Die Macht der Inszenierung“) aufweisen. Diese „Persons of Interest“ (POIs) wurden durch die Kolleg*innen von De:Hate und der Fachstelle Gender, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus qualitativ evaluiert und in Zusammenarbeit mit Expert*innen und Netzwerkpartner*innen der Amadeu Antonio Stiftung ausgewählt.

Der Großteil der Profile ist dem Umfeld der AfD und deren Jugendorganisation Junge Alternative zuzuordnen. Ebenso sind einige Akteurinnen der Identitären Bewegung (IB) enthalten. Das Phänomen von Influencerinnen via Social Media ließ sich in der extremen Rechten zuerst bei der IB verorten. Nachdem das Bundesamt für Verfassungsschutz die IB Deutschland 2019 als rechtsextrem einstufte, ist zu beobachten, dass sich Gruppierungen, welche der IB zuzuordnen sind, unter anderen Namen oder in privaten Profilen auftreten – möglicherweise, um einer Überwachung zu entgehen. Einzelpersonen der IB organisieren sich außerdem zunehmend in der Jungen Alternative. Aus dieser Melange gründete sich in AfD-Nähe die Frauen-Vereinigung Lukreta, welche gezielt an emanzipatorische Diskurse mit rückwärtsgewandten Geschlechterrollen andocken will und somit in Tradition mit der #120db-Kampagne der Identitären Bewegung steht (Hansen 2022). Das Lukreta Profil sowie zugehörige Vertreterinnen sind in der Untersuchung enthalten. Weitere Eckpfeiler bilden die Profile der Musikerin Runa, welche dem extrem rechten Label Neuer Deutscher Standard (NDS) angehört, sowie der Influencerin „eingollan“. Runa, die mit bürgerlichen Namen Ramona Naggert heißt, macht Rap-Musik mit nationalistischen und extrem rechten Inhalten (Bernstein 2022). Als treue Teilnehmerin der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Sachsen verarbeitet sie außerdem Themen dieser Bewegung. Michelle Gollan („eingollan“), welche seit kurzem mit dem schon länger aktiven rechten Youtuber Leonard Jäger („Ketzer der Neuzeit“), aber auch in Soloformaten in Erscheinung tritt, hat die höchste Zahl an Follower*innen unter den untersuchten Profilen. Zusammen mit Jäger besucht sie Demonstrationen des politischen Gegenübers. Beide versuchen dort, entweder durch suggestive Befragung der Teilnehmenden und willkürliche Schnitte oder durch die Provokation und Dokumentation des eigenen Ausschlusses von der Demonstration vermeintlich entlarvende und verhöhnende Szenen einzufangen. Dieses Format sorgt für hohe Klickzahlen und Reichweite, aber auch satirische Rollenspiele und Reaction-Videos gehören zum Repertoire der sich in Ausbildung befindenden Schauspielerin.

Die Instagram-Profile der POIs wurden zum einen nach Follower*innen, die möglichst vielen der POIs folgen und zum anderen nach Profilen, denen wiederum möglichst viele der POIs folgen, untersucht. Dabei können Follower*innen Aufschluss über mögliche Anknüpfungen an nicht rechte Themenwelten und Kreise geben. Wiederum Profile, denen die POIs folgen zeigen uns welche Einflüsse auf diese wirken und zeichnen somit auch ein Bild von deren ideologischen Background.

Dafür wurden die Profile der POIs im Laufe einer Woche im Juli 2023 nach den folgenden und gefolgten Profilen gescannt[2]. Unter den gefolgten Profilen wurden jene herausgefiltert, welchen mehr als fünf unserer POIs folgen: Das ergab insgesamt 14 Profile. Um aus den insgesamt 63.559 folgenden Profilen eine repräsentative Menge für die Untersuchung zu erhalten, wurden all jene herausgefiltert, welche öffentlich sind, jeweils mehr als fünf der POIs folgen und selbst mehr als 1.000 Follower*innen aufwiesen – diesen könnte mitunter eine gewisse Multiplikator*innenrolle zugeschrieben werden. Die Auswahl ergab 147 Profile, welche anschließend nach ihrer thematischen Verortung und einer möglichen Verbreitung von Inhalten der POIs untersucht wurden.

Die Einflüsse auf die „Persons of Interest“

Als Einflüsse der POIs ergaben sich an erster Stelle – mit jeweils zehn der POIs als Follower*innen – die Wochenzeitung Junge Freiheit, welche von Politikwissenschaftler*innen als das Sprachrohr der sog. Neuen Rechten gesehen wird, und Alice Weidel, welche wie auch Beatrix von Storch (Platz 5) eine wichtige weibliche Führungspersönlichkeit der AfD ist. Auf Platz 2, mit neun folgenden POIs, steht der Account des Youtubers Leonard Jäger („Ketzer der Neuzeit“), dessen Videos verschwörungsideologische[3] oder queerfeindliche Inhalte transportieren. In jüngster Zeit tritt Jäger in seinen Videos häufig mit Michelle Gollan („eingollan“) auf, welche eine unserer POIs ist. Die weiteren Influencer-Profile sind überwiegend der AfD zuzuordnen. Es finden sich die Profile der Bundestagsfraktion (Platz 3; 8 POIs), der AfD Nordrhein-Westfalen (Platz 2 und 4) und der Jungen Alternative Dresden (Platz 4; 7 POIs). Mit Björn Höcke (Platz 2) und Stephan Brandner (Platz 5) haben wir bekannte Vertreter des ehemaligen, als extrem rechts geltenden „Flügels” der AfD, sowie die AfD-Politiker Tino Chrupalla (3), Roger Beckamp (5) und Sebastian Wippel (5). Auf Platz 4 liegt mit Freya Rosi eine Influencerin aus der Tradwife Szene (s. Beitrag „Tradwives statt trans Girls“, S. 28 der Broschüre), welche aktuell jedoch nicht aktiv ist.

Abb. 1: Netzwerkdiagramm – Einflüsse der POIs (in Rot, Einflüsse in Blau)

 

Platzierung von Instagram Profilen nach Anzahl der folgenden POIs

Platz Profil-Name Anzahl der

folgenden POIs

1 JUNGE FREIHEIT 10
Alice Weidel 10
2 Leonard Jäger (ketzerderneuzeit) 9
AfD NRW 9
Björn Höcke 9
3 Alternative für Deutschland 8
Tino Chrupalla 8
4 Junge Alternative Dresden 7
Freya Rosi 7
AfD-Fraktion NRW 7
5 Beatrix von Storch 6
Roger Beckamp MdB 6
Stephan Brandner 6
Sebastian Wippel 6

 

Insgesamt folgen die POIs also vor allem bekannten Persönlichkeiten und regionalen Ablegern der AfD. Die Nähe zur AfD verwundert nicht, da ein Großteil der POIs selbst der Partei zuzuordnen ist. Jedoch stechen die zwei Akteure des ehemaligen Flügels und AfD-Abgeordnete aus den Bundesländern Sachsen und Thüringen hervor, wo die AfD zur Bundestagswahl 2021 den höchsten Stimmenanteil unter den Parteien bekam. Auffällig ist auch die große Überschneidung über die neurechte Wochenzeitung Junge Freiheit. Weiterhin finden sich zwei namhafte und erfolgreiche Influencer*innen aus dem rechten Spektrum unter den Einflüssen.

Ein neurechtes Netzwerk bei Instagram

Die Follower*innen der POIs haben wir auf zwei Fragen hin überprüft: Gibt es hier Profile, welche nicht auf dem ersten Blick dem rechten Spektrum zuzuordnen sind, aber dennoch entsprechende Inhalte verbreiten? An welche anderen Themenwelten docken unsere POIs über solche Brückenprofile an?

Abb 2: Netzwerkdiagramm POIs und Follower*innen

Das Netzwerkdiagramm zeigt die Verknüpfung zwischen unseren POIs und den herausgefilterten 147 Follower*innen. Es wird nicht gezeigt, welchen Profilen die Follower*innen außer den POIs folgen – wenn diese sich z.B. gegenseitig folgen, ist dies hier nicht zu sehen. Tauchen POIs jedoch als Follower*innen der jeweils anderen POIs auf, sind diese ebenfalls in der Darstellung verknüpft. Der Übersicht halber sind nur Knoten beschriftet, welche mehr als zwölf unserer POIs folgen. Die rot gefärbten Knoten kennzeichnen die POIs selbst. Der Algorithmus, welcher das Netzwerkdiagramm erzeugt, ordnet die Punkte anhand ihrer Verknüpfungen zueinander an. Folglich sind sich in dieser Darstellung Punkte näher, welche sich auch die meisten Follower*innen teilen. Die Abbildung lässt somit Rückschlüsse auf das Verhältnis der Profile zueinander zu.

In der Analyse zeigt sich eine starke Vernetzung der POIs untereinander und mit vielen Persönlichkeiten vor allem aus dem AfD-Umfeld. Das verwundert nicht, stammt doch der überwiegende Teil der POIs selbst aus dem AfD-Dunstkreis. Hieraus ergibt sich auch die starke Vernetzung mit AfD-Profilen und ein überwiegend aus AfD-Profilen bestehender Cluster in der Mitte.

Das gut vernetzte Zentrum bilden Akteur*innen der extrem rechten „Fraueninitiative“ Lukreta: Anna Leisten, Marie-Thérèse Kaiser, Mary Khan, Seli Enxhi sowie das Profil von Lukreta selbst. In der Verdichtung unten rechts finden sich die Profile aus der AfD oder deren Umfeld. Wiebke Muhsal bildet dabei das Zentrum. Die beiden IB-Aktivistinnen Anni Hunecke und Paula Winterfeldt, Hauptprotagonistin von #120db (Kulaçatan 2021), stehen eher am Rand des Clusters (linke Seite), zusammen mit weiteren Follower*innen, welche dem identitären sowie extrem rechten Spektrum zugeordnet werden können. Hier lässt sich auch das Profil von Reinhild Boßdorf verorten und das der Rapperin Runa vom extrem rechten Label NDS.

Am oberen Rand und mit größerem Abstand zum Hauptfeld befindet sich das Profil von eingollan, diese weist kaum Verknüpfungen zu den restlichen POIs auf, jedoch zu vielen anderen neurechten Profilen. Eingollan verzeichnet hier aktuell einen Erfolg mit rechten Inhalten. Die meisten Follower*innen aus dem Bereich Lifestyle lassen sich zwischen eingollan und dem IB-Cluster verorten. Weiterhin sehen wir drei Follower*innen aus dem extrem rechten Spektrum im unmittelbaren Umfeld von eingollan. Follower*innen mit persönlichen, nicht offen rechten Profilen sehen wir gleichmäßig verteilt im Netzwerk.

Die starke Vernetzung der POI-Profile und gegenseitiges Liken sowie Teilen entfalten einen verstärkenden Effekt auf die Inhalte, welche darüber verbreitet werden. Aber nicht nur inhaltliche Verknüpfungen sind wichtig: Allein die Tatsache, dass sich die Profile gegenseitig folgen, trägt dazu bei, dass interessierten Menschen eben diese Profile von Sozialen Plattformen wie Instagram vermehrt vorgeschlagen werden. Die starke Vernetzung kann zum einen strategisch sein, zum anderen ist aber auch davon auszugehen, dass sich die meisten Personen lose persönlich kennen und die Vernetzung organisch – auch offline – gewachsen ist.

Größere Accounts unter den Follower*innen

Wir haben die 147 öffentlichen Profile, welche mehr als fünf unserer POIs folgen und mehr als 1.000 Follower*innen haben, analysiert (Abb. 2): Über die Hälfte der Profile lassen sich Personen aus oder dem Umfeld der AfD oder der JA zuordnen. Das verweist zum einen auf die zentrale Rolle, die die Partei für die extreme Rechte spielt, und zum anderen auf deren strategische Nutzung Sozialer Medien (Hillje 2021).

Knapp 15 Prozent dieser Follower*innen lassen sich weiteren Organisationen des extrem rechten Spektrums zuordnen und etwa 5 Prozent der völkischen Identitären Bewegung. Uns haben indes die etwa 25 Prozent der Profile, welche auf den ersten Blick keine rechten Inhalte transportieren, besonders interessiert. Hiermit ist gemeint, dass im Profilbild, der Profilbeschreibung und den regulären Postings keine rechten Inhalte und Codes zu erkennen sind – also alle Informationen, die man sieht, wenn man das Profil überfliegt und ggf. die Entscheidung fällt, diesem zu folgen oder nicht. Ausgeschlossen hiervon sind Stories, da diese in der Regel nur für den aktuellen Tag sichtbar sind. Untersuchungen zeigen, dass explizitere Inhalte tendenziell über Stories verbreitet werden (Kero 2022: 104).

Abb. 3: Aufteilung der untersuchten Menge von Follower*innen

 

Themenwelten der „nichtrechten“ Follower*innen

Über die regulären Inhalte der „nichtrechten“ Profile lassen sich Aussagen darüber ableiten, welchen Einfluss das untersuchte Netzwerk außerhalb „der eigenen Bubble“ hat. Zudem kann eingeschätzt werden, inwiefern deren Strategie aufgeht, neue Menschen zu erreichen. Die anschließende Untersuchung der Stories soll aufdecken, in welchen Fällen ein Verbreiten rechter Inhalte bereits gelingt.

Bei den untersuchten größeren, vordergründig nicht rechts auftretenden Follower*innen des neurechten Netzwerks handelt es sich – nach Angabe in den Profilen – überwiegend um Männer. Inhaltlich lassen sich die untersuchten Profile wie folgt kategorisieren: Zum einen finden sich hier klassische Lifestyle-Profile, welche die geschönten Seiten des alltäglichen Lebens sowie Fotografie, Reisen, Luxus und Statussymbole zeigen. Daran anknüpfend gibt es die für Instagram ebenfalls typischen Fitness-Profile, welche die persönliche sportliche Betätigung und gesunde Lebensführung dokumentieren, angereichert mit Tipps für Übungen und Ernährung. Und schließlich gibt es Profile, welche Ausschnitte aus dem Privatleben zeigen: Selfies, Kochergebnisse, Ausflugserlebnisse, Treffen mit Freund*innen oder auch Spruchbilder. Hierbei sind die Übergänge zu den Fitness- und Lifestyle-Profilen fließend. Weitere Profile zeigen weniger persönliche Inhalte und widmen sich gezielt bestimmten Themen. Dabei stachen drei Themenzusammenhänge hervor:

Ein Bereich dreht sich um Wirtschaft und Ökonomie, hier werden Informationen in Form von Sharepics oder Reels zu Marketing, Management, Wirtschaftsnachrichten, Unternehmen sowie Geldanlagen offenbart. Daran anknüpfend beobachten wir einen Themenzusammenhang, welcher sich in gleicher Weise mit Kryptowährungen, Kryptohandel, Aktienhandel und Spekulation auseinandersetzt.

Darüber hinaus finden sich Profile, welche sich politischen Themen aus einer konservativen Perspektive widmen. Es werden ausgewählte aktuelle Geschehnisse in Form von Sharepics und Reels kommentiert oder der eigene Podcast beworben. Ein weiterer Themenzusammenhang, welcher nicht ganz so stark wie die vorherigen vertreten ist, aber dennoch interessant erscheint, ist die Landwirtschaft. Hier wird alles rund um Ackerbau, Traktoren, Gerätschaften und Landleben behandelt. Auch hier gibt es Übergänge zu Lifestyle- und Privat-Profilen.

Besonders im Bereich Kryptowährungen und Trading fiel auf, dass die Profile sehr vielen anderen Profilen ohne erkennbaren thematischen Zusammenhang folgen – möglicherweise wird hier durch Profilautomatisierung[4] versucht, eine hohe Reichweite zu erzielen. Dahinter verbirgt sich die Strategie, dass auf manche Folge-Anfragen mit einem Zurückfolgen reagiert wird und das Profil somit in den Vorschlägen der Follower auftaucht. Die Frage bleibt offen, ob in diesem Fall die von uns ausgewählten POIs durch Zufall dabei sind, oder gezielt versucht wird, deren Gefolgschaft zu erreichen, da diese womöglich empfänglich für derartige Inhalte ist. Ebenso machten die Follower*innen der Profile im Bereich Wirtschaft/Ökonomie einen sehr generischen, möglicherweise gekauften Eindruck.

Im Beobachtungszeitraum konnten keine inhaltlichen Weiterleitungen der POIs, z.B. in Form von Stories, festgestellt werden. Allerdings gab es inhaltliche Überschneidungen beim Betrachten der Stories einiger der untersuchten Profile, wodurch eine Rezeption möglich erscheint.

Zusammenfassung

Die Profile der POIs finden überwiegend im extrem rechten, neurechten Lager Anschluss. Außerdem sind sie stark untereinander und mit Profilen aus dem Umfeld der AfD verknüpft. Die Follower*innenzahlen bewegen sich durchgehend im Bereich von Micro-Influencer*innen. Ein Andocken an nichtrechte Themenwelten hält sich in Grenzen und findet hauptsächlich in den Bereichen Wirtschaft, Kryptowährungen, Trading, Anlagen, konservative Politik-Blogs, Fitness, Lifestyle und Landwirtschaft statt. Hier konnte in einigen Fällen ein Verbreiten rechter Inhalte in Form von Stories festgestellt werden, obwohl die Profile auf den ersten Blick nicht darauf schließen ließen. Solche Multiplikator*innenprofile ermöglichen es, rechte Inhalte in andere gesellschaftliche Bereiche zu transportieren. Es bleibt abzuwarten, inwiefern es den Influencer*innen gelingt, den Anschluss an diese Themenwelten auszubauen und weitere für sich zu gewinnen.

Hervorzuheben ist dabei das Profil der Influencerin eingollan, welches kaum Verknüpfungen zu den anderen POIs aufweist, jedoch zu vielen anderen neurechten Profilen. Eingollan verzeichnet dafür aktuell einen Erfolg mit rechten Inhalten (de:hate/Kompetenznetzwerk Rechtsextremismusprävention 2023). Möglicherweise handelt es sich hier um eine neue Generation, welche noch stärker mit Social Media aufgewachsen ist und intuitiv mit anderen Strategien Erfolg hat. Möglicherweise spielt auch die Parteilosigkeit eine Rolle sowie das hippe, junge Auftreten, welches das Profil zunächst unpolitisch erscheinen lassen. Vorteilhaft sind mit Sicherheit auch der schauspielerische Background und die professionelle Produktion sowie Orientierung an aktuellen Influencer*innen-Trends und -strategien wie das Etablieren eigener Formate, welche in gleichbleibender Form wiederholt werden. Aber auch das Profil der Musikerin Runa zeigt im Vergleich zu den anderen POIs eine höhere Reichweite – die alte Strategie der Rechten, über Musik und Subkultur Ideen zu verbreiten, scheint immer noch gut zu funktionieren, lediglich der Musikstil hat sich gewandelt.

Wir haben mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen und Möglichkeiten lediglich öffentliche Profile mit über 1.000 Follower*innen untersucht, möglicherweise haben aber auch private Profile oder jene mit weniger Follower*innen eine wichtige Funktion bei der Verbreitung extrem rechter Inhalte. Ebenso zeigt die Untersuchung nur einen zeitlichen sowie personellen Ausschnitt und somit nur ein Zerrbild der Realität. Die Untersuchung gab Rückschlüsse auf weitere relevante Profile, welche das zu untersuchende Netzwerk erweitern und neue Dynamiken aufdecken könnten.

Quellen

Bernstein, Bea (2022): HipHop Rechtsaußen. Ein neuer Versuch. Belltowernews. Online: https://www.belltower.news/hiphop-rechtsaussen-ein-neuer-versuch-144227/

de:hate/Kompetenznetzwerk Rechstextremismusprävention (2023): Jung und reaktionär. Die Nachwuchs-Rechts-Fluencer. Belltowernews. Online: https://www.belltower.news/jung-und-reaktionaer-die-nachwuchs-rechts-fluencer-150781/

Hansen, Friederike (2022): „Frauenkongress“ von rechtsradikaler Frauengruppe und AfD in Münster. Belltowernews. Online: https://www.belltower.news/lukreta-frauenkongress-von-rechtsradikaler-frauengruppe-und-AfD-in-muenster-133219/

Hillje, Johannes (2021): Propaganda 4.0. Wie rechte Populisten unsere Demokratie angreifen. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn.

Kero, Sandra (2022): Jung, weiblich und extrem rechts. Die narrative Kommunikation weiblicher Akteurinnen auf der Plattform Instagram. Fakultät für Philologie an der Ruhr-Universität Bochum, unveröffentlicht.

Kulaçatan, Meltem (2021): Ausgespielt? Feministische Zielsetzungen im antimuslimischen Rassismus. In: Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): Weiblich, bewegt, extrem rechts. Frauen, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen, Online: https://amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/07/RexNRW-Netz.pdf, S. 51-54.

MISRIK (2023): Was machen rechtsextreme Memes? Memes in extrem rechter Internetkommunikation, Belltowernews,. Online: https://www.belltower.news/kreative-ans-werk-memes-in-extrem-rechter-internetkommunikation-was-machen-rechtsextreme-memes-153363/

Strick, Simon (2021): Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus. Transcript Verlag, Bielefeld.


[1] Eine Form codierter Sprache: versteckte Bedeutungen in Aussagen, welche die eigene Anhängerschaft erkennen (und aktivieren).

[2] Dauer aufgrund der Anfragen-Limitierung von Instagram

[3] Eine von Jäger häufig aufgegriffene Erzählung ist die des sog. „Great Reset“ –  eines angeblichen Plans eine „neue Weltordnung“ zu installieren – durch und zugunsten einer „Elite“ und auf Kosten der „einfachen“ Bevölkerung. Namensgeber für diese Verschwörungserzählung ist das Weltwirtschaftsforum (WEF), dass sich im Jahr 2021 unter dem Motto „The Great Reset“ traf.

[4] Ein Programm steuert die Interaktionen eines Profils und sorgt somit für mehr Reichweite. Profilautomatisierungen verstoßen gegen die Geschäftsordnung von Instagram, sind aber dennoch weit verbreitet und werden von Dritten als Service angeboten.

CSD Bautzen: Gewalt-Aufmarsch mit Ansage

Symbolbild (Quelle: Dominik Lenze)
Symbolbild (Quelle: Dominik Lenze)

18 Ermittlungsverfahren wurden nach dem Neonazi-Aufmarsch in Bautzen eingeleitet. Die Rechtsextremen skandierten Gewaltandrohungen und ließen den Worten Taten folgen. Die Polizei schritt ein – allerdings anders als erhofft.

Von Dominik Lenze

Zwischen 3.000 und 4.000 Menschen nahmen am inzwischen dritten CSD in Bautzen teil, noch einmal deutlich mehr als im Vorjahr. Ein wichtiges Zeichen, gerade im sächsischen Hinterland: 2024 war Bautzen zum symbolträchtigen Tiefpunkt queerfeindlicher Neonazi-Proteste geworden: Etwa 700 Rechtsextreme kamen in die sächsische Mittelstadt, um gegen den CSD zu demonstrieren. Am Bahnhof verbrannten sie eine Regenbogenflagge und skandierten im Pulk: „Zünd sie an!“.

In diesem Jahr nahmen nach Polizeiangaben 500 Neonazis an dem Aufmarsch teil – weniger als im Vorjahr, doch nicht weniger gewaltbereit. Vor Ort waren Mitglieder der NPD (inzwischen „Die Heimat“) sowie der „Jungen Nationalisten“ (JN), der Jugendorganisation der Partei. Die Freien Sachsen waren mit einem Stand vor Ort, außerdem reisten junge Neonazi-Gruppen wie „Deutsche Jugend voran“ aus Berlin an, dazu andere extrem rechte Demo-Tourist*innen. Die Neonazi-Rapgruppe „Neuer Deutscher Standard“ (NDS) gab zu Beginn der Versammlung ein Konzert.

Über die queerfeindlichen Demonstrationen kommen Nachwuchs-Neonazis wie DJV in Kontakt mit etablierten Strukturen wie NPD und JN. Der Hass auf alles, was nicht heterosexuell ist, dient dabei als Einfallstor in weitere Bereiche extrem rechter Ideologie. Beispielhaft dafür steht ein junger Teilnehmer, der auf seinem T-Shirt seine „Solidarität“ mit der bereits verstorbenen Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck bekundete.

Die extrem rechten Kader wissen, mit welcher Altersgruppe sie es zu tun haben: „Am Montag beginnt die Schule wieder, es sind trotzdem sehr viele Leute zusammengekommen“, freute sich Stefan Trautmann, Doppel-Funktionär für NPD und Freie Sachsen, in seiner Rede. „Wir lassen uns aber nicht zu, dass es hier solche geistigen Minderheiten da drüben versuchen uns unsere Identität zu zerstören“(sic!), fuhr er fort. „Es gibt nur Mann und Frau und wir sind die Normalität. Wir wollen, dass es in zehn oder zwanzig Jahren immer noch unsere Geschlechterrollen gibt“, erklärte der Neonazi. Jedes Geschlecht habe „seine Wichtigkeit in unserem Volk“.

Auch ältere, vermeintlich bürgerliche Personen schlossen sich in kleiner Zahl dem Aufmarsch an. Männer im Rentenalter brüllten selbst bei Gewaltaufrufen wie „Wir kriegen euch alle“ mit. Ein Mann, der sich als AfD-Mitglied zu erkennen gab, erklärte einem Reporter: „CSD brauchen wir in Bautzen nicht.“ Auf den Unvereinbarkeitsbeschluss seiner Partei in Bezug auf „Die Heimat“ angesprochen, zuckte er nur mit den Schultern: „Das ist hier eine öffentliche Veranstaltung.“ Im Hintergrund skandierten Neonazis: „Es gibt kein Recht auf Homo-Propaganda.“

Die AfD Bautzen hatte bereits im Vorfeld Stimmung gegen den CSD gemacht und versucht, diese als linksextreme Veranstaltung umzudeuten, unter anderem aufgrund eines Instagram-Posts einer Antifa-Gruppe. Auch das AfD-nahe „Bürgerbündnis Bautzen“ schwadronierte in einem Brief an Oberbürgermeister Karsten Vogt (CDU) von „einer gewaltbereiten linken Szene“.

Als sich die Neonazis am Friedrich-Engels-Platz in Bautzen sammelten, sprach ein YouTuber mit einer älteren, bürgerlich daherkommenden Frau, inmitten der Neonazis und einem Schild mit der Aufschrift: „Das ist unser Bautzen“. Nach der Frage, warum sie mit Rechtsextremen demonstriere, umringten ihn binnen Sekunden mehrere Neonazis und drängten ihn sowie andere Journalist*innen ab. Neonazi Stefan Trautmann forderte, die Presse müsse hinter die Absperrungen.

Kurz darauf forderte die Polizei per Lautsprecherdurchsage tatsächlich die Presse auf, die Versammlung zu verlassen, sogar Platzverweise wurden angedroht – nur zehn Minuten nach dem Angriff und exakt im Sinne der Neonazis. Begleitet wurde diese Maßnahme von Sprechchören wie „Lügenpresse, halt die Fresse“. Erst nach langen Diskussionen erlaubte die Polizei eine eingeschränkte Berichterstattung: Journalist*innen mussten mindestens zehn Meter Abstand halten – eine Regel, die streng kontrolliert wurde.

Per Allgemeinverfügung waren im Vorfeld zahlreiche Auflagen für die Versammlungen in Bautzen erlassen worden. Auch militantes Auftreten, wozu das Marschieren in Reih und Glied gehört, war untersagt. Der Block der JN marschierte in Reih und Glied auf, links und rechts gesäumt von Flaggen. Mit einem Video davon konfrontiert, teilte die Polizei mit, man habe „keine entsprechenden Verstöße“ gegen die Allgemeinverfügung festgestellt.

Wenige Minuten später folgt die nächste Attacke. Diesmal traf es das Team des YouTubers Marcant, der für seinen Kanal rechtsextreme Demonstrationen besucht, um den Teilnehmenden kritische Fragen zu stellen.

Nach dem Angriff wurde über Megafon gebrüllt: „Ihr habt hier gar nichts zu suchen im ganzen Bereich“, darauf folgte die Anweisung der Neonazis an die Polizei, die Medienschaffenden zu entfernen – „ansonsten machen wir’s.“ Dann skandierte die Menge: „Unsere Stadt, unsere Regeln“ und „Was machen wir mit den Zecken? Auf die Schnauze hauen!“

Statt Journalist*innen zu entfernen, wäre es notwendig gewesen, ihre Arbeit zu schützen, kritisierte die Journalist*innen-Gewerkschaft dju in ver.di auf X. „Pressefreiheit muss auch dort gelten, wo sie unbequem ist. Die Polizei hat die Aufgabe, sie zu gewährleisten und zu schützen. Einschränkungen wie die geschilderten dürfen nicht vorkommen“, hieß es weiter.

Die Polizei teilte, angesprochen auf die Kritik, mit: „In bestimmten Situationen kann es den Umständen nach dazu kommen, dass Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit aufeinander treffen. Sicherheit und Ordnung und insbesondere die Gesundheit aller beteiligten Akteure gehen immer vor.“

Jeder Einsatz werde „kritisch innerhalb der Einsatzkräfte nachbereitet“, die Beurteilung fließe in künftige Einsätze mit ein. Im Fall des YouTubers zu Beginn der Versammlung ermittele die Polizei wegen Nötigung gegen einen „bekannten Tatverdächtigen“. In einem weiteren Fall ermittele die Polizei wegen versuchter Körperverletzung gegen einen weiteren „bekannten Tatverdächtigen“.

Im Verlauf der Demo nahm die Polizei einzelne Neonazis kurzzeitig in Maßnahmen, darunter den rechtsextremen Rapper Kai Naggert („Prototyp“), der augenscheinlich auf verbotene Tätowierungen untersucht wurde. Bislang leitete die Polizei 18 Ermittlungsverfahren ein, darunter sieben wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB).

Die Gewalt endete nicht in Bautzen. Auf dem Rückweg griff eine Gruppe Berliner Neonazis am Ostkreuz in Berlin zwei Pressevertreter*innen mit Schlägen und Tritten an. Die Journalist*innen hatten den Aufmarsch in Bautzen dokumentiert und wurden dort offenbar von den Neonazis als mögliche Zielpersonen ausgemacht.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

21. Prozesstag: Brandanschlag in Solingen – Das Urteil gegen Daniel S.

Ein rechtsextremer Täter zündet in Solingen (NRW) ein Wohnhaus an, in dem vor allem migrantische Menschen leben. Ein dreijähriges Kind, ein Säugling sowie ihre Eltern kommen bei dem Anschlag ums Leben. (Quelle: Adalet Solingen)

Lebenslange Freiheitsstrafe für den Täter von Solingen. Der letzte Prozessbericht.

Von Adalet Solingen

Entgegen der ursprünglichen Ankündigung wurde das Urteil im Prozess gegen Daniel S. nicht wie geplant um 15:30 Uhr verkündet, sondern erst um 16:05 Uhr. Der zunächst genannte Zeitpunkt war offenbar nicht mehr haltbar. Bereits gegen 15:30 Uhr waren jedoch Schöffen auf dem Flur zu sehen, was darauf hindeutet, dass der Vorsitzende Richter die zusätzliche Zeit nutzte, um seine Urteilsbegründung abschließend zu formulieren und seine Notizen zu ordnen.

Um 16:05 Uhr verkündete das Gericht schließlich im Namen des Volkes das Urteil gegen den Angeklagten Daniel S.:

Wegen mehrfachen Mordes in Tateinheit mit mehrfach versuchtem Mord, Brandstiftung, schwerer Brandstiftung sowie mehrfacher Körperverletzung wurde der Angeklagte schuldig gesprochen. Das Gericht verurteilte Daniel S. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Zudem stellte die Kammer die besondere Schwere der Schuld fest und ordnete die anschließende Sicherungsverwahrung an.

Im Anschluss an die strafrechtliche Entscheidung folgte die zivilrechtliche Festlegung der Entschädigungszahlungen. Das Gericht sprach Schmerzensgeld, sowie Hinterbliebenenleistungen in unterschiedlicher Höhe zu: 20.000 Euro, 2.000 Euro, 15.000 Euro und 10.000 Euro. Die Beträge sind auf Hinterbliebene der Familie Z. sowie die Familie K. aufzuteilen.Im Rahmen der Adhäsionsentscheidung (Schadensersatz und Entschädigung) wurde festgelegt, dass die zugesprochenen Geldbeträge mit fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen sind. Darüber hinaus haftet der Angeklagte auch für zukünftige materielle und immaterielle Schäden, die infolge der Taten entstanden sind. Diese und weitere sogenannte Adhäsionsansprüche wurden vom Gericht vorläufig festgestellt und können zu einem späteren Zeitpunkt noch erweitert oder konkretisiert werden. Abschließend wurde dem Angeklagten auferlegt, die Kosten des Verfahrens zu tragen.


Die Prozessberichterstattung stammt von Adalet Solingen und wurde dort zuerst veröffentlicht.


Richter Kötter beginnt die Urteilsbegründung mit dem Hinweis, dass es sich bei der verhängten Strafe um die höchste handelt, die das deutsche Strafgesetzbuch vorsieht. Er macht deutlich, dass auch für ihn persönlich und für die Kammer die Verhängung einer solchen Strafe keineswegs alltäglich sei. Es handele sich nicht um einen normalen Fall, sondern um eine Ausnahmesituation, auch aus Sicht des Gerichts.

Im weiteren Verlauf der Urteilsbegründung kündigt Richter Kötter an, nun stichpunktartig zur Einordnung der psychischen Voraussetzungen des Angeklagten überzugehen, zur besseren Verständlichkeit für alle Anwesenden, wie er sagt. Dabei verweist er auf den psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. Faustmann, dessen Einschätzungen er mehrfach aufgreift.
Im Mittelpunkt steht zunächst das Aufwachsen des Angeklagten. Nach Auffassung des Gerichts hat der elterliche Haushalt entscheidend dazu beigetragen, dass Daniel S. eine tiefe Entwurzelung erfahren habe. Ausgelöst durch die Trennung der Eltern und den Umzug mit der Mutter nach Mecklenburg-Vorpommern. Dieses frühe Erleben von Instabilität und Ortswechsel habe bei ihm das Gefühl ständiger Bindungslosigkeit hinterlassen.

Daniel S. sei früh ein Einzelgänger gewesen, so der Richter. Die Wertevermittlung im Elternhaus wird als fragwürdig beschrieben. In den Explorationen habe Daniel S. diese Lebensphase selbst als ein Dasein ohne Anschluss beschrieben, ein permanentes Gefühl des Nicht-richtig-Ankommens. Ihm hätten Bezugspersonen gefehlt, auch soziale Kontakte seien nur in geringem Maße vorhanden gewesen oder hätten ganz gefehlt. In der Summe habe sich so, wie es im Gerichtssaal formuliert wird, ein sehr „blasser“ Mensch entwickelt – ein Mensch, dem grundlegende Orientierung, soziale Eingebundenheit und Wertebezug fehlten.

Also jemand, dem es an all diesen sozialen und gesellschaftlichen Bezügen fehlte, der mit diesen Werten nichts verbinden könne. Der Vorsitzende kommentiert die Entwicklung des Angeklagten mit den Worten, „es muss da doch vieles im Argen gelegen haben.“ Anschließend spricht er über den Betäubungsmittelkonsum, der bei Daniel S. schon sehr früh begonnen habe.

Er führt aus, dass Daniel S. nie in einen sozialen Kontext eingebunden gewesen sei, wie es bei einer solchen Form des Konsums sonst üblich sei. Auch bei der Beschaffung und dem Konsum der Drogen habe er nicht auf gemeinsamen Konsum innerhalb Peer-Groups oder ein gemeinsames Partyleben zurückgegriffen, sondern in stiller Einfalt allein konsumiert. Er bezeichnet ihn wortwörtlich als „Eigenbrötler“ und „Einsiedler“ und spricht resümierend von einer „unguten Mischung“.

Bezüglich des Drogenkonsums führt der Richter aus, dass Daniel S. sich an einzelnen Stellen Hilfe gesucht habe und somit selbst erkannt haben muss, wie hoch sein Konsum gewesen sei. Zudem habe Daniel S. in einer Exploration angegeben, es fühle sich an, als habe er „zwei Betriebssysteme“ in sich. Der Sachverständige verneinte jedoch eine Schizophrenie, die seine Freundin, die Zeugin Jessica B., erwähnt hatte und die Daniel S. ihr gegenüber angeblich angesprochen habe.
Der Amphetaminkonsum von Herrn S. sei also so ausgeprägt gewesen, dass er sich eigenständig zu einer Therapie entschied. Allerdings habe Daniel S. sich nicht motivieren können, diese Therapie länger durchzuhalten. Er verbrachte viel Zeit passiv auf der Couch und zeigte keine intrinsische Motivation sich, beispielsweise beruflich, zu betätigen. Die Ausbildung brach er ab und die meiste Zeit blieb er ohne Beschäftigung.

Zusätzlich kamen weitere Stressfaktoren hinzu. Richter Kötter erwähnt in diesem Zusammenhang die Partnerschaften des Angeklagten, die brüchig gewesen seien und nicht die stabilisierende Wirkung entfaltet hätten, die in der ersten Exploration noch angenommen wurde. Auch die Ex-Freundin Luisa Maria P. habe die Persönlichkeit des Angeklagten als von geringer Motivation und innerer Schwäche geprägt geschildert. Jessica B. hingegen habe eine auf den ersten Blick stabilisierende Situation dargestellt, die jedoch lediglich eine äußere Fassade gewesen sei, hinter der es innerlich ganz anders ausgesehen habe, so hatte es Dr. Faustmann ausgeführt. Die Nebenklage habe diese Verbindung zu Jessica B. einseitig interpretiert. Richter Kötter äußerte, man könne nun überlegen, welche Worte zur Beschreibung der Situation geeignet seien. Er griff das von Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız benannte „Doppelleben“ des Täters auf.

Demnach habe sich Daniel S. seinen Problemen entzogen, sich isoliert und nicht geöffnet, was auch durch die Aussagen der Zeugin Jessica B. bestätigt wurde. Der soziale Rückzug habe bereits im Jahr 2014 begonnen. Ab diesem Zeitpunkt sei der Angeklagte teilweise tagelang abwesend gewesen. Auch die Daten aus der Google-Cloud belegten seine Aktivität während dieser Zeit. In Phasen des Rückzugs habe Daniel S. seinen Umgang mit der Situation vor allem durch elektronische Musik gefunden.

Weiterhin beschrieb Kötter den Angeklagten als unauffälligen Zeitgenossen mit situativ adäquatem Verhalten gegenüber Mitmenschen und hilfsbereiter Haltung. Er habe kurze soziale Kontakte absolvieren können und war in der Lage, mit Nachbarn zu sprechen und ihnen bei Bedarf Hilfe zu leisten. Eine dauerhafte und verlässliche Bindung sei ihm jedoch nicht gelungen.
Er habe, so betont Kötter, eine „sehr vernünftige Bildung“. Und spricht dann davon, dass Daniel S. „keineswegs dumm“ sei. Der Richter führte weiter aus, dass den Bekanntenkreis von Daniel S. überwiegend unauffällige Kontakte prägten. Er betonte mehrfach, dass diese Kontakte, auch in Bezug auf die sogenannte „Landsmannschaft“, unauffällig gewesen seien.

Der Begriff „Landsmannschaft“ wurde von ihm wiederholt verwendet. Ob dies ein möglicher juristischer Begriff für Staatsangehörigkeit oder eine Umschreibung für Menschen mit einer Migrationsgeschichte ist, blieb unklar. Auffällig war jedoch, wie häufig er diesen Begriff in seinen Ausführungen nutzte, wohingegen er sich auch im Verfahren erwehrt hatte, Worte wie „Rassismus“ klar zu benennen.

Bezogen auf die Aussagen der Zeug*innen im Verfahren stellte Kötter fest, dass diese keinen gewalttätigen Psychopathen beschrieben hätten, sondern vielmehr einen Menschen, der angenehm auftrat, liebenswert wirkte und sich in belastenden Situationen zurückgezogen habe.

Weiter führte er aus, dass sich der Angeklagte an manchen Tagen offensichtlich nicht wohl gefühlt habe. Im Jahr 2022 habe sich aufgrund seiner brüchigen Persönlichkeit und als Selbstschutz das Bild eines instabilen Menschen weiter verdichtet. Kötter verwies darauf, dass man dies auch an Verhaltensweisen erkenne, wie sie etwa bei Personen zu beobachten seien, die sich selbst verletzen durch „ritzen“ – jedoch mit dramatischen Auswirkungen auf die Opfer. Mit dieser Art des Gleichsetzens von Selbstverletzungen und mehrfachem Mord bagatellisierte er das Verhalten von Daniel S. in Anwesenheit der Betroffenen seiner Taten und der Angehörigen der Opfer, die ihm im Rahmen der Urteilsverkündung gegenüber saßen.

Zu Beginn der Urteilsbegründung widmete Richter Kötter also viel Zeit der oben dokumentierten Darstellung von Daniel S. als einem Menschen, der bereits früh im sozialen Umfeld benachteiligt gewesen sei und nur wenige soziale Kontakte sowie keinen wirklichen Halt gehabt habe. Anschließend verglich er die aufkommende Aggression des Angeklagten mit Verhaltensweisen, die als autoaggressiv einzustufen seien.

Das Publikum empfand die Ausführungen merklich als sehr unangenehm. Deutlich war eine sich langsam ausbreitende Unruhe zu spüren, die sich in vermehrtem Raunen äußerte. Die Wut darüber, wie der Richter seine Worte wählte und sich ausdrückte, war im Saal spürbar.

Nachdem Richter Kötter diesen letzten Vergleich angestellt hatte, erklärte er, dass Daniel S. in Stresssituationen versuche, die Kontrolle über sich und sein Verhalten durch verursachten Schaden zurückzugewinnen, der ihm in diesen Momenten eine Art Abhilfe verschaffe. Die Unruhen, das Nichtschlafen und das ständige Umherlaufen wertete er als Kompensationsmechanismen, körperliche Reaktionen auf das, was Daniel S. empfinde.

Kötter stellte heraus, dass vor dieser Phase keine auffälligen Verhaltensweisen bekannt gewesen seien, sondern erst später destruktives und schwerwiegendes Verhalten bei ihm aufgetreten sei. Diese Einschätzung werde durch den psychiatrischen Gutachter Prof. Dr. Faustmann bestätigt, der ausgeführt habe, dass Daniel S. vor allem ein Ventil gesucht habe, um Selbstwirksamkeit zu erlangen. Dabei hätten vor allem die Orte, denen er Schaden zufüge, im Fokus gestanden, nicht primär die Menschen selbst.

Vor dem ersten Brandereignis 2022 in der Grünewalderstraße lägen keine Hinweise vor, die auf vergleichbare Vorfälle oder eine entsprechende Tendenz schließen ließen. Dies wird insbesondere dazu genutzt, um die im Vorfeld geäußerten Vorverurteilungen bezüglich rassistischer Motive zurückzuweisen.

Bis zu den Brandlegungen zeigten sich Anzeichen einer fortschreitenden Eskalation, vor allem in Bezug auf die psychische Verfassung von Daniel S. Hierbei wurde Herr Prof. Dr. Faustmann dafür gelobt, dass er das Bild von Daniel S. unter Einbeziehung dessen Vorgeschichte nachvollziehbar skizziert hat. Die Darstellung der Vorbereitungen zu den Brandlegungen wird als entlastend bewertet. Auch negative Gefühle und der Konflikt mit der Vermieterin werden als belastende Faktoren genannt, ohne dass deren genaue Bedeutung für die Tat analysiert wird.

Der Richter beschreibt den von ihm so genannten „Kipppunkt“ im Jahr 2022, als Daniel S. erstmals in der Grünewalderstraße mit Grillanzündern und weiteren präparierten Mitteln einen Brandversuch unternahm. Dabei wird dargestellt, dass ab diesem Zeitpunkt eine deutliche Eskalation eingetreten sei. Das psychiatrische Gutachten von Dr. Faustmann wurde vom Gericht erneut als nachvollziehbare Grundlage herangezogen, welches aufzeigt, dass Daniel S. gezielt an einen ihm bekannten Ort zurückkehrte, den er mit negativen Erlebnissen verbindet, um dort die Brandstiftung zu begehen. Richter Kötter sagt, deshalb habe sich der Ort besonders dazu geeignet, den bei ihm bestehenden Überlegenheitswahn auszuleben. Die Verknüpfung mit der eigenen Biografie sei laut Kötter von zentraler Bedeutung gewesen.

Im weiteren Verlauf spricht Kötter von möglichen Stressoren, die eine Rolle gespielt haben könnten. Gleichzeitig relativiert er den Begriff und bezeichnet ihn selbst als möglicherweise euphemistisch und unangebracht. Wörtlich sagt er „Stress hört sich immer so wenig an.“ Er beschreibt die Situation als eine, in der der innere Druck habe nach außen dringen müssen, als eine Art unausweichliche Reaktion.

Bezüglich der während der Verhandlung aufgeführten möglichen Motive, spricht Kötter sowohl rassistische als auch stressbedingte mögliche Ursachen an. Er bezeichnet beides als gleichermaßen „unfassbar“. Im Originalwortlaut: „Das eine oder das andere ist so oder so unfassbar.“ Er fügt hinzu „Das kann man ja gar nicht beschreiben.“

Er geht anschließend darauf ein, dass Daniel S. grundsätzlich in der Lage gewesen sei, sein Handeln zu erkennen und die Konsequenzen einzuschätzen. Es sei ihm, so ein Zitat von Prof. Dr. Faustmann, „gar nicht um die anderen oder die vermeintlichen Opfer gegangen“, sondern „es gehe ihm um sich selbst.“ In diesem Zusammenhang zieht Kötter einen Vergleich zur Stressbewältigung anderer Menschen und sagt, dass andere „Holzhacken gehen“ würden, eine direkte Gegenüberstellung zum Verhalten von Daniel S.

Zum Ende verweist er darauf, dass einige der Brände sich nicht so entwickelt hätten, wie es der Angeklagte geplant hatte. Im Originalzitat: „Es hat nicht so funktioniert, so wie er sich das vorgestellt hat.“

Richter Kötter verweist darauf, dass der Brandsachverständige keine Milderungsgründe gesehen habe. Zwar habe dieser nochmals auf bestimmte Aspekte hingewiesen, jedoch betont, dass Daniel S. zu keinem Zeitpunkt Anzeichen eines Rücktritts vom Tatgeschehen oder vergleichbare Handlungen gezeigt habe, die auf ein Innehalten oder Umdenken hätten schließen lassen. Zudem habe der Angeklagte die Gefährdung der Bewohner erkennen und einschätzen können.

Kötter geht in diesem Zusammenhang auf die psychischen Folgen ein, die die Taten bei vielen Betroffenen hinterlassen hätten. Diese seien, unabhängig von der konkreten Tat, weiterhin deutlich spürbar. Die Rede ist von Mord, versuchtem Mord und besonders schwerer Brandstiftung, Delikte, die der Richter als „unfassbar“ bezeichnet. Besonders hebt er die Todesangst hervor, die in dem Notruf hörbar gewesen sei, und stellt die Frage „Was müssen die da durchgemacht haben?“ Gemeint sind dabei insbesondere die Bewohner*innen des Dachgeschosses, Familie Z. sowie die Familie K., die aus großer Höhe aus dem 3. Stock des brennenden Gebäudes gesprungen sei. Kötter spricht in diesem Zusammenhang von „heroischen Dingen“.

Er hebt das Verhalten von Herrn Ö. hervor, der beim ersten Brand in der Grünewalder Straße überlegt gehandelt habe und zunächst einen gehbehinderten Mann aus dem Haus geführt habe.

Anschließend nimmt der Richter Bezug auf die Ausführungen der Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız. Er zeigt sich kritisch gegenüber ihrer hinterfragenden Haltung zur Feuerwehr und betont, dass im Jahr 2024 die Einsatzkräfte sehr schnell reagiert hätten und dass die Brandsätze, die sich 2022 unter der Kellertreppe befanden, nicht gezündet hätten und bezeichnet den Brand 2022 in dem Zusammenhang als „dilletantisch“. Im Gegensatz zu dem Brandanschlag 2024: Da brannte es „lichterloh“. Anschließend geht er auf Details der verschiedenen Brände ein. In der Josefstraße hätten Nachbarn zum Beispiel die Tür offen stehen lassen und dass 2024 Daniel S. deutlich mehr Brandbeschleuniger benutzt hätte, mit Docht und Zündschnur. Im Vorfeld hatte er Details hierzu gegoogelt, wie „Benzinkanister“ und „Explosion“.

Den Brand in der Josefsstraße nennt er einen Nebenschauplatz. Es habe Auseinandersetzungen mit einem anderen Bewohner des Hauses gegeben, in deren Zusammenhang Daniel S. dessen Bankkarte gestohlen und rund 30.000 Euro unterschlagen habe.
Er sagt aber, dass das nur Nebenaktivitäten seien und gar nicht der Hauptfokus, um den sich hier zu kümmern sei. Er zählt hier abermals etwas auf, was mit dem Urteil scheinbar gar nichts zu tun hat und auch im Verfahren nicht zur Debatte stand und kommentiert dies auch so. Den eventuellen Lasten der jeweilig Betroffenen nimmt Kötter sich auch in diesem Zusammenhang nicht an.

Der Richter spricht über die Netzaktivitäten von Daniel S., in denen sich Hinweise auf Stressfaktoren vor dem 15. Februar finden. Themen seien kriminelle Aktivitäten, mit denen er sich intensiv beschäftigt habe, erkennbar an seinen Suchanfragen. Dass der erste Brand in der Josefstraße keine mediale Beachtung fand, habe er als Niederlage empfunden. Die „Katastrophe“ 2024 in der Grünewalder Straße werde er nun im Folgenden näher beschreiben.

Der Richter führt aus, dass Daniel S. um 2:29 Uhr erstmals auf dem Kamerabild erscheint und sich in Richtung des Brandobjekts bewegt. Drei Minuten später sei zu sehen, wie er sich eine Zigarette anzündet und nochmals zurückgeht. Sieben Minuten danach kehrt er erneut zum Brandort zurück und entfernt sich dann wieder. Laut Aufnahmen sowie der Aussage der Zeugin Breuer war er bereits zwei Stunden zuvor vor Ort. Kötter beschreibt, dass Daniel S. bereits früher am Abend bzw. in der Nacht dort „umherstrich“. Ob er zu diesem Zeitpunkt bereits Brandsätze bei sich trug oder später weitere gelegt habe, sei unklar.

Um 2:40 Uhr verlässt der Täter laut Videoaufzeichnung den Tatort. Um 2:47 Uhr geht der erste Notruf ein, um 2:53 Uhr werden die Stadtwerke alarmiert, und um 2:55 Uhr trifft die Drehleiter als letzte Einheit am Einsatzort ein.
Der Richter betont, dass Kritik an möglichen Fehlern legitim sei, äußert jedoch deutlich, dass die öffentliche Infragestellung der Feuerwehr durch Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız in diesem Fall nicht gerechtfertigt sei. Wörtlich sagt er, wenn sich Frau Başay-Yıldız „dahin stellt und die Feuerwehr in Frage stellt“, sei das unangemessen. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Aussage eines Feuerwehrhauptwachtmeisters, der geschildert habe: „Dann sprangen die, dann war für uns keine Veranlassung, die Drehleiter weiter auszufahren.“

Kötter hebt hervor, dass Başay-Yıldız als Opfervertreterin zwar parteiisch sein dürfe, jedoch sei es in diesem Moment unangemessen gewesen, zu diskutieren, warum die Feuerwehr nicht früher ausgerückt sei. Er sagt: „Auch wenn ich da jetzt einen Shitstorm kriege, das würde ich beanstanden.“ Der Richter verweist erneut auf die Aussage des Feuerwehrhauptmanns, der diesen Einsatz als den schlimmsten seiner 25 Dienstjahre bezeichnete. Bei jemandem, „von dem man zu Recht erwartet, dass er einiges gesehen hat“. Das Erlebte habe die Einsatzkräfte stark mitgenommen, etwa der Flammenschlag aus den Fenstern und das Bild, das sich ihnen beim Eintreffen bot, „als schon praktisch nichts mehr zu machen war“.

Er geht nochmals auf die Kritik von Basay-Yildiz ein und lobt im Gegensatz dazu Herrn Bona für seinen Umgang mit dieser. Bona habe die Kritik „einfach weggesteckt“, obwohl sie ihn hätte treffen können. Dabei bezieht er sich darauf, dass Başay-Yıldız Bezug auf den Kommentar von Staatsanwalt Bona genommen hat „durch verschlossene Türen hätte womöglich Schlimmeres verhindert werden können.“ Die Türöffnung habe es „natürlich schwerer gemacht, die Familien noch retten zu können“. Hier kritisierte Başay-Yıldız im Vorfeld stark die Verschiebung der Verantwortung und darin enthaltene Täter-Opfer-Umkehr. Dazu sagt Kötter in Bezug auf die Aussage von Staatsanwalt Bona: „Das war natürlich überhaupt gar kein Vorwurf, das kann ich auch verstehen, dass man das analysiert.“ Er fügt hinzu, auch er selbst sei „nicht ganz richtig zitiert worden“ und habe das „nicht ganz fair“ gefunden. Auch ihm hätten die Maßregelungen durch Başay-Yıldız zugesetzt. Dies habe keine besonnene Verhandlungsatmosphäre gefördert, vielmehr sei es zu „demonstrationsartigen Verhältnissen“ im Sitzungssaal gekommen.

Er lobt die Anwesenden, insbesondere die Opfer und Angehörigen, für ihre Selbstbeherrschung im Kontrast zur Gefühllosigkeit des Täters: „Bewundernswert, wie Sie das hier schaffen.“ Er spricht auch nochmal – und hier zitiert er den Verteidiger – von der hohen Verantwortung, die auch unter dem Eindruck vom Brandanschlag in Solingen 1993 im Gerichtssaal zu spüren gewesen wäre.

Kritik weist Kötter dort zurück, wo etwa Başay-Yıldız den Staatsanwalt als „menschenverachtend“ bezeichnet habe. Solche Äußerungen gingen seiner Ansicht nach „weit über das Ziel hinaus“. An die Familie Zhilov gerichtet sagt er: „Wir (die Kammer) haben uns das nicht leicht gemacht.“

Er geht nochmals auf den Zeugen ein, der zu Protokoll gegeben hatte, er habe „gesehen, wie da einer gebrannt hat“. Kötter betont, dies sei laut Ortsbegehung und Aussagen des Brandsachverständigen so nicht möglich gewesen. Die Aussagen des Zeugen seien zudem uneinheitlich gewesen. Seit der Rekonstruktion müsse klar sein, dass dieser lediglich Feuer gesehen habe.

In erschütternder Detailliertheit beschreibt Kötter, wie die Familie Zhilov zu Tode gekommen sein muss. Er geht auf den Anruf um 2:45 Uhr ein: „Bruder, Bruder, wir verbrennen hier“ und erklärt, dass die Todesursache eine Rauchgasvergiftung gewesen sei, die dem Verbrennen der Körper zeitlich vorausging. Es sei eine große Menge giftiger Rauch eingeatmet worden. Dies hätten auch die rechtsmedizinischen Untersuchungen der Leichen ergeben. Weitere Verletzungen seien nicht todesursächlich gewesen. Er stellt fest, dass alle Opfer von Daniel S. psychisch für ihr Leben gezeichnet seien. Die psychische Dimension sei kaum vorstellbar. Mit Blick auf den Geschädigten Herr K. sagt Kötter, dessen Zustand habe sich zwar inzwischen zum Glück gebessert, aber zwischenzeitlich „hörte sich das ja gar nicht so vielversprechend an“. Was Familie K. und andere durchleiden müssten, sei kaum in Worte zu fassen.

Dann wendet sich Kötter an René S., der im Sitzungssaal anwesend ist. Er erinnert daran, dass René S. und der Täter früher befreundet gewesen seien. In diesem Moment schauen sich die beiden an. Zur Tat an René S. sagt er, es müsse bei Daniel S. eine emotionale Aufladung gegeben haben, als dieser unvermittelt auf ihn einschlug, ihn mit einem Spray und anschließend mit einer Machete attackierte. Dies seien gezielte Verschleierungsbemühungen gewesen. Eine Bagatellisierung auch dieser Tat von Daniel S.

An René S. gewandt sagt Kötter, dieser sehe heute schon erstaunlich viel besser aus, wenn man dessen Schädelfrakturen und Verletzungen noch vor Augen habe und sagt, das war ja ein Wunder, der Schädelknochen war abgesprungen und teilweise skalpiert. Das sei, Zitat: „schon hinterhältig, wenn einen der beste Freund hinterhältig angreift“.

Kötter hält kurz inne und reflektiert: „Vielleicht sollte ich es anders machen und bei den Dingen bleiben, die das Urteil herbeiführen.“ So korrigiert auch er sich im Sprechen, sagt aber dennoch die Dinge, die er nicht sagen will.

Er führt aus, dass die Tat aus dem Jahr 2024 zwar für sich genommen monströs gewesen sei, die vorhergehenden Taten aber schon für ein lebenslanges Strafmaß ausgereicht hätten: Für die Tat 2022 – 9 Jahre, für die Josefstraße – 6 Jahre, für die Tat gegen René S. – nochmals 9 Jahre. Zusammengenommen hätte dies ohnehin zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe geführt. Mit der Tat in der Grünewalder Straße sei die Schwelle für lebenslänglich, insbesondere mit besonderer Schwere der Schuld in der Vielzahl von Getöteten und Geschädigten, weit überschritten. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung würde ja auch klar darauf hindeuten, dass Daniel S. „für sehr lange Zeit nicht mehr frei“ kommen werde.

Er fragt rhetorisch: „Ich weiß nicht, ob ich mich da jetzt noch weiter in Details versteigen soll.“ Es ginge hier schließlich um lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld und Sicherheitsverwahrung. Kötter geht nochmals auf das Geständnis von Daniel S. ein und darauf, dass dieser sich schließlich doch einer psychologischen Exploration unterzogen habe, obwohl er dies zunächst abgelehnt hatte. Ob das den Opfern helfe, bleibe fraglich. Prof. Dr. Faustmann habe in drei Gesprächen jedoch Erkenntnisse über Daniel S. gewonnen, denen er sich freiwillig gestellt habe.

Kötter beschreibt Daniel S. als apathisch und regungslos, jetzt, während der gesamten Verhandlungstage und während der Urteilsverkündung. Dennoch bezeichnet er es als besondere Leistung, dass Daniel S. sich eingelassen und ausgesagt habe. Denn das Anrecht auf Wahrheit der Opfer würde dem Schweigerecht, das ein Angeklagter in diesem Moment habe, widersprechen. Die Geschädigten könnten letztlich froh sein, dass Daniel S. sich zu diesem Schritt entschlossen habe. Nun gebe es ein Gesicht: „Sie wissen jetzt: Das ist der, der dafür verantwortlich ist.“

Dann spricht er die Frage an, ob es sich bei Daniel S. um einen rechtsradikal motivierten Täter handelt. Dabei stellt er klar, Seda Başay-Yıldız habe mit ihren Forderungen nach weiteren Ermittlungen richtig gehandelt. Sie habe berechtigt auf die Interessen der Opfer verwiesen und auch ihre Interviews in der Presse seien „überhaupt gar kein Problem“. Problematisch sei allerdings der von ihr erhobene Vorwurf der Vertuschung.

Kötter argumentiert: Im Gegenteil, der Rechtsstaat habe hier funktioniert. Die Polizei habe Fehler gemacht, die Staatsanwaltschaft habe diese nicht verschleiert, die Nebenklage habe sie benannt, die Kammer habe sie aufgenommen. Dann sei die Notwendigkeit entstanden, diese Ermittlungen nachzuholen. Dass zunächst mit zu wenig Personal gearbeitet wurde, sei ein gesonderter Punkt. Er sagt wörtlich: „Dann war der Skandal geboren.“ Und weiter: „Alles, was da war, ist ausgewertet worden. Die Polizei hat sozusagen gebüßt.“ Er betont: „Wir haben uns immer bemüht, sodass wir uns jetzt auch nicht so fühlen müssen, dass wir nicht alles getan hätten.“

Er verweist auf § 202 StPO (Beweiserhebung) und sagt, alle erforderlichen Maßnahmen seien ergriffen worden. Der Aufwand sei enorm gewesen und der Umfang, der darin noch zu „tuenden Maßnahmen“ unterschätzt worden. In bestimmten Bereichen sei „herausragend ermittelt“ worden. Teils hätten Beamt*innen über 100 Stunden gearbeitet, auch an Wochenenden.

Kötter wendet sich gegen die Interpretation von Başay-Yıldız und betont, dass ein rechtsradikales Motiv klar nachgewiesen werden müsse, um es als solches zu benennen. Die Konflikte mit ausländischen Nachbarn, etwa mit Herrn H. aus der Normannenstraße, seien laut Prozessverlauf eher Nachbarschaftsstreitigkeiten gewesen. Başay-Yıldız habe in ihrem Plädoyer davon gesprochen, dass sie selbst in ihrer geschützten Welt lebten, wo so etwas nicht passiere. Er sagt dazu: Auch Daniel S. habe in einem Haus mit hoher Diversität der Anwohnerschaft gelebt.

Er wirft der Nebenklage vor, an einigen Stellen nicht ganz korrekt zitiert zu haben. Es habe lediglich eine Suchanfrage bei Compact gegeben, keine tiefergehenden Recherchen. Zur Löschung der rechtsradikalen Inhalte auf einer Festplatte sagt er, diese habe bereits vor der Sicherung stattgefunden, es gebe keine Anzeichen, dass der Täter versucht habe, die Daten vorher wiederherzustellen. Daraus etwas abzuleiten, sei „sehr weit gegriffen“.

Er geht nochmals auf den Vergleich ein mit Hanau, der ursprünglich von Başay-Yıldız angeführt wurde. Auch dort habe man dem Täter zunächst keine rechtsextremen Aktivitäten nachweisen können, „dann hat man ihn auf links gedreht, und dann hat man gesehen, wes Geistes Kind der ist, wie er sich radikalisiert habe“. Bei Daniel S. sei das ausdrücklich nicht der Fall gewesen.

Zum Brand in der Normannenstraße sagt er, dass nach menschlichem Ermessen kein anderer Täter in Frage komme. Daniel S. habe hierzu allerdings nichts gesagt. Kötter rät ihm: „Nutzen Sie Ihre Zeit sinnvoll.“ Er reflektiert nochmals die Exploration durch Prof. Dr. Faustmann und wirft die Frage auf, ob die Idee, dass dort Menschen sterben für die eigene Selbstaufwertung, notwendig gewesen sei. Darüber könne man jetzt nur spekulieren.

Zum Adhäsionsverfahren (Schadensersatz und Entschädigung) sagt er, dieses habe vor allem symbolischen Wert: „Wenn man da jetzt noch ein bisschen Geld kriegt.“ Abschließend wendet er sich erneut an Daniel S.: Man werde ihn in der JVA jetzt „genau unter die Lupe nehmen, auch was die Psyche betrifft“. Er ginge davon aus, dass Herr Bona dies bereits veranlasst habe.

Zum Schluss spricht Kötter sich für einen fairen Umgang im Gericht aus, auch wenn man nicht immer einer Meinung sei. Den Opfern und Angehörigen wünscht er: „Alles Gute, sofern das möglich ist.“

Damit endet seine Urteilsbegründung und die gesamte Verhandlung.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Belltower.News.

Rechtsterroristin im Aussteigerprogramm: Ein Schlag ins Gesicht für Hinterbliebene und Opfer

Beate Zschäpe (Foto: IMAGO / Funke Foto Services, Bearbeitung: Amadeu Antonio Stiftung)

Deutschland hört Täter*innen zu – und lässt die Opfer schweigen. Während die Hinterbliebenen der NSU-Morde noch immer um Anerkennung, Entschädigung und Opferschutz kämpfen, erhält Beate Zschäpe Zugang zum Aussteigerprogramm „EXIT“.

Von Luisa Gehring

Der NSU-Komplex

Bundesweit ermordete der sogenannte „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) unter Mithilfe eines breiten rechtsextremen Netzwerkes im Zeitraum von 2000 bis 2007 zehn Menschen. Unter den Opfern waren Menschen türkischer, kurdischer, griechischer und iranischer Herkunft. Hinzu kamen 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Diese Mord- und Raubserie hätte das Trio ohne ein großes Netzwerk an Unterstützer*innen nicht so lange im Untergrund weiterführen können. Dieses wird auf 100 bis 200 Personen geschätzt – inklusive Funktionäre rechtsextremer Parteien und V-Personen.

Am 4. November 2011 enttarnte sich die Terrorzelle. Bis heute sind jedoch viele Fragen und Ungereimtheiten zum NSU nicht aufgeklärt. Besonders das Unterstützer*innen-Netzwerk, das dem NSU erst seine mörderischen Taten ermöglichte, ist immer noch unzureichend beleuchtet worden. Dabei sind Personen aus dem Unterstützungsumfeld auch nach Bekanntwerden des „NSU-Trios“ weiterhin in der gewaltbereiten rechtsextremen Szene aktiv.

Der NSU war nicht zu dritt!

Der Kern des NSU bestand aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.

Obwohl lange von der NSU-Terrorzelle als „Trio“ die Rede war, zeigen Recherchen, Prozesse und Untersuchungsausschüsse, dass der NSU ein Netzwerk hatte:

  • über 100 Unterstützer*innen, die logistisch, ideologisch oder materiell unterstützten;
  • Neonazi-Gruppen, wie der „Thüringer Heimatschutz“, „Blood and Honor” und „Brigade Ost“;
  • Mitwissende, die u. a. Wohnungen, Ausweise, Waffen oder Fahrzeuge organisierten;
  • V-Männer, die Geld, Schutz und Infrastruktur vom Verfassungsschutz weitergaben

Viele dieser Unterstützer*innen wurden nicht vollständig juristisch zur Verantwortung gezogen. Bis heute gibt es zahlreiche offene Fragen und Ungereimtheiten rund um das Treiben des NSU und sein Netzwerk. Auch der Prozess schaffte kaum Aufklärung, gerade weil Beate Zschäpe nicht vollumfänglich aussagte und zur Aufklärung beitrug.

Beate Zschäpe – verurteilt als Haupttäterin

Nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wurde Beate Zschäpe in München 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt. Mit „besonderer Schwere der Schuld“, aber ohne eigenes Schuldeingeständnis. Lange schwieg Zschäpe im Prozess, später machte sie Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos allein für die Taten verantwortlich.

Nach 15 Jahren Haft wird das Oberlandesgericht München im November 2026 prüfen, ob Zschäpe weiterhin in Haft bleibt oder eine vorzeitige Entlassung möglich ist. Die Aufnahme in das Aussteigerprogramm EXIT kann darauf einen positiven Einfluss haben und haftmildernd wirken.

Im Prozess zeigte sie keine Reue, übernahm keine Verantwortung und hielt weiterhin Kontakt zur rechtsextremen Szene. Der Schritt von Zschäpe, an dem Aussteigerprogramm teilzunehmen, wirkt kalkuliert.

Fehlende Opferperspektive

Opfervertreter*innen bezweifeln, dass Zschäpe der rechtsextremen Szene wirklich den Rücken kehren möchte, geschweige denn ein ehrliches Interesse daran hat. Sie sehen in der Aufnahme vielmehr einen taktischen Schritt zur möglichen Strafmilderung.

Während Gelder nach dem Opferentschädigungsgesetz von Betroffenen des NSU und anderer rechtsterroristischer Taten immer wieder aufs Neue erkämpft und in teilweise entwürdigenden Prozessen verhandelt werden, wird Beate Zschäpe die Tür zur Strafmilderung zur möglichen Anpassung der Haft aufgehalten – ohne echte Aufarbeitung oder Reue. Die Stimmen von Hinterbliebenen und Opfern des NSU bleiben bei dieser Entscheidung außen vor.

Ein Schlag ins Gesicht der Opfer und Hinterbliebenen

„Während wir trauerten, wurden wir kriminalisiert und entwürdigt, während wir um Antworten baten, wurden wir diffamiert und während wir bis heute um Anerkennung und Entschädigung kämpfen, wird einer Mörderin eine ‚Resozialisierung‘ zuteil, mit vorzeitiger Haftentlassung, mit stattlichem Schutz und natürlich mit Schweigen darüber, was das für die Betroffenen bedeutet”, kritisiert Michalina Boulgarides, Tochter des durch den NSU ermordeten Theodoros Boulgarides (nsu-watch.info).

 

Wir gedenken an:

Enver Şimşek

Abdurrahim Özüdoğru

Süleyman Taşköprü

Habil Kılıç

 Mehmet Turgut

İsmail Yaşar

Theodoros Boulgarides

Mehmet Kubaşık

Halit Yozgat

Michèle Kiesewetter

Bundesverwaltungsgericht hebt Verbot gegen Compact auf – zum Urteil und seinen Folgen

Jürgen Elsässer am 05.09.2022 auf dem Augustusplatz in Leipzig bei einer Kundgebung der »Freien Sachsen«
Jürgen Elsässer am 05.09.2022 auf dem Augustusplatz in Leipzig bei einer Kundgebung der »Freien Sachsen«, Bild: Dirk Bindmann, CC

von Benjamin Winkler, Amadeu Antonio Stiftung

Am 24. Juni 2025 hob der sechste Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, unter dem Vorsitz von Richter Ingo Kraft, das bestehende Verbot des rechtsextremen Compact Magazins durch das Bundesinnenministerium endgültig auf. Es war bereits seit dem 14. August 2024 vom gleichen Gericht teilweise außer Kraft gesetzt worden, sodass Compact weiterhin erscheinen konnte. Mit dem Urteil im Hauptverfahren ist das Verbot endgültig vom Tisch, was die Betreiber des Magazins ordentlich gefeiert haben. Es lohnt sich ein genauerer Blick auf das Verfahren und die Urteilsbegründung.

Das Compact Magazin wird vom gleichnamigen Medienunternehmen und dessen Gründer und Chef Jürgen Elsässer herausgegeben. Neben dem Heft gibt es weitere TV- oder Social-Media-Formate. Auch gibt es im Compact-Shop Bücher und zahlreiche Sonderhefte. Compact erscheint seit Dezember 2010 (Nullnummer) und hat heute, nach Eigenangaben eine Auflage von 40.000 Exemplaren.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft das Magazin seit 2022 als gesichert rechtsextrem ein. Grund für die Entscheidung waren vor allem eine systematische Hetze in Compact gegen Geflüchtete und Muslime, die Verbreitung von Geschichtsrevisionismus und die Delegitimierung demokratischer Systeme und Institutionen. Wissenschaft und Zivilgesellschaft kritisieren zudem die häufigen antisemitischen Verschwörungserzählungen in den Compact-Medien. Diese sind auch in der aktuellen Ausgabe Nr. 7/2025 zu finden, auf deren Frontcover der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vor dem Hintergrund einer apokalyptischen Kriegsszene zu sehen ist. Im Heft wird dann an eine frühere antisemitische Behauptung der Compact-Redaktion angeschlossen. Demnach strebe eine jüdische Geheimgruppe nach Weltmacht, indem die Welt in einen großen Krieg gestürzt werden soll. Gemäß dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig können solche düsteren antisemitischen Geschichten weiter erscheinen und vermarktet werden.

Das Bundesinnenministerium hatte Compact nach dem Vereinsgesetz verboten. In der Begründung des BMI vom 16. Juli 2024 hieß es, dass Compact nicht nur rassistische und antisemitische Hetze verbreite, sondern in besonderer, aggressiver Weise gegen Minderheiten wie beispielsweise Muslim*innen oder arabische Bevölkerungsteile aufwiegele, die zu Gewalt und Straftaten führen könne. Auch der Hass gegen Jüdinnen und Juden, der von Compact ausginge, sei Grund für das Verbot. Damals wurden dann bundesweit Vereinsimmobilien polizeilich aufgesucht und Beweise gesichert. Alle Compact-Medien verschwanden binnen kurzer Zeit aus dem Netz beziehungsweise aus den Verkaufsgeschäften. Das Vorgehen des BMI wurde durchaus als Agieren eines wehrhaften, demokratischen Staates verstanden. Zugleich regte sich, vor allem aus dem rechten Lager, Widerstand und Solidarisierung mit Compact. In den letzten Jahren hatte sich Compact vor allem auch als Sprachrohr der rechten Szene hervorgetan, nachdem es zuvor bereits für verschwörungsideologische oder esoterische Kreise ein wichtiges Medium wurde.

In der Urteilsbegründung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Juni 2025 heißt es nun, dass die Presse- und Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Grundgesetz auch dann noch gilt, wenn Personen oder Gruppen rassistische, antisemitische oder demokratiefeindliche Inhalte verbreiten. Die Grundrechte gelten auch für die Gegner*innen der Demokratie, so die Richter*innen in Leipzig. Zwar wird durch das Gericht der verfassungsfeindliche Inhalt in den Compact-Medien gesehen, zugleich sei aber ein Komplettverbot von Compact ein zu harter Eingriff in die Grundrechte der Betreiber*innen. Ebenso wird durch die Richter*innen festgestellt, dass nicht alle Inhalte der Hefte verfassungsfeindlich seien. Konkret heißt es: „Eine Vielzahl der von der Beklagten als Beleg für den Verbotsgrund angeführten migrationskritischen bzw. migrationsfeindlichen Äußerungen lässt sich danach auch als überspitzte, aber letztlich im Lichte der Kommunikationsgrundrechte zulässige Kritik an der Migrationspolitik deuten.“ (s.o.)

Der spannendste Teil des Urteils ist aber der Auszug zum so genannten Remigrationskonzept. Dieses stammt in seiner heutigen Fassung vom österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner. Dieser schreibt regelmäßig eine Kolumne für Compact und verbreitet die Magazin-Inhalte über seine Social-Media-Kanäle. Er ist zudem eng mit Jürgen Elsässer verbunden. In der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts heißt es zur Verträglichkeit des Remigrationskonzepts mit dem Grundgesetz: „Diese Vorstellungen missachten – jedenfalls soweit sie zwischen deutschen Staatsangehörigen mit oder ohne Migrationshintergrund unterscheiden – das sowohl durch die Menschenwürde als auch das Demokratieprinzip geschützte egalitäre Verständnis der Staatsangehörigkeit. Denn sie gehen von einer zu bewahrenden „ethnokulturellen Identität“ aus und behandeln deshalb deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund als Staatsbürger zweiter Klasse.“ Damit drücken die Richter*innen deutlich aus, dass die Vorstellungen Sellners gegen das Grundgesetz verstoßen. Wichtig ist auch, dass das Remigrationskonzept eng mit der Verschwörungsideologie eines geplanten „Bevölkerungsaustausches“ verbunden ist. Die Vorstellung, dass angeblich geheime Eliten seit Jahrzehnten eine gezielte Überfremdung Europas und der USA betreiben würden, mündete bei Sellner und auch bei Compact schließlich in die Forderung nach einer massenhaften Ausweisung von Migrant*innen. In der öffentlichen Deutung dieses Teils des Compact Urteils hieß es, dass hier durchaus eine wichtige Grundsatzentscheidung getroffen worden sei. Bekanntlich fordert auch die AfD eine „Remigration“ von Migrant*innen und handelt damit offenbar gegen die Grundrechte von Menschen in diesem Land.

Es bleibt festzuhalten, dass durch die Aufhebung des Verbots weiterhin ein verschwörungsideologisches, rechtsextremes und antisemitisches Magazin frei erscheinen kann. Nicht wenige Menschen, die heute verschwörungsgläubig sind, haben wahrscheinlich über Compact und ähnliche Medien einen ersten Zugang gefunden. Aus dem Gesichtspunkt der Präventionsarbeit gäbe es also auch gute Gründe, weiterhin kritisch mit Compact umzugehen. Zwar mag es juristisch korrekt sein, einige der Beträge aus Compact lediglich als „polemisch zugespitzte Machtkritik“ [s.o.] zu verstehen, andererseits birgt eine solche Einschätzung erhebliche Risiken. Sie könnte zahlreiche andere Akteur*innen dazu ermutigen,  rassistische, antisemitische oder menschenfeindliche Positionen offensiver in den Umlauf zu bringen, da diese scheinbar nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Es ist deshalb dringend notwendig, den rechtsextremen und demokratiefeindlichen Inhalt der Compact sichtbar zu machen. Diese Aufgabe werden auch in Zukunft vor allem zivilgesellschaftliche und medienkritische Akteur*innen haben. Diesen allerdings die alleinige Verantwortung der Bekämpfung von gefährlichen Verschwörungsideologien zuzuweisen, würde zu kurz greifen. Hier braucht es auch weiterhin das wirksame Handelns des Staates und seiner Organe.

Verfassungsschutzbericht 2024: (Fehlende) Zahlen

Bild: Mathias Rodatz

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) präsentierte im Juni seinen jährlichen Bericht und spezifiziert darin auch die statistischen Angaben zur „politisch motivierten Kriminalität (PMK)“ des Bundeskriminalamtes auf Straftaten mit „extremistischem Hintergrund“. Die Angaben in den verschwörungsideologisch relevanten Bereichen sind bezeichnend und auch aufschlussreich für die Beobachtungskategorien:

Erfasst wird die PMK bei der Polizei grundsätzlich in den Kategorien „PMK-rechts, PMK-links, PMK-religiöse Ideologie, PMK-ausländische Ideologie und PMK-sonstige Zuordnung“. Dem übergeordnet als „extremistisch motiviert“ klassifiziert werden „diejenigen Straftaten, bei denen es Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie darauf abzielen, bestimmte Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen, die für die freiheitliche demokratische Grundordnung prägend sind.“ (VSB 2024, S. 26). Im Jahr 2024 machten diese 68,6 Prozent aller politisch motivierten Straftaten aus. Ein Anteil von 13,5 % wurde davon unter „sonstige Zuordnung“ erfasst.

Trotz fehlender Kategorie werden nach den Angaben zur PMK-rechts und vor denen zur PMK-links auch 992 Straftaten angegeben, die von Souveränist*innen verübt worden sind, die einheitlich als „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ bezeichnet werden. In dieser Kategorie kann ein Rückgang um über 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr und um knapp die Hälfte gegenüber 2022 (in absoluten Zahlen 1.900) festgestellt werden. 2024 wurden von diesen Straftaten knapp 11 Prozent als gewaltvoll und gut 6 Prozent als antisemitisch eingeordnet. Anteilig die meisten Straftaten wurden dabei in Baden-Württemberg verzeichnet (knapp 21 Prozent), in Bayern aber absolut die meisten der Gewalttaten, nämlich 26 (2022 waren es 197).

Die aktuellen Phänomenbereiche des Verfassungsschutzes sind Rechtsextremismus/ rechtsextremistischer Terrorismus, „Reichsbürger“ und Selbstverwalter“, „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, Linksextremismus, Islamismus/ islamistischer Terrorismus und auslandsbezogener Extremismus. Um die nicht in diese Bereiche zuordenbare Akteure im Zuge der Proteste gegen die Regierungsmaßnahmen während der Covid-19-Pandemie zu erfassen, war im April 2021 im BfV die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ (im folgenden kurz „Delegitimierung“) eigens eingerichtet worden. Im ersten und zweiten Jahr, 2021 und 2022, wurden dem Bereich 1.400 Personen zugerechnet, 2023 dann 1.600 und 2024 nun 1.500 Personen. Nachdem der Anteil gewaltorientierter (also gewalttätiger und/ oder Gewalt androhender bzw. befürwortender) Personen in den ersten beiden Jahren mit 20 Prozent angegeben wurde, lag dieser 2023 und 2024 nun unverändert bei knapp 17 Prozent bzw. 250 Personen. Das BKA wendet die Kategorie allerdings weiterhin nicht an bzw. ordnet diesem Bereich keine politisch motivierten Straftaten zu (im Gegensatz zum Souveränismusbereich).

Dem Phänomenbereich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ werden 2024 26.000 Personen zugeordnet (davon 10 Prozent gewaltorientiert). Mehr als 5 Prozent von diesen werden gleichzeitig auch im Phänomenbereich „Rechtsextremismus“ erfasst. Wie viele dieser Gruppen anteilig außerdem den anderen Phänomenbereichen, insbesondere der „Delegitimierung“ zugeordnet werden, bleibt unbekannt.

Eine trennscharfe und einheitliche Kategorisierung und vor allem Erfassung durch die beiden Bundesämter ist jedoch erforderlich, um gebildete Kategorien empirisch überprüfbar zu machen (und auch andersherum existierende Phänomene zu benennen). Hinzukommt, dass insbesondere gegen identifizierte Gruppen gerichtete Verschwörungsideologien sich oft unterhalb der Strafbarkeitsschwelle äußern und daher nicht erfasst werden. Zivilgesellschaftliches Monitoring ist aus diesem Grund weiterhin unerlässlich, um die Präventionsarbeit wirksam zu machen.

Tools im Test: Online-Quiz

conspiracy-virus.de

Mit dem Online-Tool der früheren „Kooperative Berlin“ (heute: KBK Kulturproduktion e.V.) können Interessierte ihr Wissen über das Thema Verschwörungstheorien sowie auch eigene Meinungen über bekannte und weniger bekannte Erzählungen festigen. Es ist vor allem für thematisch Interessierte zu empfehlen und Menschen, die mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen pädagogisch arbeiten.

Das Prinzip ist schnell erklärt. Wer auf den Button „Mach den Schnelltest“ klickt, landet in einem Quiz, bestehend aus zehn zufällig gebildeten Fragen oder Aussagen. Die Nutzer*innen haben dann jeweils kurz Zeit, um in Bezug auf eine Aussage, ein Bild oder eine Frage eine Antwort zu finden. Die Antwortmöglichkeiten reichen in der Regel von „Ja, stimmt“, „ist möglich“ über „weiß nicht“ bis hin zu „Nein, das stimmt nicht.“ Bei einigen der Quiz-Fragen erhalten die Nutzer*innen auch andere Antwortmöglichkeiten. Mit einem Ampelsystem wird sofort angezeigt, ob die Antwort richtig oder falsch beziehungsweise teilweise richtig war. Grün steht für richtig, rot für falsch und gelb für „ist möglich“. Nicht direkt im Quiz, aber danach, werden den Nutzer*innen auch Erklärungen angeboten, weshalb ihre Antworten so bewertet wurden. Die zehn Fragen oder Aussagen können sich auf allgemeines Wissen zum Thema (z.B. Verschwörungstheorien werden seit langer Zeit verbreitet) oder Meinungen und Sachaussagen zu verschiedenen konkreten Verschwörungserzählungen (z.B. die Ursache von Corona wird noch wissenschaftlich untersucht) beziehen. Wer das Quiz mehrfach nutzt, wird somit mit vielfältigem Wissen und Inhalten aus dem Thema konfrontiert. Wenn alle zehn Fragen oder Aussagen beantwortet wurden, erhalten die Nutzer*innen einen so genannten Immunitätswert. Dieser kann zwischen 0% und 100% betragen. Wer einen hohen Wert hat, gilt als besonders immun gegen Verschwörungserzählungen. Am Ende des Quiz können die Nutzer*innen ihr eigenes Antwortverhalten noch einmal sehen und erhalten Hinweise, weshalb es richtig, möglich oder falsch gewesen ist. Neben einem kurzen Einordnungstext werden den Nutzer*innen auch Links zu hintergründigen Quellen angeboten.

Das Online-Quiz bietet der interessierten Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich spielerisch an das Thema heranzuwagen. Die Vielzahl der Themen und Inhalte macht es zudem spannend und aktuell. Auch wenn sich einige Aussagen oder Fragen auf die Corona-Zeit beziehen, kann das Quiz auch heute noch genutzt und empfohlen werden. Hier darf man sich von dem Namen des Tools nicht täuschen lassen. Eine Stärke des Angebots ist die Idee des so genannten Immunitätswerts. Dieser könnte dazu führen, dass Nutzer*innen das Quiz so lange probieren, bis sie einen hohen Wert erhalten. Hierdurch erhalten sie weiteres Wissen und müssen sich mit verschiedenen Sachbeständen zum Thema auseinandersetzen. Eine weitere Stärke sind die Antwortkategorien „weiß nicht“ und „ist möglich“. Dadurch können auch Nutzer*innen das Quiz annehmen, die bisher wenig Wissen zum Thema haben oder die sich noch keine Meinung gebildet haben. Besonders positiv ist auch die Möglichkeit, sich am Ende des Quiz mit dem eigenen Antwortverhalten kritisch auseinanderzusetzen und sogar Hintergrundartikel zu lesen. Auch die Unterscheidung zwischen einer Version in leichter Sprache und einer Standardversion ist positiv zu bewerten.

Freilich hat das Tool auch einige Schwächen, die kurz benannt werden sollen. Zum einen können derzeit keine neuen Verschwörungserzählungen oder neues Wissen zum Thema aufgenommen werden, da die Betreiber*innen – die Kulturproduktion KBK e.V. – das Projekt beendet hat. Zum anderen könnte die sofortige Bewertung der Antworten mit dem Ampelsystem den einen oder die andere Nutzerin abschrecken, da man das Gefühl hat, dass nur bestimmte Antworten erwünscht sind oder aus Schamgefühl über das fehlende eigene Wissen zum Thema. Hier wäre eine Idee, dass jegliche Bewertungen und Kommentierungen des Antwortverhaltens der Nutzer*innen erst zum Ende des Quiz erfolgen. Eine weitere Idee könnte darin bestehen, dass Nutzer*innen zuerst nach Beendigung des Quiz eine allgemeine, wertschätzende Einschätzung zu ihrem Immunitätswert erhalten, bevor dann die einzelnen Antworten zu den zehn Fragen angesehen werden. Somit könnten die Nutzer*innen ermutigt werden, das Quiz erneut zu probieren. Aus Sicht des Autors kann das Tool aber sowohl dem einzelnen Nutzer als auch der pädagogischen Fachkraft empfohlen werden. Für Letztere gibt es auf der Webseite auch Lehrmaterial, was eine weitere Stärke des Angebotes ist. Wenig Nutzen dürfte das Tool bei jenen Nutzer*innen haben, die überzeugte Verschwörungsgläubige sind. Hier gilt allerdings der Grundsatz, dass solche Menschen pädagogisch mit Debunking-Angeboten nicht erreichbar sind.

Reportage

Recherche: So organisiert sich die neue Generation der Neonazis

Symbolbild

Die neuen rechtsextremen Jugendgruppierungen sind aktionsorientiert und haben hohes Mobilisierungspotenzial. Wer steckt dahinter, wie sind sie organisiert und warum sind sie so erfolgreich?

Von Luisa Gehring

Rechtsextreme Jugendgruppen erleben derzeit einen Zulauf, wie man ihn in der Geschichte der Bundesrepublik nur selten erlebt hat. Das Erschließen einer breiteren Gefolgschaft, bestehend aus Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, geht jedoch keinesfalls mit einer Mäßigung der Positionen und Aktionen einher. Junge Neonazis stören CSDs, greifen politische Gegner*innen an und verüben Anschläge auf Jugendzentren, queere Bars und alternative Wohnprojekte. Sie solidarisieren sich mit rechtsextremen Szenegrößen und präsentieren sich auf Social Media teilweise mit Klarnamen, ohne Vermummung, dafür mit Reichsflagge, White-Power-Geste, bei Wanderungen und Kampfsporttrainings. Die Bilder strotzen vor rechtsextremer Selbstermächtigung und der Inszenierung von Stärke.

Über Social Media erreichen die Accounts der einzelnen Ortsgruppen sowie der bundesweiten Dachorganisationen zehntausende Aufrufe. Die Algorithmen der Plattformen werden über die eigene Erschaffung von Trends und das abgestimmte Auftreten in „Guerilla-Strategie” gezielt genutzt, sodass in bestimmten Blasen eine Omnipräsenz rechtsextremer Inhalte entsteht. Die Kommentarspalten unter politischen Beiträgen sind voll mit blauen Herzen, Adler-Emojis und Deutschlandfahnen. TikTok, Instagram, Telegram, aber auch WhatsApp dienen den Jungnazis nicht nur als Schaufenster der eigenen Themen, sondern werden auch zur Nachwuchsrekrutierung eingesetzt. Online gerät man erschreckend leicht in die innersten Kreise der neuen Generation des deutschen Rechtsextremismus.

Ausdifferenzierung als Schutzschild

Junge Nationalisten, Deutsche Jugend Voran, Elblandrevolte, Der Störtrupp, Jung & Stark, Letzte Verteidigungswelle, Pforzheim Revolte, Deutsche Jugend Zuerst, Gersche Jugend, Nationalrevolutionäre Jugend, Sächsische Separatisten, Unitas Germanica, Reconquista 21, Chemnitz Revolte, Neue Deutsche Jugend – je länger man sich mit rechtsextremen Jugendorganisationen auseinandersetzt, desto mehr Namen findet man auch. Das Netzwerk der Jungnazis hat sich in den letzten Jahren stark ausdifferenziert. Diese Ausdifferenzierung ist aber nicht mit einer inhaltlichen Zersplitterung der jungen Rechtsextremen gleichzusetzen. Vielmehr ist sie eine szeneinterne Strategie, um die eigene Flexibilität zu erhöhen und sich gleichzeitig staatlichen Exekutivmaßnahmen leichter zu entziehen. Gerät eine Gruppierung ins Visier der Sicherheitsbehörden, dient die Ausdifferenzierung anderen als Schutzschild.

Die Aktionen und Inhalte der Gruppen sind hingegen kaum voneinander zu unterscheiden. Sie eint die Verherrlichung des Nationalsozialismus, die Abwertung von Menschen, die sie als „fremd“, „anders“ oder „schwach“ markieren, sowie eine offene Queer- und Transfeindlichkeit. Deutlich wird das insbesondere im gemeinsamen Auftreten gegen CSDs und Pride-Paraden. Mit dem #Stolzmonat wurde auf Social Media eine kollektive Gegenkampagne zum Pridemonth gefahren, die über gewaltvolle Störaktionen von CSDs und Angriffe auf queeren und trans* Menschen in die Tat umgesetzt wird.

Doch um welche Gruppen geht es konkret? Im Folgenden beleuchten wir einige der aktivsten Jungnazi-Gruppierungen, die sich durch eine aggressive Selbstdarstellung im Netz und auf der Straße bundesweit einen Namen gemacht haben.

Junge Nationalisten

Viele der Organisationen sind an rechtsextreme Parteien gebunden. Parteijugendorganisationen wie die Jungen Nationalisten (Die Heimat, früher NPD) fungieren für ihre Mutterparteien als erste Anlaufstelle für junge Neumitglieder und sollen die politischen Forderungen der Partei auf die Straße tragen. Im Sommer 2024 organisierte die Jugendorganisation der Heimat eine Sonnenwendfeier in Enschede. Dem Medienkollektiv Recherche Nord gelang es mit Drohnen und einer Hebebühne, die von der Öffentlichkeit abgeschirmte Veranstaltung zu dokumentieren. Die entstandenen Bilder zeigen Kinder und Jugendliche bei nationalsozialistischen Ritualen und Bräuchen. Auch 2025 feierten die jungen Neonazis die Sonnenwende. Laut Recherche Nord dienen Feste wie diese zur rechtsextremen Identitätsstiftung der jungen Neonazis, indem sie sich zum einen als „Volksgemeinschaft“ von der demokratischen Gesellschaft abgrenzen und zum anderen gemeinschaftsstiftende Rituale praktiziert werden.

Die rechtsextreme Jugendorganisation ist hierarchisch und autoritär organisiert. Auf Demonstrationen wird ein „anständiges Verhalten und Auftreten verlangt“, wie die Gruppe in ihrem Infokanal auf Telegram schreibt. Anwärter und Unterstützer werden aufgefordert, das „weinrote Jugendbewegung T-Hemd“ zu tragen, während Vollmitglieder das „weiße Rebellen T-Hemd“ anziehen dürfen. Die JN haben in ganz Deutschland Ortsgruppen, deren Namen sich zum Teil von dem der Dachorganisation unterscheiden, wie die „Holsteiner Bande“ oder die „Märkische Jugend“.

Elblandrevolte

Auch die im Raum Dresden aktive Elblandrevolte ist ein Ableger der JN. Sie beteiligte sich unter anderem an dem rechtsextremen Aufmarsch gegen den CSD in Bautzen 2024 – einer der größten rechtsextremen Gegenveranstaltungen der CSD-Saison 2024. Rund 1.000 Teilnehmende standen fast 700 Rechtsextremen gegenüber. Der CSD in Bautzen wurde zum Selbstermächtigungsmoment der jungen Rechtsextremen. Danach ist ein bundesweiter Anstieg rechtsextremer Störaktionen bei CSDs nachweisbar, wie das Autor*innenkollektiv „Feministische Intervention” in einer Analyse auf NSU Watch dokumentiert. Mitglieder der Elblandrevolte werden auch für die Angriffe gegen den SPD-Europapolitiker Matthias Ecke im Mai 2024 und die Linken-Politikerin Samara Schrenk im Dezember 2024 verantwortlich gemacht.

Einer der Täter und führendes Mitglied der Elblandrevolte, der 19-Jährige Finley Pügner, sitzt mittlerweile im Gefängnis. Pügner wurde während des Angriffs gegen Samara Schrenk die Sturmhaube vom Kopf gezogen und der Neonazi konnte identifiziert werden. Ein Video von Spiegel-TV zeigt ihn bereits einige Wochen vor dem Angriff dabei, wie er der Linken-Politikerin am Rande einer Montagsdemonstration in Görlitz droht, ihr mal „eine reinzuschießen“: „Das wird wie ein zweites Weihnachten für dich, du Schlampe.“ In Reaktion auf die Inhaftierung von Pügner starteten die JN die Kampagne „Freiheit für Finley“, über die sie sich mit Pügner solidarisieren und zu Spenden und Demonstrationen aufrufen.

Jung & Stark

Schulter an Schulter demonstrierten die Jungen Nationalisten im Juli 2025 mehrmals mit der Jugendorganisation „Jung & Stark” bei der von der Heimat angemeldeten Demonstration „Für eine würdige Grabstätte für Siegfried Borchardt“ in Münster. Borchardt galt als eine Schlüsselfigur der nordrhein-westfälischen Neonazi-Szene. Er war Mitgründer der inzwischen verbotenen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) und zog 2014 als Vertreter der Partei „Die Rechte“ in den Dortmunder Stadtrat ein. Innerhalb der rechtsextremen Szene wird Borchardt bis heute als Märtyrer verehrt. Auch nach seinem Tod im Jahr 2021 wird er in sozialen Medien glorifiziert – zunehmend auch von der jüngeren Generation.

Der rechtsextremen Jugendorganisation Jung & Stark wird vom Verfassungsschutz ein Personenpotenzial im mittleren dreistelligen Bereich zugesprochen. Wie auch die JN ist J&S bundesweit aktiv und organisiert Wanderausflüge, Rechtsrockkonzerte, Fußballturniere oder Kampfsporttrainings. Wie gewaltaffin die Gruppierung ist, zeigte die Instagram-Story eines Mitglieds von Jung & Stark NRW. Selbstbewusst zeigt sich der junge Mann beim Schusswaffentraining in der Natur.

Nationalrevolutionäre Jugend

Die Nationalrevolutionäre Jugend ist nach Angaben der rechtsextremen Partei III. Weg keine eigenständige Jugendorganisation, wie die JN es für die Heimat ist. Sie ist lediglich eine Arbeitsgemeinschaft der Partei. Nach außen hin gibt sich die NRJ gewaltfrei und fungiert als Anwerbeplattform junger Menschen für die Parteiarbeit. Besonders im Raum Berlin undBrandenburg treten ihre Mitglieder jedoch militant auf und führen gewaltsame Aktionen gegen politische Gegner durch. So sind auch Mitglieder der NRJ für den Angriff auf mehrere Antifaschist*innen am Berliner Bahnhof Ostkreuz 2024 verantwortlich. 15 bis 20 vermummte und mit Knüppeln, Schlagstöcken und Pfefferspray bewaffnete Neonazis griffen am helllichten Tag Anreisende einer linken Demonstration an und verletzten sie schwer.

Deutsche Jugend Voran

Ebenfalls vor allem im Berliner Umland aktiv ist „Deutsche Jugend Voran” (DJV). Ortsgruppen existieren aber in fast allen Bundesländern. In Berlin wurde ihr Anführer Julian M. wegen mehreren Gewaltdelikten zu drei Jahren Haft verurteilt. Gemeinsam mit anderen Nqachwuchsnazis verprügelte er einen Mann in Antifa-Shirt und nötigte ihn, das Kleidungsstück auszuziehen. Später posierten die Neonazis mit dem geraubten T-Shirt in einer Kneipe für ein Foto, welches sie in den sozialen Netzwerken verbreiteten. Ende Juli 2025 wurden weitere Wohnungen von DJV-Mitgliedern in Berlin durchsucht. Die DJV versuchte auch den CSD in Berlin 2025 zu stören. Angemeldet zu Gegendemo waren 400 Teilnehmende – lediglich 40 erschienen. Selbst Anführer Julian M. blieb dieser Blamage fern und zog es vor, zu Hause zu bleiben.

Der Störtrupp

Der Störtrupp ist ein Sammelbecken für sowohl erfahrene rechtsextreme Kader teilweise aus den Reihen der berühmt-berüchtigten Dortmunder Neonazi-Szene sowie der Partei Die Rechte, als auch für Jungnazis. In den vier Regionalgruppen Nord, Süd, West und Ost organisieren sich teils militante Neonazis. Dem ZDF gelang es, mehr als ein halbes Jahr die Nachrichten der Organisation mitzulesen. Auf WhatsApp schreiben sich die Mitglieder rassistische, antifeministische, antisemitische und queerfeindliche Nachrichten. Auch Fotos von Messern, Waffen und Hakenkreuzfahnen werden ausgetauscht. Der Störtrupp tritt vor allem bei rechtsextremen Gegendemonstrationen zu CSDs in Erscheinung.

Junge Alternative

Die ehemalige Jugendorganisation der rechtsextremen AfD verzeichnete zuletzt 4.300 Mitglieder und führte Landesverbände in allen 16 Bundesländern. Nach ihrer Einstufung als gesichert rechtsextrem löste sich die JA in Reaktion auf einen Parteibeschluss zum 1. Februar 2025 selbst auf. Am 29./30. November 2025 wird die Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation in Gießen (Hessen) geplant. Das neue Logo wurde bereits vorgestellt: Die Umrisse eines AfD-blauen Adlers, darunter das Logo der Partei und der neue Name der Jugendorganisation. Zur Auswahl stehen „Patriotische Jugend“, „Junge Patrioten“, „Deutschlandjugend“ und „Parteijugend“. Spannend wird sein, ob die bekannten rechtsextremen Jugendorganisation auf einer Unvereinbarkeitsliste stehen werden – und ob die neue AfD-Jugendorganisation mit der Beliebtheit von JN, DJV, NRJ, J&S und Co mithalten kann.

Frauen und Mädchen als Stabilisatorinnen

Die rechtsextreme Inszenierung von Stärke und Selbstermächtigung dieser Gruppierungen spricht vor allem männlich sozialisierte Jugendliche an. In diesem Ungleichgewicht sehen Jugendorganisationen die Gefahr, ihre Mitglieder nicht vollumfänglich an die rechtsextremen Strukturen binden zu können. Viele beginnen daher, ihre Ansprache anzupassen, „Mädelbunde“ zu gründen und zu „Mädeltagen“ einzuladen. Mädchen und Frauen nehmen im Rechtsextremismus eine ambivalente Position ein. Sie balancieren zwischen rebellischem Aktionismus und fürsorglicher Erhaltung der „Volksgemeinschaft“.

Zwischen TikTok und Tatbereitschaft

Die aktuelle Dynamik im rechtsextremen Jugendmilieu stellt eine ernstzunehmende Herausforderung für Zivilgesellschaft, Politik und Sicherheitsbehörden dar. Die Strategien dieser Gruppierungen sind nicht neu, aber in ihrer Form zeitgemäßer und anschlussfähiger denn je: Sie kombinieren digitale Reichweite mit lokaler Verankerung, Lifestyle-Ästhetik mit Gewaltbereitschaft, ideologische Geschlossenheit mit organisatorischer Vielfalt. Die Szene spricht gezielt junge Menschen an, die auf der Suche nach Orientierung, Zugehörigkeit oder Macht sind – und findet sie in einem gesellschaftlichen Klima, das von Krisen, Unsicherheit und Entsolidarisierung geprägt ist.

Ein wirksamer Umgang mit dieser Entwicklung erfordert mehr als nur polizeiliche Repression oder das Monitoring von Kanälen. Die extreme Rechte formiert sich neu. Es liegt an uns, nicht nur zuzusehen.

Gefördertes Projekt

„Wir haben kein Bock auf Nazis!“ – Festival gegen Rechtsextremismus im ländlichen Rheinland-Pfalz

„Kein Bock auf Nazis Festival Kusel“

Im Landkreis Kusel sind Rassismus und die Bedrohung durch rechtsextreme Akteur*innen seit Jahren Realität. Ein Festival schafft seit 2006 Raum für Menschen, die gemeinsam zeigen: „Wir haben kein Bock auf Nazis!“ Gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung kamen in diesem Jahr rund 1.000 Teilnehmende zusammen, um sich zu vernetzen, zu informieren und gemeinsam ein solidarisches Miteinander zu feiern.

Von Luisa Gerdsmeyer

Rund 1.000 Menschen versammeln sich am Wochenende vom 4. bis 7. Juli 2025 auf der Burg Lichtenberg in dem kleinen Ort Thallichtenberg im rheinland-pfälzischen Landkreis Kusel. Gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung findet hier das „Kein Bock auf Nazis Festival Kusel“ statt – ein Festival, das mehr ist als eine Kulturveranstaltung. „Wir wollen einen Raum schaffen, in dem alle so sein und sich wohlfühlen können, wie sie sind. Eine Auszeit aus einem Alltag, der für viele, gerade in unserer ländlichen Gegend, geprägt ist von Alltagsrassismus und der Normalisierung von Rechtsextremismus“, erzählt Basti, der das Festival gemeinsam mit seinen Mitstreiter*innen organisiert. „Viel zu oft reagieren die Leute mit Schulterzucken, Verharmlosung oder Wegschauen auf das Erstarken von Rechtsextremen. Wir wollen dem mit dem Festival etwas entgegensetzen und zeigen, wie viele Menschen es gibt, die keinen Bock auf Nazis haben, ob in den Parlamenten oder beim Dorffest am Wochenende. Gleichzeitig schaffen wir einen Raum, in dem Menschen zusammenkommen können, die das auch so sehen und in ihrem antifaschistischen Engagement gestärkt werden.“

Der Beginn des Festivals vor fast 20 Jahren

Die Geschichte des Festivals beginnt im Jahr 2006. Damals planten Basti und einige Freund*innen eine Party für alle, die sich den rechtsextremen Strukturen in der Gegend entgegenstellen wollten. Der Veranstaltungsort sollte eine kleine in Hütte im Wald in einem Dorf bei Kusel sein. Doch bei der Planung wurde deutlich, wie präsent die Bedrohung durch örtliche Neonazis war. Wegen Sicherheitsbedenken untersagte damals die Kreisverwaltung die Party in der Hütte und schlug einen alternativen Standort vor: die Burg Lichtenberg. „Seit 2006 findet dort das ‚Kein Bock auf Nazis Festival‘ – mit einigen wenigen Ausnahmen – jährlich statt. Mal in kleinerem Rahmen im Mehrgenerationenhaus in Kusel, mal mit tausend Besucher*innen auf der Burg. Zweimal haben wir das Festival von Kusel nach Zweibrücken verlegt, um dort gegen die Neonazi-Strukturen, wie den ‚Nationalen Widerstand Zweibrücken‘, zu protestieren“, erzählt Basti. In den letzten Jahren ist das Organisations-Team, ebenso wie das Festival an sich, gewachsen. Auch Engagierte aus anderen Regionen, z. B. aus Gotha und Frankfurt am Main, haben sich angeschlossen und bringen ihre Erfahrungen und ihr Organisationstalent ein.

Drohungen gegen Engagierte und rassistische Hetze gegen Geflüchtete

Wie notwendig und wichtig das Festival ist, zeigt die Situation im Landkreis Kusel deutlich. „Wer sich hier, wie wir, antifaschistisch engagiert, steht unter Beobachtung und wird dafür angegriffen“, so Basti. „Wir haben immer wieder rechtsextreme Aufkleber an der Tür, beleidigende oder bedrohliche Briefe im Briefkasten oder bekommen Morddrohungen per E-Mail. Auch auf offener Straße gibt es immer wieder Anfeindungen und Beleidigungen.“ Die Bedrohungslage hat sich für die Engagierten in den letzten Jahren verschärft. Das liegt nach Bastis Einschätzung auch an der Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Klimas: „Die Dorfnazis, die ich schon seit vielen Jahren kenne, sind lange Zeit nicht so sichtbar und selbstbewusst aufgetreten. Doch durch das gesellschaftliche Klima haben sie ein Gefühl von Rückenwind und trauen sich, wieder mehr in die Offensive zu gehen.“ Auch das ein Effekt der Normalisierung der AfD. Besorgniserregend ist auch die Entwicklung rund um die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“. Unter dem Namen „Pfalzwege“ versucht sie, in der Region Strukturen aufzubauen. „Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie versuchen, auch in Kusel Fuß zu fassen“, so Bastis Einschätzung.

Besonders beschäftigt die Engagierten auch die rassistische Stimmung gegenüber Geflüchteten in Kusel. „In den Jahren 2015 und 2016 waren hier Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten merklich spürbar. Davon ist heute kaum noch etwas übrig. Die Stimmung in der Stadt gegenüber den Bewohner*innen der Kuseler Erstaufnahmeeinrichtung ist feindselig und stark rassistisch aufgeladen“, berichtet Basti. Vorangetrieben wird das auch von der rassistischen Hetze der rechtsextremen AfD, die in Kusel sehr aktiv ist. Basti erinnert sich an zwei große Demonstrationen vor knapp zwei Jahren, bei denen gegen die Unterbringung von Geflüchteten in der Stadt demonstriert wurde. „Da wurde deutlich, wie wenig Probleme auch bürgerliche Milieus oder lokale Unternehmer*innen damit haben, mit der AfD und anderen offen rechtsextremen Gruppen wie dem III. Weg auf die Straße zu gehen.“ Für Basti und das Team des Festivals ist daher klar: „Antifaschistisches Engagement bedeutet für uns immer auch Solidarität mit Geflüchteten, gerade hier, wo Rassismus oft unwidersprochen bleibt.“

Musik, Vorträge und Vernetzung beim „Kein Bock auf Nazis Festival“

Beim „Kein Bock auf Nazis Festival“ entsteht für ein Wochenende ein Gegenentwurf zur rechtsextremen Landnahme. Hier wird ein solidarisches Miteinander gefeiert und ein Raum für Vernetzung und Austausch über politische Themen geschaffen. Auf der großen Bühne spielten Freitagabend und den ganzen Samstag Musiker*innen und Bands, vor allem aus den Bereichen Punk, Rock und Rap, die mit ihrer Musik das Festivalmotto tragen und sich deutlich gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit positionieren. Musiker*innen, die eine Haltung haben. „Wir freuen uns, dass das Line-up – ebenso wie unser Orga-Team selbst – im Laufe der letzten Jahre diverser wurde und auch auf der Bühne unterschiedliche gesellschaftliche Perspektiven abgebildet werden“, erzählt Basti. Mit dabei waren in diesem Jahr beispielsweise die Rapperin Lena Stoehrfaktor, das Rap-Duo Rahsa feat. Finna oder die Hardcore Punk Band „Defiance HC“.

„Ein besonderes Highlight war für mich der Auftritt von ‚Waving the Guns‘ am Samstagabend“, erzählt Leonie, eine Besucherin des Festivals. „Die Stimmung war super und es war ein tolles Gefühl, gemeinsam mit so vielen Menschen zu feiern, aber auch die Wut über die politischen Verhältnisse und die Bedrohung von Rechts, die viele von uns in ihrem Alltag ständig beschäftigt, herauszuschreien und zu merken, dass wir damit alle nicht alleine sind. In einem der Lieder heißt es in der Hook ‚wie kann man in diesen Zeiten nur tanzen? ‘  Die Zeiten sind bedrückend und oft auch beängstigend. Trotzdem sind wir hier und tanzen und feiern zusammen. Das macht Mut.“

Festivalgelände

Neben dem musikalischen Programm fanden auch Lesungen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen statt – in diesem Jahr unter anderem zur Punk-Szene aus FLINTA*-Perspektive, zu den Erfahrungen einer Aktivistin in der zivilen Seenotrettung oder zur völkischen Ideologie der rechtsesoterischen Anastasia-Bewegung. Bei einem Vortrag zu „Jugendarbeit und Antifaschismus“ berichtete Tobias Burdukat vom Projekt der Alten Spitzenfabrik im sächsischen Grimma, das einen Raum für selbstbestimmtes Engagement von Jugendlichen jenseits der rechten Hegemonie geschaffen hat. Im Anschluss entstand eine angeregte Debatte über Parallelen und Unterschiede in den Herausforderungen und Handlungsstrategien im Engagement gegen Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland. Dabei wurde auch diskutiert, wie überregionale Solidarität konkret gelebt werden kann.

Eine Ausstellung auf dem Festivalgelände informierte über personelle, ideologische und organisationale Kontinuitäten rechtsextremer Ideologien in Deutschland – vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Ergänzt wurde das Programm durch zahlreiche Infostände von Initiativen aus Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Besucher*innen konnten sich über deren Arbeit informieren, vernetzen und Möglichkeiten kennenlernen, um selber aktiv zu werden.

„Wir sind viele!“

Für Basti und die anderen Engagierten steht fest, dass das Festival auch 2026 stattfinden wird. Im Herbst starten bereits die Vorbereitungen für das nächste Jahr. „Die gesellschaftlichen Entwicklungen, denen wir uns mit dem Festival entgegenstellen, gehen nicht weg, sondern sie werden eher immer größer“, meint Basti. „Umso wichtiger ist es, dass Menschen sich zusammentun und nicht wegschauen, sondern Position beziehen. Ich will, dass die Leute sich hier sicher fühlen können. Und dass sie wissen: Wir sind nicht alleine. Wir sind viele. Und wir haben keinen Bock auf Nazis.“

Neuerscheinung

Wie sicher ist unsere Demokratiearbeit?

Rechtsextremismus wächst – und mit ihm das Selbstvertrauen der extremen Rechten. Diese Entwicklung führt zu vermehrten Angriffen auf die demokratische Zivilgesellschaft, die sich aktiv gegen Rechtsextremismus engagiert. Das Projekt BEWARE hat genau hingeschaut: In Interviews und einer bundesweiten Befragung schildern über 500 Engagierte ihre Erfahrungen. Die Ergebnisse sind alarmierend – und ein dringender Weckruf für Politik und Gesellschaft.

Engagierte Menschen, Vereine und Bündnisse stehen dabei oft unmittelbar an der Front und tragen ein hohes persönliches Risiko. Sie werden schnell zu Zielscheibe, gerade weil es an Schutzmaßnahmen.  Die Angriffe gegen sie sind vielfältig und richten sich auch gegen Vielfalt und damit die offene Gesellschaft: strategische Attacken auf Träger, Vereine und Bündnisse, aber auch spontane Gewaltausübungen gegen Einzelpersonen oder queere Menschen, wie die Angriffe auf CSDs zeigen. Der Druck auf die Zivilgesellschaft ist enorm und droht, sie zu zerbrechen. Aktuelle Beispiele wie Spremberg verdeutlichen die Lage: Die Bürgermeisterin der Stadt hat in einem „Brandbrief“ auf die rechtsextreme Raumnahme hingewiesen und damit die Bedrohungslage öffentlich gemacht. Die zunehmende Gewalt und Bedrohung gegen Engagierte stellen eine ernsthafte Herausforderung für unsere Demokratie dar. Es ist wichtig, diese Entwicklungen sichtbar zu machen und den Schutz der Zivilgesellschaft zu stärken.

Die Strategie von rechtsextremen Akteuren – wie der AfD und weiterer aus dem klassisch rechtsextremem und neurechten Spektrum – ist es, die Demokratiearbeit der Zivilgesellschaft vollends abzuschaffen.

„Das Projekt BEWARE: Bedrohte Demokratieprojekte wappnen und resilient machen hat im Zeitraum von Juli bis Dezember 2023 bundesweit zwanzig Personen aus der beruflichen und aktivistischen Demokratiearbeit gegen Rechtsextremismus zu ihren Wahrnehmungen, Einordnungen und Bearbeitungen von Bedrohungen befragt. Darauf aufbauend hat BEWARE im April 2024 eine quantitative Online-Befragung durchgeführt, an der über 500 Personen teilgenommen haben, die sich in zivilgesellschaftlichen Projekten, Gruppierungen oder Bürgerbündnissen für die Demokratie engagieren.“[1]

Die Amadeu Antonio Stiftung hat gemeinsam mit BEWARE aufbauend auf den Ergebnissen der qualitativen und quantitativen Befragung an einem Praxistool und einer Begleitbroschüre wesentlich mitgewirkt. Mithilfe des Tools können potenziell Betroffene miteinander ins Gespräch kommen, unterschiedliche und gemeinsame Bedarfe erarbeiten, Dilemmata aushandeln und für ihr Setting passende Maßnahmen ableiten. Für Hintergrundinformationen zum Thema steht eine Begleitbroschüre zur Verfügung.

Das Praxistool zur bedarfsorientierten Strategieentwicklung für den Umgang mit Bedrohungen findet ihr hier: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/publikationen/beware/ 

BEWARE (2025): Das Praxistool zur bedarfsorientierten Strategieentwicklung für den Umgang mit Bedrohungen. Von BEWARE entwickelt und mit der Amadeu Antonio Stiftung umgesetzt.

Zentrale Ergebnisse aus dem Kurzbericht im Überblick

  • 79 % der Befragten haben bereits (ggf. strafrechtlich relevante Formen von) Bedrohung erlebt, davon 57 % im letzten Jahr. 8 % der Befragten wurden mit dem Tod bedroht.
  • Wie stark Bedrohungen verfangen, hängt auch vom Umfeld ab – in Räumen, in denen demokratische Zivilgesellschaft und Politik den Akteur:innen der extremen Rechten wenig entgegensetzen, fühlen sich Menschen stärker bedroht.
  • Besonders gefährdet sind die Akteure, die als „links(extrem)“ oder „Störenfriede“ markiert werden. Diese Markierungen kann beliebig sein und dient der Delegitimierung.
  • Für Personen aus vulnerablen sozialen Gruppen, z. B. von Rassismus oder (Hetero-) Sexismus Betroffene sind Bedrohungen eine besondere Herausforderung. Gleiches gilt für Jugendliche und junge Erwachsene sowie engagierte Einzelpersonen. Vor allem Frauen berichten von Selbstzweifeln und stressbezogenen Belastungen.
  • Ost- und Westdeutsche berichten insgesamt gleich häufig über Bedrohung. Engagierte in Ostdeutschland sehen sich jedoch besonders häufig körperlicher Gewalt, Sachbeschädigung und Raumnahmen (z. B. durch offensives Zeigen rechtsextremer Präsenz oder Störung von Veranstaltungen) ausgesetzt. Sie sind außerdem häufiger von als bedrohlich wahrgenommenen parlamentarischen Anfragen betroffen. Sie befürchten zudem eher, mit dem Zugewinn der AfD ihre Arbeit einschränken oder gar einstellen zu müssen. Mehr als 14% von ihnen denken oft darüber nach, ihre Tätigkeit zu wechseln, 7% überlegen, ihre Demokratiearbeit zu beenden.
  • Engagierte verfügen über Wissen und Erfahrungen im Umgang mit Bedrohung. Die gilt vor allem für gewaltbezogene Angriffe, weniger für politische Interventionen.
  • Betroffene passen sich an die Bedrohung an, indem sie z. B. potentiell gefährliche Situationen oder Plätze meiden, mit gravierenden Einschnitten für ihre persönliche Lebensgestaltung.
  • Ein Großteil (71 %) der Befragten nimmt die Bedrohungen aber auch als Ermutigung für ihr Engagement, 42 % intensivieren sogar ihre politische Arbeit.
  • Netzwerke sind wichtig. Betroffene können sich vor allem auf Unterstützung durch ihre beruflichen und privaten Netzwerke verlassen. Im direkten Umfeld und im persönlichen Kontakt mit Mitengagierten, Kolleg:innen und Arbeitgebern erleben Engagierte überwiegend hilfreichen Beistand. Weniger können sie auf die Solidarität der Bevölkerung und Kommunen zählen. Die Bedrohungserwartung wird durch den erlebten Mangel an Unterstützung verstärkt.
  • Austausch über und die Entwicklung von Strategien für den Umgang mit Bedrohung brauchen ausreichend Ressourcen.

 

Den gesamten Kurzbericht zur Umfrage findet ihr hier: https://www.hs-niederrhein.de/fileadmin/dateien/Institute_und_Kompetenzzentren/SO.CON/Publikationen_und_Downloads/BEWARE_Bedrohung_der_zivilgesellschaftlichen_Demokratiearbeit_Kurzbericht_20240903.pdf

[1] Leber, Tina/Mertens, Fabian/Küpper, Beate (2024): Bedrohung der zivilgesellschaftlichen Demokratiearbeit. Kurzbericht des Projekts BEWARE: Bedrohte Demokratieprojekte wappnen und resilient machen. BMBF Förderlinie „Aktuelle und historische Dynamiken von Rechtsextremismus und Rassismus“.

Aktionswochen gegen Antisemitismus

[tacheles_4]: Wie heute im Haus der Wannsee-Konferenz erinnert wird

Wo 1942 die „Endlösung der Judenfrage“ organisiert wurde, treffen nach dem Zweiten Weltkrieg jüdische US-Soldaten auf gefangene NS-Funktionäre. Eine neue Ausstellung geht auf Spurensuche.

von Eike Stegen (Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz)

Im Frühjahr 1945 ist die SS im Berliner Ortsteil Wannsee stark präsent. Nicht nur, weil Dienststellen des SS-Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) hierher ausgelagert waren – auch legen mehrere Quellen nah, dass im Februar und April 1945 Gespräche zwischen dem schwedischen Diplomaten Graf Folke Bernadotte, Walter Schellenberg (Chef des Auslandsgeheimdienstes) und Ernst Kaltenbrunner (Chef des Reichssicherheitshauptamt, RSHA) im heutigen Haus der Wannsee-Konferenz stattgefunden haben. Kaltenbrunner war der Nachfolger Reinhard Heydrichs, der 1942 von tschechischen Widerstandskämpfern getötet wurde.

Ziel der Gespräche war die Verhandlung über die Rettungsaktion „Weiße Busse”, die tausenden dänischen und norwegischen KZ-Insass*innen durch eine Ausreise nach Skandinavien das Leben rettete.

Ende April 1945 übernahmen sowjetische Truppen letztendlich Wannsee, das entlang dem Kleinen und Großem Wannsee im äußersten Westen Berlins liegt. Während es am Kleinen Wannsee zum Beschuss von Häusern kam, blieben die Häuser am Großen Wannsee weitgehend unbeschadet. Im ehemaligen SS-Gästehaus am Großen Wannsee, das man heute als Wannsee-Villa und zugleich Ort der Wannsee-Konferenz kennt, wurden nach Kriegsende zunächst sowjetische Mannschaften untergebracht. Im Juli 1945 wurde die Villa an US-amerikanische Soldaten übergeben, die in ihren Besatzungssektor Berlins einrückten.

Heute ist das Haus Gedenk- und Bildungsstätte. Neben einer detaillierten Dauerausstellung zur Wannsee-Konferenz und Wechselausstellungen bietet die Stätte Seminare, Fortbildungen und Tagungen.  Die öffentlich zugängliche Joseph Wulf Bibliothek bietet zu den Themen des Hauses Forschungsliteratur, historische Quellen, Berichte von Überlebenden, Gedenkbücher, regionalgeschichtliche Untersuchungen und pädagogische Materialien.

Doch es gibt noch weitere Stationen in der Geschichte der Wannsee-Villa. Vor allem neue Bild- und Schriftquellen zeichnen ein neues Bild des Hauses in der direkten Nachkriegszeit.
Im Frühjahr 2022 wurde die Gedenk- und Bildungsstätte aus den USA kontaktiert, von den Geschwistern Michael, Mark und Kathryn Traugott. Sie besaßen von ihren Eltern Fotos und Briefe, die im Haus der Wannsee-Konferenz im Sommer 1945 aufgenommen bzw. geschrieben wurden. Die Quellen ergänzen das Wissen um die Wannsee-Villa auf bemerkenswerte Weise.

Ritchie Boys in Wannsee-Villa

Fritz Julius Traugott wird 1919 in Hamburg in eine jüdische Familie geboren. 1938 kann er vor der antisemitischen Verfolgung in die USA fliehen. Seinem Bruder Wolfgang und den Eltern Moritz und Therese gelingt ebenfalls die Emigration in die Vereinigten Staaten. Schwester Hedwig überlebt mit ihrem nichtjüdischen Mann und den beiden gemeinsamen Töchtern in Hamburg die Shoah.

Fritz Traugott wird US-amerikanischer Staatsbürger und Soldat. Mit seiner Einheit, der „Mobile Field Interrogation Unit #2”, sogenannte Ritchie Boys, findet er in Berlin ausgerechnet im ehemaligen Gästehaus der SS, dem (da noch nicht bekannten) Ort der Wannsee-Konferenz, von Juli bis September 1945 seine Unterkunft.

Ritchie Boys sind US-Soldaten, die selbst oder deren Familien noch vor dem Krieg aus Deutschland geflohen waren und wegen ihrer muttersprachlichen Deutschkenntnisse für Verhöre von Kriegsgefangenen und Kriegsverbrechern ausgebildet wurden. Benannt sind sie nach Camp Ritchie im US-Bundestaat Maryland, wo die Ausbildung stattfindet. Seiner Frau Lucia schickt Fritz fast täglich Fotos und Briefe aus der Wannsee-Villa, unter anderem auf Papier der „Adjutantur des Führers“, das er in den Ruinen der Reichskanzlei findet. Die erstmals veröffentlichten Briefe sowie die Fotografien, die Fritz Traugott vor Ort macht, waren Kern der Sonderaustellung „On the Roof of Himmler’s Guesthouse. Die U.S. Army 1945 in Wannsee“.

Mehrere ehemalige Soldaten und Funktionäre, nun Kriegsgefangene, müssen sich um die Wannsee-Villa und um die hier stationierten Ritchie Boys kümmern. Fritz Traugott fotografiert sie, und einen können wir identifizieren: Friedrich Wilhelm Euler, Nationalsozialist und antisemitischer Genealoge. In der NS-Parteizentrale und später im Reichsinnenministerium erforschte er, wie in Familienstammbäumen jüdische Vorfahren sichtbar gemacht werden konnten. Eine wichtige Vorarbeit für die rassistischen Nürnberger Gesetze 1935: Waren vier oder drei Großeltern einer Person Mitglied einer jüdischen Gemeinde, hatte man es laut Gesetz mit einem „Volljuden“ zu tun; bei zwei jüdischen Großeltern mit einem „Halbjuden“, bei einem jüdischen Großelternteil mit einem „Vierteljuden“.
Als Adolf Eichmann für die Besprechung am 20. Januar 1942 ein fünfzehnseitiges Besprechungsprotokoll verfasst (einer Besprechung, bei der es nun nicht mehr nur um rassistische Gesetzes- und Statusfragen im Deutschen Reich ging, sondern um die Verschleppung in den Tod), da stellte er umfangreich, auf vier der fünfzehn Seiten, die rassistisch-biologistische NS-Definition eines „Juden“ vor, basierend auf der Definition der Nürnberger Gesetz und damit wiederum basierend auf Eulers Forschungsarbeit und Datensammlung.

Dass Ritchie Boys im Haus der Wannsee-Konferenz das Wissen eines antisemitischen Stammbaumforschers, der jetzt deren Gefangener ist, anzapfen können, um sich auf ihre Verhöre von NS-Kriegsverbrechern vorzubereiten – eine „Ironie der Geschichte“.

In welche Verhöre der US-Soldat Fritz Traugott eingebunden ist, weiß man nicht. Von der Signifikanz des Ortes, an dem Traugott und seine Einheit untergebracht sind, wissen die Soldaten zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Selbst die Teilnehmer der Konferenz in der Villa vom 20. Januar 1942, die den Mai 1945 überleben, werden zu einer „Wannsee-Konferenz“ zunächst nicht befragt. Die New York Times berichtet zwar bereits im August 1945 über ein Einladungsschreiben zu einer Besprechung zentraler Dienststellen der Reichsregierung über die „Endlösung der Judenfrage“, aber Eichmanns Besprechungsprotokoll wird erst 1947 gefunden.

In den Verhören zur Vorbereitung des sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess, in dem ab November 1947 Regierungsvertreter und damit auch Teilnehmer und Mitwisser der „Wannsee-Konferenz“ in Nürnberg vor Gericht stehen, werden Beschuldigte mit dem Protokoll konfrontiert. Niemand leistet einen Beitrag zur Aufklärung über die Besprechung am Wannsee, niemand trägt in irgendeiner Form etwas Erhellendes bei. Im Gegenteil: Die Beschuldigten lügen, sie lenken von sich ab, sie machen vermeintliche Erinnerungslücken geltend.

Auch dieser Gegensatz tritt durch die neuen Quellen zur Präsenz der Ritchie Boys in der Villa deutlich zutage: Hier die in Camp Ritchie Geschulten, die sich mit Ernst und Ausdauer ihrer Aufgabe einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung von Völkermord und bisher ungekannten Dimensionen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit widmen; dort die in Selbstrechtfertigung und Schuldabwehr unnahbaren Täter.

Obwohl dem Haus durch die Ritchie Boys, wie wir nun wissen, ein recht politischer Start ins Nachkriegs-Berlin beschieden war, ist es jahrzehntelang nicht gemäß seiner historisch-politischen Bedeutung genutzt worden. Zunächst wird fünf Jahre lang, ab 1948, mit dem August-Bebel-Institut immerhin eine Nachnutzerin einziehen, die sich der (antifaschistischen, sozialdemokratischen) politischen Erwachsenenbildung verschrieben hat, aber ab 1953 ist das Haus das Schullandheim für den West-Berliner Bezirk Neukölln. Mit Joseph Wulf gibt es einen Auschwitz-Überlebenden, der in den 60er und 70er Jahren eine andere Nutzung fordert: Er will aus dem Haus ein Dokumentations- und Forschungszentrum zu NS-Verbrechen machen, das auch nach den Folgen der Diktatur fragen soll. Davon will man nichts wissen, obwohl Wulf einen beachtlichen Kreis von Unterstützer*innen für seine Idee gewinnen kann.

Dass er mit seiner Idee marginalisiert bleibt, ist auch ein Grund für seine wachsende Verzweiflung. Man könne sich in Deutschland totdokumentieren, so schreibt Joseph an seinen Sohn, kurz bevor er sich im Oktober 1974 das Leben nimmt, es könne in Westdeutschland die demokratischste Regierung sein – die Massenmörder würden frei herumlaufen, ihre Häuschen bauen und Blumen züchten. Leider eine treffende Zustandsbeschreibung 1974 und darüber hinaus. Erst 1992, zum 50. Jahrestag der Besprechung am Wannsee, konnte die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz eröffnet werden.

Eike Stegen ist Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Er schreibt über bislang unbekannte Quellen US-amerikanischer Soldaten, die ein neues Licht auf die Wannsee-Villa in der unmittelbaren Nachkriegszeit werfen.

5 gute Gründe, einen CSD zu besuchen

Symbolbild, Regenbogenflagge

2025 gibt es mehr CSDs und Pride-Veranstaltungen als je zuvor. Gleichzeitig wird die rechtsextreme Mobilisierung dagegen immer stärker. Was können wir dagegen tun?

Von Lorenz Blumenthaler

Dieses Jahr gibt es so viele CSDs und Prides wie noch nie! An Orten, wo es noch nie zuvor einen CSD gab, insbesondere im ländlichen Raum. Ein wichtiges Zeichen für alle, die von Queer- und Transfeindlichkeit bedroht werden. Eigentlich ein Grund zur Freude.

Doch gleichzeitig sind queere Sichtbarkeit und queere Rechte so bedroht wie nie, denn Rechtsextreme mobilisieren nach wie vor. Allein in diesem Jahr kam es bisher zu mehr als 20 Gegendemonstrationen, Angriffen und Störungen von CSDs.

Wir reagieren darauf und konnten mit dem Regenbogenschutzfonds bereits 41 CSDs unterstützen. Vor allem mit Sicherheitsmaßnahmen, denn die braucht es nach wie vor.

Bis Oktober gibt es noch über 120 CSDs. Egal ob unmittelbar betroffen oder nicht, ob queer oder hetero – zeigt euch solidarisch und fahrt hin! Nach Chemnitz, Landsberg, Bayreuth, Neubrandenburg, Bautzen oder ins Allgäu! Wer die Demokratie verteidigen will, muss sich mit CSDs solidarisieren.

Warum greifen Rechtsextreme CSDs an?

Um die rechtsextreme Mobilisierung zu verstehen, muss man sich bewusst machen, worum es bei Pride-Veranstaltungen geht:

Rechtsextreme Gruppierungen inszenieren sich zunehmend als „Verteidiger traditioneller Werte“. Die AfD hat das Potenzial dieses “Kulturkampf” Themas früh erkannt und machte mit dem Stolzmonat früh gegen Queere Sichtbarkeit im digitalen Raum Mobil.  Der Protest gegen CSD-Veranstaltungen ist Teil dieser Strategie:

  • Angriff auf offene Gesellschaft: Queere Sichtbarkeit wird als Symbol einer liberalen, demokratischen Gesellschaft verstanden – also als Feindbild.
  • Verschwörungsideologie („Genderwahn“, „Umerziehung“): Die Ablehnung queerer Lebensweisen wird oft mit verschwörungsideologischen Narrativen verbunden, etwa der Vorstellung, Kinder würden systematisch „umerzogen“.
  • Anschlussfähig für bürgerliche Milieus: Homo- und transfeindliche Positionen ermöglichen auch Anschluss an konservative oder kirchlich geprägte Milieus – damit wird das eigene Weltbild legitimiert und verbreitbar gemacht.

Dabei ist bemerkenswert, dass auch junge Rechte diese queerfeindlichen Muster nicht etwa „neu erfinden“, sondern oft direkt von älteren Generationen übernehmen. Sie tradieren ein Weltbild, das sich durch Anti-Genderismus, Antifeminismus und Rassismus auszeichnet – angereichert durch neue Kommunikationsformen und Mobilisierungsstrategien.

Das heißt für uns: Wer die Demokratie schützen will, muss CSDs schützen.

5 gute Gründe, einen CSD zu besuchen

  • 1. CSDs setzen ein Zeichen gegen alte und neue Formen von Queerfeindlichkeit:
    Diskriminierung ist heute oft subtiler – aber sie ist nicht verschwunden.Ob im Versteckspiel in Familien, durch Benachteiligung im Alltag oder durch das Ignorieren queerer Lebensrealitäten: LGBTQI*-Personen erleben Ausgrenzung jeden Tag.Der CSD macht das sichtbar und sagt klar: Wir lassen das nicht normal werden. Wir sind nie wieder still!
  • 2. Queere Sichtbarkeit ist ein Angriffsziel rechter Ideologie:
    CSDs sind mehr als Partys – sie sind sichtbare und laute Zeichen einer offenen Gesellschaft. Genau deshalb werden sie von rechtsextremen Gruppen angegriffen:Für sie steht queeres Leben für Vielfalt, Selbstbestimmung und Demokratie – also für alles, was ihrem autoritären Weltbild widerspricht.Wer zum CSD geht, verteidigt nicht nur queere Rechte, sondern auch unsere demokratischen Grundwerte. Es geht um eine Welt, in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein können.
  • 3. Der Protest gegen den CSD ist kein Zufall – sondern Strategie:
    Ob „Genderwahn“, „Frühsexualisierung“ oder „Umerziehung“: Die Ablehnung queerer Menschen wird gezielt mit Verschwörungserzählungen verbunden.Die Mobilisierungen gegen den CSD liefern dafür die Bühne. Rechtsextreme inszenieren sich dabei als „Verteidiger der Kinder“ oder „Wächter traditioneller Werte“ – und nutzen gezielt Emotionen, um Angst und Hass zu schüren. Gleichzeitig bauen sie queerfeindliche Brücken zwischen extrem rechts und konservativen/religiösen Akteuren. Der CSD kontert mit Aufklärung und Solidarität.
  • 4. Der CSD ist ein Akt internationaler Solidarität:
    Während in Deutschland Gleichstellung, queere Rechte und damit auch queere Sichtbarkeit zunehmend unter Druck geraten, sind LGBTQI*-Menschen in vielen anderen Ländern massiver Verfolgung ausgesetzt.Wer am CSD teilnimmt, zeigt: Unsere Freiheit endet nicht an der Landesgrenze. Wir stehen an der Seite aller, die sich für Selbstbestimmung, Vielfalt und Menschenrechte einsetzen – weltweit.
  • 5. Gemeinsam mit Freund*innen eine gute Zeit haben:
    Nein – CSDs sind keine riesigen Partys. Und trotzdem sind sie Orte zum Spaßhaben, Feiern und Loslassen. Jeder Mensch soll genau so sein können, wie er will und dabei sicher sein. Auch wenn man selbst nicht unmittelbar von Queerfeindlichkeit betroffen ist.Mit Gleichgesinnten unterwegs zu sein, tut gut – besonders in einer Welt, die immer bedrohlicher zu werden scheint. In der Angst und queerfeindliche Angriffe zunehmen.

 

Aktionswochen gegen Antisemitismus

[tacheles_4]: Nie wieder?! Partizipative Geschichtsvermittlung 80 Jahre nach Kriegsende

Das Team der Wanderausstellungen des Anne Frank Zentrums befasst sich mit zeitgenössischer Erinnerungskultur und versucht, über verschiedene Perspektiven und aktuelle Herausforderungen das Gedenken zu vermitteln. Franziska Göpner und Jakob Eichhorn vom Anne Frank Zentrum in Berlin berichten aus der Praxis politischer Bildung zu Nationalsozialismus und Shoah, 80 Jahre danach.

von Franziska Göpner und Jakob Eichhorn (Anne Frank Zentrum)

 

Die Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen hat die deutsche Gesellschaft tief geprägt, ihre Spuren finden sich überall. Die Erinnerung an die NS-Geschichte und den Holocaust sind ein zentraler Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft. Doch 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist diese Erinnerung stark umkämpft. Geschichtsrevisionistische Deutungen und Formen der Relativierung des Holocaust sind ein beständiger Kern rechtsextremer Ideologie  und werden zunehmend offen artikuliert. Doch nicht nur aus rechten Lagern, sondern ebenso aus linken Kreisen ist ein Anstieg an Antisemitismus, besonders israelbezogener Antisemitismus, zu verzeichnen. Die Zahlen des zivilgesellschaftlichen Monitorings zeigen eine enorme Zunahme antisemitischer und rechtsextremer Angriffe und Vorfälle im Jahr 2024. Auch die Ergebnisse der Einstellungsforschung machen einen Anstieg rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung deutlich. Hinzu kommt eine zunehmende zeitliche und biografische Distanz mit Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust. Diese Entwicklungen haben Einfluss auf das Feld der historisch-politischen Bildung und der Erinnerungskultur.

 

Laut der Gedenkanstoß MEMO-Studie spricht sich mittlerweile eine relative Mehrheit der deutschen Bevölkerung für einen sogenannten „Schlussstrich“ unter die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus aus. In einem allgemeinen Wandel des Geschichtsbewusstseins scheint diese Entwicklung aber nicht begründet zu sein. Vielmehr meinen etwa drei Viertel der Befragten durchaus, man könne aus der Geschichte für die Zukunft lernen. In der Studie kamen fast 40 Prozent zu der Einschätzung, sie könnten selbst etwas tun, um die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen mitzugestalten. Gleichzeitig geben aber über 70 Prozent der Befragten an, sich in der Realität in diesem Bereich eher wenig oder gar nicht zu engagieren.

Die Bildungsangebote des Anne Frank Zentrums ermöglichen partizipative und lebensweltorientierte Zugänge zur Geschichte, die die Teilnehmenden mit ihren Erfahrungen in den Blick nehmen. Anne Franks Tagebuch und ihre Biografie sind für viele Jugendliche ein erster Zugang zur Auseinandersetzung mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust. Über den biografischen Ansatz und die Auseinandersetzung mit der konkreten Person Anne Frank schaffen die Bildungsangebote einen jugendgerechten und lebensweltnahen Zugang zur Geschichte. Dabei ist es entscheidend, sie nicht als ikonische Heldin zu verklären, sondern ihr persönliches Zeugnis als eines von vielen biografischen Beispielen zu betrachten – eines, das in der Erinnerungskultur eine besondere Rolle eingenommen hat. Ziel dessen ist es, eine kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Holocaust – Gedenken anzuregen, gleichzeitig jedoch auch die Vielfalt an Perspektiven zu stärken, um unterschiedliche Zugänge zu historischen Ereignissen erst möglich zu machen.

 

Ein zentraler Bestandteil dieser Bildungsarbeit ist die Methode der “Peer Education”. Im Rahmen der Anne Frank Wanderausstellung werden Jugendliche – in begleiteten Trainings – zu sogenannten „Peer Guides“ ausgebildet und begleiten andere Jugendliche durch die Ausstellungen.  Dabei erzählen sie Geschichten aus ihrer eigenen Perspektive, mit ihren eigenen Worten und in Bezug auf ihre Lebenswelt. Ein Lernen auf Augenhöhe ergänzt klassische Lehr- und Lernerfahrungen. Partizipation wird damit zum Schlüssel von gegenwärtigem Holocaust-Gedenken: Sie stärkt junge Menschen in ihrer Rolle als Mitgestaltende einer aktiven Erinnerungskultur.

 

Die Vermittlungsarbeit bleibt nicht in der Geschichte stehen. Die Bildungsangebote des Anne Frank Zentrums verbinden das historische Lernen und die Auseinandersetzung mit aktuellen Formen von Antisemitismus, Rassismus und anderen menschenverachtenden Ideologien. Dabei werden die Perspektiven von Betroffenen von Antisemitismus, Rassismus und weiteren Gewaltverhältnissen sichtbar gemacht. Die Frage, wie die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust antisemitismuskritisch und diskriminierungssensibel vermittelt werden kann, umfasst eine differenzierte Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten und Quellen. Des Weiteren braucht es eine selbstkritische Verortung und Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Positionierung wie auch der eigenen Bezüge zu den Themenfeldern. Wir leben in einer diversen und heterogenen Gesellschaft. Die Vermittlung der Geschichte des Holocaust muss die Perspektiven von Jüdinnen*Juden und anderen Nachkommen von im Nationalsozialismus Verfolgten und Ermordeten aktiv mitdenken. Eine diskriminierungssensible und inklusive Geschichtsvermittlung kann dabei den Raum eröffnen, eigene Erfahrungen von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung in der Gegenwart zu thematisieren und zu bearbeiten.

Die Forschung zeigt, dass es für wirksame historische Bildung nicht genügt, Wissen zu vermitteln – entscheidend ist die aktive Beteiligung. Die Mitwirkung an partizipativen Formaten fördert nicht nur die historische Sensibilisierung, sondern auch das kollektive Engagement für Demokratie wird gestärkt und der Einsatz gegen Antisemitismus gefördert.  Wer sich aktiv einbringen kann, entwickelt ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung, dass das eigene Handeln einen Unterschied macht. Diese Erkentniss wirkt als Zugang zu gesellschaftlichem Engagement und stärkt die Bereitschaft, sich gegen verschiedene Formen von Diskriminierung einzusetzen. Hier wird deutlich: Erinnerungskultur entfaltet ihre Wirksamkeit besonders dort, wo sie nicht nur rezipiert, sondern aktiv gestaltet wird. Erinnerungskultur und Geschichtsvermittlung, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, brauchen neben den beschriebenen diskriminierungssensiblen Zugängen und einer kritischen historischen Einordnung insbesondere Räume für Teilhabe. Genau hier setzt die Bildungsarbeit des Anne Frank Zentrums an.

 

Franziska Göpner hat Kulturwissenschaften und Germanistik an der Universität Leipzig studiert und ist seit mehreren Jahren im Feld der historisch-politischen Bildung tätig. Seit 2017 ist sie Bereichsleiterin der Wanderausstellungen des Anne Frank Zentrums.

Jakob Eichhorn hat seinen akademischen Hintergrund in Geschichts-, Medien- und Kommunikationswissenschaft gesammelt und ist Referent im Projekt “Politische Bildung im Strafvollzug”.

Literatur:
Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V., Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2024, Online ISSN 2751 – 4021, 05.06.2025.

Decker, O. / Kiess, J. / Heller, A. / Brähler, E. (Hrsg.), Vereint im Ressentiment. Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen. Leipziger Autoritarismus Studie 2024, Gießen 2024.

Ditlmann, R./ Firestone, B./ Turkoglu, O. (Hrsg.), Participating in a Digital-History Project Mobilizes People for Symbolic Justice and Better Intergroup Relations Today. In: Psychological Science, 36(4), S. 249-264. https://doi.org/10.1177/09567976251331040, 05.06.2025.

Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) e.V., Rechte Gewalt 2024 – Eine Bilanz des Schreckens, Pressemitteilung vom 20. Mai 2025, online unter https://verband-brg.de/wp-content/uploads/2025/05/PE_VBRG_Jahresbilanz_rechte_Gewalt_2024_Onlineversion_20.05.2025.pdf

Walter, L./ Rees, J./ Pimpl, J./ Papendick, M./ Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung/ Universität Bielefeld, Gedenkanstoß MEMO. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2025.

 

Geplatzte Wahl der Verfassungsrichter*innen – Ein Erfolg für den rechtsalternativen Kulturkampf

Symbolbild, Bundestag

Was sonst ein sachlicher, demokratischer Prozess ist, wurde diesmal von einer antidemokratischen Desinformations- und Hetzkampagne zerschlagen. Rechtsextreme Netzwerke, AfD, rechtsalternative Medien – sie alle arbeiteten Hand in Hand, um eine Richterin zu diffamieren und damit demokratische Institutionen zu schwächen und die Polarisierung in Deutschland weiter voranzutreiben.

Von Lorenz Blumenthaler

Was ist passiert?

Die Regierungsparteien ließen sich bei der geplanten Wahl der Verfassungsrichter*innen am 11. Juli 2025 vor den Karren der rechtsextremen Kulturkämpfer*innen spannen. Falschbehauptungen und Gerüchte – besonders rund um das Thema Abtreibung – haben die Sphäre rechtsalternativer Medien verlassen und es geschafft, weit in die Mitte der Gesellschaft hinein, zu überzeugen. Statt aus einer Position der Stärke Richter*innen zu ernennen, wie es demokratisch gewählte Regierungen tun, geht es auf einmal um völlig andere Themen: vermeintliche Plagiatsvorwürfe, das Recht auf Abtreibung oder politische Einstellungen. Selbst mögliche Auswirkungen der Ernennung von Frau Brosius-Gersdorf auf die Prüfung eines AfD-Verbotsverfahrens werden thematisiert. Selbst diese Fokusverschiebung ist Teil des rechtsextremen Kulturkampfes. Auch wenn am Ende alle dieser Punkte sich als haltlos herausstellten, verfängt ein Teil solcher Desinformations- und Hetzkampagnen immer. Im Fokus dieser in weiten Teilen auch antifeministischen Mobilisierung stand die von der SPD nominierte Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf. Das Ziel: Die Polarisierung der Gesellschaft anhand ihrer Personalie und die politische Aufladung des Bundesverfassungsgerichts.

Denn es ging längst nicht mehr nur um die Ernennung einer Verfassungsrichterin – sondern um die Diskreditierung demokratischer Institutionen und Prozesse.

Angriff auf eine demokratische Institution

Im Regelfall ist die Wahl von Richter*innen ans Bundesverfassungsgericht ein sachlicher, parteiübergreifender Prozess, Teil des demokratischen Protokolls, das die Unabhängigkeit der Justiz schützt. Das informelle Abkommen der demokratischen Parteien sieht vor, dass die größten Fraktionen Kandidat*innen nominieren. Im Vorfeld wird sich zwischen den Fraktionen abgestimmt, um sicherzustellen, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht wird.

Das alles geschieht mit großem Bedacht: Das Bundesverfassungsgericht ist die höchste Instanz der Rechtsprechung in Deutschland und ein zentraler Garant für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Grundrechten. Es wird dann konsultiert, wenn es um Grundfragen unserer Verfassung geht.

Rechtsextremer Kulturkampf von oben

Die extreme Rechte hat es geschafft: Mit einer antidemokratischen Desinformations- und in Teilen misogynen, wie antifeministischen Hetzkampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf gelang es rechtsalternativen Medien von Nius über rechtsextreme Influencer bis hin zur AfD, die Maschinerie des rechtsalterantiven Kulturkampfes in Gang zu setzen und damit die Wahl der Verfassungsrichter*innen platzen zu lassen. Wie es am Ende nicht zur Wahl der Verfassungsrichter*innen kam, spiegelt beispielhaft die Arbeitsteilung des rechtsextremenKulturkampfes wider, dessen Dynamik wir aus den USA nur zur Genüge kennen: Denn dieser findet keinesfalls durch „besorgte Bürger“, sondern vor allem durch rechtsextreme Eliten, rechtsalternative Medien und eine antidemokratische Kampagnenmaschine Einzug in den politischen Diskurs.

Die Arbeitsteilung der extremen Rechten

Rechtsalternative Medien verbreiten Unwahrheiten oder selektive Aussagen, wie die von Frauke Brosius-Gersdorf über Schwangerschaftsabbrüche, die dann von rechtsextremen Influencern im vorpolitischen Raum multipliziert werden. Meist nimmt alles seinen Anfang in den sozialen Medien, wo durch Kampagnen gezielt Themen gesetzt werden. Dann wird alles von rechtsalternativen Medien, wie Nius oder Apollo News, aufgegriffen und nochmals zugespitzt. Ihr Werkzeug: Extreme Emotionalisierung, selektive Wahrheiten und Empörung. Die AfD beteiligt sich an der Kampagne aus dem Parlament heraus. Ihr Ziel, einen Keil zwischen die Koalitionspartner zu treiben und die Union so weiter nach Rechtsaußen zu treiben, geht auf. Rechtsextreme Narrative diffundieren von rechtsextremen X-Accounts in den Plenarsaal des Bundestages und ihre Inhalte werden dort letztendlich auch von Abgeordneten der Union wiedergegeben. Und das ohne Grund!

Fahrplan gezielter Desinformation

Fahrplan gezielter Desinformation

Die Union als Stimme von Antidemokrat*innen?

Die demokratischen Parteien lassen sich durch Coronaleugner*innen, Abtreibungsgegner*innen und Antifeminist*innen treiben. Sie lassen sich vor den Karren rechtsextremer Akteure aus rechtsalternativen Medien, dem vorpolitischen und dem parlamentarischen Raum spannen. Ganz nebenbei werden demokratische Institutionen massiv geschwächt und ihre Prozesse und Abläufe delegitimiert, ja garverunmöglicht. Dieser arbeitsteilige Prozess ist kein neuer. Wir kennen das Playbook aus der gezielten Misstrauenskampagne gegen NGOs – auch dort führte das Grundrauschen rechtsalternativer Medien gegen einen „NGO Deepstate“ am Ende zu 551 Fragen über die Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen an die Bundesregierung. Auch hier gelangen Inhalte und zentrale Forderungen rechtsalternativer Medien über rechtsextreme Akteure in Kreise der Union und mündeten gar in eine beispiellose Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion.

Wie geht es weiter?

Demokratische Akteur*innen müssen jetzt alles daran setzen, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen innerhalb der Bevölkerung, aber anscheinend auch innerhalb des Parlaments, wiederherzustellen. Der Debattenraum erscheint verwüstet und auch das Vertrauen in die Regierungskoalition hat schwer gelitten.

Statt aus einer Position der Stärke Richter*innen zu ernennen, wie es demokratisch gewählte Regierungen tun, geht es auf einmal um völlig andere Themen: vermeintliche Plagiatsvorwürfe, das Recht auf Abtreibung oder politische Einstellungen. Auch diese Fokusverschiebung ist Teil des rechtsextremen Kulturkampfes.

Demokrat*innen müssen nun souverän bleiben. Insbesondere, wenn Rechtsextreme nach der Macht greifen. Sie müssen klare Haltung zeigen. Gegen Spaltung. Gegen Desinformation. Für die Unabhängigkeit unserer Justiz und den Schutz unserer Demokratie.

Aktionswochen gegen Antisemitismus

[tacheles_4]: Schweigen und Kniefall

Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Westdeutschland war von Beginn an widersprüchlich. Symbolische Momente wie Brandts Kniefall oder Weizsäckers „Tag der Befreiung“ konnten den tief verwurzelten Antisemitismus nicht nachhaltig überwinden.

von Alissa Weiße

Ralph Giordano schrieb 1987: „Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945.” Der Shoah-Überlebende Giordano formulierte so in seinem Buch “Die zweite Schuld oder von der Last, ein Deutscher zu sein” letztendlich den Anspruch an und zugleich den Zustand der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Denn die Bemühung um eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist seit dem Kriegsende von gesellschaftlichen Debatten und politischen Kontroversen geprägt.

Heute zeigt sich die inkonsistente und zugleich mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit stärker denn je: 80 Jahre nach Kriegsende und zwei Jahre nach dem 7. Oktober grassiert Antisemitismus. Angriffe auf Jüdinnen und Juden, jüdische Einrichtungen, Gedenkstätte sowie Holocaustrelativierung und Befeuerung der Schlussstrichdebatte durch Politiker*innen gehören zum deutschen Alltag.

Wie konnte es dazu kommen?

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Für überlebende Jüdinnen und Juden bedeutete die Niederlage das Ende der staatlich organisierten Verfolgung und des systematischen Massenmords. Für die Deutschen begann damit der Prozess der Demokratisierung durch die Siegermächte. Die Alliierten betrachteten die Entnazifizierung der Deutschen nach 1945 als zentrale Voraussetzung für den Aufbau eines demokratischen Staates. Doch das Vornehmen stieß bei vielen auf Unverständnis: Sie wurde als ungerecht, willkürlich und demütigend wahrgenommen, viele sahen sich schlicht als ‘Opfer’ der Nationalsozialisten. Heute wird das Gesamtkonzept der Entnazifizierung, beispielsweise die Übernahme ganzer NS-Verwaltungsapparate samt Personal, als unvollständiger und oberflächlicher Versuch stark kritisiert.

Die viel beschworene Idee einer Stunde Null, eines Neustarts der postnazistischen deutschen Gesellschaft, scheiterte. Das zeigt auch: Bereits im Sommer 1945 kam es zu Grabschändungen jüdischer Friedhöfe, 1949 drückte die Süddeutsche Zeitung einen antisemitischen Leserbrief ab. 1950 wurde ein Ehrenmal für jüdische Opfer des Faschismus in Berlin geschändet. Anstelle von Aufarbeitung traten Schweigen, Beschönigung und Tabuisierung – oft bis heute.

Zwar wurde der Holocaust juristisch im Rahmen der Nürnberger Prozesse (1949) und weiterer NS-Prozesse behandelt, gesellschaftlich und politisch aber weitestgehend verdrängt. Nach 1945 dominierte zunächst das Bedürfnis nach „Normalisierung“ und wirtschaftlichem Wiederaufbau.

Unter diesen Aspekten sollte auch die diplomatische Annäherung der BRD unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949-1963) mit dem 1948 gegründeten Staat Israel betrachtet werden. Adenauer initiierte das von jüdischer Seite kritisierte Luxemburger Abkommen (auch Wiedergutmachungsabkommen), das unter anderem er und der damalige israelische Außenminister Moshe Sharett am 10. September 1952 unterzeichneten. Damit verpflichtete sich die BRD zu Entschädigungszahlungen sowie -leistungen und übernahm somit das erste Mal offiziell Verantwortung an der Shoah. Kritiker:innen argumentieren, dass weder das jüdische Leid während des NS mit Geld abgegolten noch “wiedergutgemacht” werden könne.

Unabhängig von der Kritik ist Adenauers Motivation weitaus differenzierter zu betrachten. Er setzte sich vor allem aus außenpolitischen Gründen für stabile Beziehungen zu Israel ein, da die Westintegration und die Verbesserung des internationalen Ansehens Deutschlands Priorität gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen  hatten.

Denn beispielsweise spielte die Erinnerung an die Opfer des Holocaust im öffentlichen Diskurs der BRD eine marginale Rolle. Opfergruppen kämpften jahrzehntelang um Anerkennung und Entschädigung. Währenddessen standen die eigene Leidensgeschichte im Krieg sowie deutsche Fluchtgeschichten im Vordergrund. Dabei wurden Täterbiographien zu Opfergeschichten umgestaltet.

Kontroversen um Verantwortung

Mit der Studentenbewegung der 1960er Jahre wurde erstmals eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit eingefordert. Die sogenannten 68er warfen der Elterngeneration Mitverantwortung, Schweigen und unzureichende Aufarbeitung vor. Impulse für die neue Sensibilität  lieferten auch der Prozess gegen SS-Funktionär Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem, sowie die Frankfurter Auschwitzprozesse ab 1963. Eichmanns Flucht über die sogenannten Rattenlinien (Fluchtrouten, die NS-Funktionäre in sympathisierende Länder führten) nach Argentinien, sein dortiges unbehelligtes Leben unter falschen Namen und die letztendliche Verhaftung durch den Mossad stehen beispielhaft für das Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz.

Die Proteste gegen das Schweigen der Tätergeneration, das politische Establishment und die personellen NS-Kontinuitäten im Staatsapparat führten zu einer öffentlichen Debatte, die den Holocaust endlich als zentrales Thema behandeln sollte. Dennoch blieb die Holocaust-Aufarbeitung auch in den Folgejahren von gesellschaftlichen Debatten geprägt und umkämpft.

Am 7. Dezember 1970 fiel der damalige Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal zum Gedenken an den Aufstand im jüdischen Ghetto 1943 in Warschau auf die Knie. Die Fotos gingen um die Welt. In seinen Memoiren (1976) beschreibt Brandt den Kniefall als “nicht geplant”. Es war der erste Besuch eines Bundeskanzlers in Polen nach 1945.

Die Geste wurde als Ausdruck von Demut und Anerkennung der deutschen Schuld wahrgenommen –  ausgehend von der Staatsspitze. Dennoch waren hier die Forderungen der Studierendenbewegung und der daraus entstandene Druck vorangegangen. Während die 68er die Geste begrüßten, empfand die breite Gesellschaft den Kniefall als übertrieben. Reaktionen, die zeigen, dass die Forderung nach einer breiten Aufarbeitung der NS-Verbrechen kein gesellschaftlicher Konsens war.

Die Gnade der späten Geburt?

Der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl bemühte sich während seiner Amtszeit (1982-1998) um eine “Normalisierung” der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit. Er strebte die Fokussierung auf die positive Entwicklung Nachkriegsdeutschland als Wirtschaftsmacht an, weg von der Last des Nationalsozialismus. Kohl wurde im Zuge dessen bekannt für den Ausdruck der “Gnade der späten Geburt”: Deutsche, die nach 1930 geboren waren, können aufgrund ihres Alters während der NS-Zeit nicht schuldig als Täter oder Mittäter geworden sein.
Das Schlagwort wurde stark kritisiert. Denn es bietet eine Legitimierung für einen unbefangenen Umgang der Nachkriegsgenerationen mit der NS-Vergangenheit, anstatt eine kontinuierliche Verantwortung zur Aufarbeitung und Erinnerung zu fördern. Kohl verwendete den Ausdruck erstmals im Januar 1984 bei einer Rede in der Knesset (Jerusalem). Mehrere israelische Abgeordnete verließen daraufhin den Raum.

Ein Jahr später, im Mai 1985 zu Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, besuchte der damalige US-Präsident Ronald Reagan die BRD. Teil des Programms war auch der Besuch des Soldatenfriedhofs Bitburg am 5. Mai 1985. Kohl strebte dort eine symbolhafte Versöhnung der beiden ehemaligen Kriegsgegner an.

Was während der Planung ignoriert oder unbekannt war: Neben Wehrmachtssoldaten wurden auch SS-Soldaten auf dem Friedhof bestattet. Der Besuch wurde dadurch bereits im Vornherein international stark kritisiert und protestiert, insbesondere von jüdischen Organisationen und Holocaust-Überlebenden. Sie betrachteten den Besuch des Soldatenfriedhofs als eine Schuld-Relativierung sowie explizit die Kranzniederlegung Reagans als eine Verharmlosung der NS-Verbrechen. Elie Wiesel, Shoah-Überlebender und Autor, wandte sich noch vor der Reise in einer Rede direkt an Ronald Reagan: “Dieser Ort, Herr Präsident, ist nicht ihr Ort. Ihr Platz ist mit den Opfern der SS.” (dt. Übersetzung). Ein kurzfristig ergänzter Besuch in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen konnte die Kritik zwar etwas abmildern, wurde dennoch als eine Alibihandlung gesehen.

Am Jahrestag 1985 selbst hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede, die geprägt war von der vorangegangenen Bitburg-Kontroverse. Er bezeichnete den 8. Mai erstmals offiziell als„ der Befreiung“ vom Nationalsozialismus –  nicht mehr als lediglich Niederlage der Wehrmacht –  und betonte damit die Priorität eines verantwortungsbewussten Erinnerns. Weizsäcker unterstrich, dass die Erinnerung an die Shoah zum Bestandteil der deutschen Identität werden müsse. Die Rede führte den 8. Mai als “Tag der Befreiung” in das öffentliche Bewusstsein.

Doch ein Tag der Befreiung war der 8. Mai 1945 nicht. Der Begriff der Befreiung suggeriert, dass die Deutschen Opfer des Nationalsozialismus waren und entbindet sie wiederum von einer moralischen Verantwortung. Von der zweiten Schuld, wie es Giordano formulieren würde. Der 8. Mai markiert die Niederlage des Nationalsozialismus.

Die Geschichte der Shoah-Aufarbeitung in der BRD ist auch eine Geschichte der politischen Instrumentalisierung. Konservative Bundeskanzler wie Kohl setzten auf symbolische Gesten oder wie Adenauer auf außenpolitische Pragmatik. Letztendlich befeuerte Kohls Ausrichtung die Schlussstrichdebatte und begünstigte Schuldabwehr-Antisemitismus. Auf der anderen Seite forderten linke und sozialdemokratische Akteure eine kontinuierliche, kritische Erinnerung.

Die deutsche Erinnerungskultur hat sich seit den 1980er Jahren stark gewandelt. Gedenkstätten, Bildungsprogramme und Gedenktage sind heute fester Bestandteil der politischen Kultur. Zwar gibt es den Anspruch, doch die Umsetzung ist mangelhaft: Antisemitische Vorfälle, Holocaustrelativierungen und das stetige Erstarken antisemitischer Kräfte zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nie abgeschlossen ist – und auch nie sein darf.

Kommentar

Neutralitätsgebot: „Politische Neutralität” als Kampfbegriff

Symbolbild, Demonstration in Marburg (Quelle: Christian Lue auf Unsplash)

„Politische Neutralität“ wird zunehmend als Kampfbegriff von rechten Akteur*innen, gegen Demokrat*innen instrumentalisiert. Doch ein solches Neutralitätsgebot für die Zivilgesellschaft existiert juristisch nicht. Was als Schutz der Demokratie verkauft wird, ist in Wahrheit ein Angriff auf sie. Ein Kommentar.

Von Vera Ohlendorf

Zum CSD darf in diesem Jahr keine Regenbogenflagge auf dem Reichstag wehen. Dem queeren Mitarbeitenden-Netzwerk der Bundestagsverwaltung ist die Teilnahme am CSD untersagt. Beide Entscheidungen wurden durch Bundestagspräsidentin Julia Klöckner mit Verweis auf die „politische Neutralität“ der Verwaltung getroffen.

Anfang 2025 stellte die Unionsfraktion im Bundestag mit ihrer Kleinen Anfrage „Politische Neutralität staatlich geförderter Organisationen“ die Gemeinnützigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen infrage: „Viele Stimmen sehen in den NGOs eine Schattenstruktur, die mit staatlichen Geldern indirekt Politik betreibt“, heißt es dort etwa. Landtagsfraktionen von AfD, CDU und FDP griffen die Vorlage auf und stellten in Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland eigene parlamentarische Anfragen. Dem Vorsitzenden der AfD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf, Martin Kohler, wurde im vergangenen März der Zugang zu den Aktionswochen gegen Rassismus verwehrt. Auf Telegram schrieb er: „Die parteipolitische Neutralitätspflicht des öffentlich geförderten Trägers wurde meiner Ansicht nach massiv missachtet. […] Es gibt anscheinend etwas zu verbergen.“

(Screenshot)

Die politische Rechte spricht oft dann von einer Verletzung des „Neutralitätsgebotes“, wenn gemeinnützige und oder öffentlich geförderte Vereine, Verbände oder Stiftungen ihnen unliebsame Haltungen vertreten, gegen menschenverachtende Aussagen und Maßnahmen Stellung beziehen oder Rechtsextreme von Veranstaltungen ausschließen. Die Behauptung, diese Träger müssten sich „neutral“ verhalten und dürften sich nicht positionieren, ist schlicht falsch, durch juristische Gutachten und in Praxishandreichungen widerlegt. Dennoch ist die Forderung nach „Neutralität“ Kern politischer Strategien, die Gemeinnützigkeit und Förderungswürdigkeit von missliebigen zivilgesellschaftlichen Organisationen gezielt angreifen, diskreditieren und einschüchtern.

Das Grundgesetz ist nicht neutral

Grundsätzlich sind der Staat und seine Organe sowie Einrichtungen des öffentlichen Rechts qua Verfassung zu „parteipolitischer Neutralität“ im Sinne von Un- oder Überparteilichkeit verpflichtet. Staatliche Akteure dürfen nicht in den Parteienwettbewerb eingreifen, einzelne Parteien also nicht benachteiligen oder bevorzugen oder zur Wahl oder Nichtwahl einer bestimmten Partei aufrufen. Gleichzeitig unterliegen sie dem Demokratiegebot (Artikel 20) und den Grundrechten des Grundgesetzes, auch dem Diskriminierungsverbot (Artikel 3 Abs. 3).

Sie dürfen nicht „neutral“ agieren, sondern sind angehalten, demokratische Werte und die demokratische Grundordnung zu wahren und rassistische, antisemitische, sexistische und weitere diskriminierende Strukturen abzubauen. Demokratieschutz, Demokratieförderung und politische Bildung sind damit staatliche Aufgaben, die durch freie Träger übernommen werden können. Förderprogramme wie „Demokratie leben!“ sind Ausdruck dieser Tatsache.

Demonstrationen, Stellungnahmen, politische Arbeit: Alles erlaubt!

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind keine staatlichen Funktionsträger. Das ändert sich auch nicht, wenn sie öffentliche Förderungen erhalten. Für sie gelten die im Grundgesetz garantierten Grundrechte, sie genießen Meinungs-, Kommunikations- und Versammlungsfreiheit. Gemeinnützige initiativen haben das Recht, im Rahmen ihrer Satzungszwecke Positionen von Parteien oder Politiker*innen zu analysieren und zu kritisieren. Sie dürfen rassistische, antifeministische oder rechtsextreme Äußerungen klar als solche benennen und diese sachlich begründet (zum Beispiel mit Verweis auf Wahl- und Parteiprogramme, Verfassungsschutzberichte oder Gerichtsentscheidungen) einordnen.

Ebenso dürfen Vereine zu politischen Demonstrationen aufrufen, sofern es um die sachliche Auseinandersetzung im Zusammenhang mit ihren Satzungszwecken geht. Initiativen, die sich der Integrationsarbeit widmen, können also mit politischen Demonstrationen darauf hinweisen, dass Deportationspläne der AfD oder Zurückweisungen von Geflüchteten an den deutschen Grenzen gegen die Menschenrechte und geltende Gesetze verstoßen. In geringerem Umfang sind politische Betätigungen für Gemeinnützige auch möglich, wenn sie deren Satzungszwecke nicht im engeren Sinn berühren, beispielsweise wenn sich ein Sportverein gegen queerfeindliche Äußerungen von Politiker*innen positioniert.

Zivilgesellschaftliche Organisationen unterliegen selbstverständlich auch Pflichten. Sie müssen sich an die allgemeinen Gesetze halten, dürfen also keine falschen Tatsachenbehauptungen verbreiten, keine Straftaten begehen oder dazu aufrufen. Gemäß Gemeinnützigkeitsrecht (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 S. 3 Abgabenordnung) dürfen Träger einzelne Parteien nicht mittelbar oder unmittelbar unterstützen, etwa durch finanzielle Zuwendungen, Kampagnenarbeit oder durch Wahlempfehlungen. Das soll verdeckte Parteienfinanzierungen verhindern.

Der Begriff „politische Neutralität“ kommt in der Abgabenordnung nicht vor, ebenso wenig ein Verbot sachlicher politischer Äußerungen. Bei öffentlicher Projektförderung können in bestimmtem Maße politische Unparteilichkeitsforderungen oder thematische Einschränkungen Teil des Fördervertrages sein, die sich auf das geförderte Projekt beziehen, nicht auf die satzungsgemäßen Aktivitäten des Trägers insgesamt. Aktuell gibt es kaum Rechtsprechung zur Rechtmäßigkeit solcher Auflagen, was darauf hinweisen könnte, dass Träger mit diesen einverstanden sind oder den Klageweg scheuen.

Wer muss eingeladen werden?

Vereine sind nicht verpflichtet, Vertreter*innen aller Parteien zu ihren Veranstaltungen einzuladen. Sie entscheiden selbst, wer bei ihnen willkommen ist und wer nicht und unterliegen dabei nur dem Diskriminierungsverbot gemäß Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz. Unvereinbarkeitserklärungen, durch die rechtsextreme Akteur*innen von einer Vereinsmitgliedschaft ausgeschlossen sind, sind zulässig, da politische Überzeugungen im Sinne des Grundgesetzes keine „Weltanschauungen“ sind.

Zivilgesellschaftliche Organisationen bringen ihr Fachwissen in parlamentarische Verfahren ein und betreiben politische Arbeit im Rahmen ihrer Satzungszwecke. In einer parlamentarischen Demokratie ist das, Sachlichkeit und Transparenz vorausgesetzt, für die politische Willensbildung konstitutiv. Das Grundgesetz garantiert das Prinzip demokratischer Offenheit, das von der Chancengleichheit für politische Parteien, die staatliche Stellen garantieren müssen, nicht aufgehoben wird.

Gerichtlich bestätigt: Neutralitätsforderung ist gegenstandslos

Ein allgemeines Gebot „politischer Neutralität“ existiert also nicht, weder für zivilgesellschaftliche Organisationen noch für öffentliche Institutionen. Politische und juristische Entscheidungen haben das vielfach bestätigt: Anfang 2024 postete die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer auf Instagram, die AfD sei ein „Fall für die Verfassungsschutz- und Strafverfolgungsbehörden“. Die AfD sah darin einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot und klagte vor dem Landesverfassungsgericht. Der wies die Klage ab: Eine Landesregierung könne „an der öffentlichen Auseinandersetzung darüber teilzunehmen, ob Ziele und Verhalten einer Partei oder deren Mitglieder als verfassungsfeindlich einzuordnen sind“ und dürfe Warnungen aussprechen.

„Unparteilichkeit, nicht aber Wertefreiheit oder gar Positionslosigkeit“

Auch die Antwort der Bundesregierung auf die 551 Fragen der CDU-Fraktion fiel eindeutig aus: Zivilgesellschaftliches Engagement, das sich auch in Demonstrationen äußert, ist demokratiepolitisch erwünscht. Das Berliner Verwaltungsgericht entschied unlängst, dass das Aufhängen einer Pride-Flagge in einem Hort nicht gegen das Neutralitätsgebot verstößt. Bei der Erziehung in der Schule müsse nicht auf wertende Inhalte verzichtet werden.

Deutlicher noch formuliert es die Jugend- und Familienkonferenz der Länder, die „ein sogenanntes Neutralitätsgebot“ für die Jugendhilfe verfassungsrechtlich nicht normiert“ sieht. Die Verfassung verpflichte zu „Unparteilichkeit, nicht aber Wertefreiheit oder gar Positionslosigkeit“. Fachkräfte müssten Äußerungen und Handlungen aktiv entgegentreten, die gegen die demokratischen Werte gerichtet seien. Die Kultusministerkonferenz stellte bereits 2018 fest, der Beutelsbacher Konsens, ein anerkannter Fachstandard der politischen Bildung, der in den 1970er Jahren formuliert wurde und seither immer wieder fälschlich für eine “Neutralitätspflicht” von Pädagog*innen ins Spiel gebracht wird, verpflichte zu kritischer Auseinandersetzung und zur Vermittlung demokratischer, menschenrechtsorientierter Werte.

Wer die Neutralisierung der Zivilgesellschaft fordert, normalisiert rechtsextreme Diskurse

Der Begriff „Neutralität“ wird durch die politische Rechte in Dauerschleife irreführend genutzt, um Demokratiearbeit zu behindern, zivilgesellschaftliche Organisationen zu diffamieren und Demokrat*innen gezielt einzuschüchtern. Wer demokratische Werte verteidigt oder Rechtsextreme von antirassistischen Veranstaltungen ausschließt, gerät in Verdacht, „etwas zu verbergen“ oder als Teil einer „Schattenstruktur“ staatliche Gelder für politische Einflussnahme zu missbrauchen. Anklänge an Verschwörungserzählungen rund um „Deep State“ und „geheime Eliten“ sind in vielen Fällen offensichtlich.

Das verfängt: Obwohl die sogenannte „Neutralitätspflicht“ in der Regel juristisch unbegründet ist, scheuen sich Lehrer*innen, Beamt*innen, Mitarbeitende in Wohlfahrtsorganisationen oder Ehrenamtliche in Vereinen, sich sachlich-kritisch zu tagespolitischen Themen oder zum Programm von Parteien wie der AfD zu äußern.

Eine Studie von „Zivilgesellschaft in Zahlen” zeigt, dass rund 30.000 zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland aus Sorge um ihre Gemeinnützigkeit politisches Engagement unterlassen, wobei die Sorge mehrheitlich juristisch unbegründet sein dürfte. In ostdeutschen Kommunen, in denen die AfD politische Ämter innehat, ist der Anpassungsdruck besonders hoch. Längst wird die „Neutralität“ auch jenseits des juristischen Kontextes von Unternehmen betont, die weder gemeinnützig noch öffentlich gefördert sind. So verkündete das sächsische Unternehmen „Teigwaren Riesa”, man sei „politisch neutral“ und bekenne sich „dazu, keine politische Richtung, Bewegung oder Agenda zu unterstützen“, nachdem das Firmenlogo widerrechtlich auf einer Anti-AfD-Demo aufgetaucht war. Viele Kund*innen stimmten begeistert zu. Dass ausgerechnet in Sachsen die Nicht-Verurteilung von rechtsextremen Ideologien ein Verkaufsargument ist, zeigt, wie sehr die Nebelkerze “Neutralität” an Einfluss gewinnt.

(Screenshot)

Als Kommunikationsstrategie ist die Beschwörung der Drohkulisse rund um die angebliche „Neutralität“ wesentlicher Kern eines Kulturkampfes: Kritik soll verstummen, rechte Positionen sollen weiter normalisiert werden. Dabei geht es nicht um die juristischen Feinheiten der Abgabenordnung, sondern darum, demokratische Grundprinzipien zu schwächen. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich: Menschenverachtende und rechtsextreme Äußerungen erscheinen als legitime Haltungen im Meinungswettbewerb, die man nicht zu kritisieren hat, will man nicht Fördermittel, Rechte oder gesellschaftliche Legitimität verlieren. Dass Diffamierungskampagnen gegen Kritiker*innen im Namen einer vermeintlichen „Neutralität“ selbst keineswegs „neutral“ sind – geschenkt! Die Aufhebung des Verbots des Compact-Magazins zeigt, dass menschenverachtende Aussagen der extremen Rechten in vielen Fällen zulässig und von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Für Menschen und Organisationen, die Demokratie und Grundgesetz verteidigen, dürfen keine härteren Regeln gelten.

Als Demokrat*innen sind wir gefordert, den Neutralitätsdiskurs als das zu entlarven, was er ist: antidemokratisch und verfassungsfeindlich. Dagegen müssen wir uns gemeinsam und solidarisch nicht nur juristisch, sondern auch politisch wehren.

Dieser Artikel ist am 11. Juli 2025 zuerst auf Belltower.News erschienen.

Brandanschläge: Rassismus tötet, der Staat schaut zu?

Symbolbild (Quelle: Kira Ayyadi)

Brandanschläge gegen migrantische Familien und BPoC sind keine Relikte der Vergangenheit – sie passieren jetzt: in Solingen, Eberswalde oder Altenburg.

Von Luisa Gehring

Im letzten Jahr wurden Häuser in Altenburg, Solingen, Eberswalde, St. Wendel und Wilhelmshaven gezielt angezündet. Dabei starben Kinder, Eltern wurden schwer verletzt, Familien verloren ihr Zuhause. Diese Taten sind nicht zufällig, sondern oftmals rassistisch oder rechtsextrem motiviert. Dennoch gibt es in den seltensten Fällen eine wirkliche Aufklärung. Das hat auch mit institutionellem Rassismus innerhalb der Behörden zu tun: Betroffene erleben, wie Notrufe mit Akzent ignoriert werden, Rettungskräfte zu spät kommen und Einsatzkräfte mit mangelnder Empathie oder offenen rassistischen Kommentaren reagieren. Die Ermittlungsbehörden schließen rechte Motive oft vorschnell aus und verdächtigen ähnlich wie im NSU-Komplex stattdessen die Betroffenen selbst. Zeug*innen werden entwertet, rassistische Hintergründe verdrängt.

Vor Gericht erfahren Überlebende und Angehörige wenig Anerkennung, werden in ihrer Glaubwürdigkeit infrage gestellt und erleben keine echte Aufarbeitung. Die rassistischen Motive der Täter werden selten benannt oder strafverschärfend berücksichtigt. Der institutionelle Rassismus hinterlässt tiefe Wunden, die weit über die Anschlagsnacht hinausreichen. Er sorgt dafür, dass viele dieser Taten nie als das erkannt werden, was sie sind: rechte Gewalt. Ohne den Druck und das Engagement einer aktiven demokratischen Zivilgesellschaft oder der Nebenklage blieben diese Fälle oft unsichtbar. Die Geschichte der „Baseballschlägerjahre“ ist kein abgeschlossenes Kapitel. Rassistische Brandanschläge und rechte Gewalt sind Realität und Kontinuität – gestern wie heute.

25. März 2024

Ein rechtsextremer Täter zündet in Solingen (NRW) ein Wohnhaus an, in dem vor allem migrantische Menschen leben. Ein dreijähriges Kind, ein Säugling sowie ihre Eltern kommen bei dem Anschlag ums Leben. Laut Ermittler*innen sei die Tat unpolitisch. Doch der Täter besaß rechtsextremes NS-Propaganda-Material und zündelte am selben Haus bereits am 9. November 2022.
https://www.belltower.news/solingen-toedlicher-brandanschlag-von-2024-doch-rechtsextrem-motiviert-159099/  

31. Juli 2024

In der Nacht werden zwei Häuser in Altenburg (Sachsen) angezündet, in denen ausschließlich migrantische Menschen leben und ein Integrationsverein seine Räumlichkeiten hat. Neun Bewohner*innen werden verletzt. Schon zwei Monate vorher war das Haus mit rassistischen Parolen beschmiert worden, die Angreifer verteilten zudem den stinkenden Inhalt einer Bio-Mülltonne.
https://www.lvz.de/lokales/altenburger-land/brandstifter-schlagen-in-altenburg-doppelt-zu-migranten-sind-das-ziel-7Z3JFX6UIFFTVE5LDDYO7IRXA4.html 

14. September 2024

In Eberswalde (Brandenburg) wird ein Wohnhaus angezündet, in dem Menschen mit Einwanderungsgeschichte lebten. Im Erdgeschoss befanden sich ein Dönerladen und ein Barbershop. Ein vierjähriges Kind und seine 45-jährige Mutter sterben bei dem Brandanschlag. Sechs weitere Menschen werden teilweise schwer verletzt.
https://taz.de/Brand-in-Eberswalde/!6034438/ 

3. April 2025

Ein 64-Jähriger zündet in St. Wendel (Saarland) Holzpaletten vor einem arabischen Lebensmittelmarkt an. Über dem Supermarkt lebt eine syrische Familie, die bereits zuvor von dem Täter rassistisch beleidigt wurde. Verletzt wurde niemand. Nachbar*innen gelingt es, das Feuer zu löschen.
https://taz.de/Brandstiftung-im-Saarland/!6079000/

23. Juni 2025

In Wilhelmshaven (Niedersachsen) wird ein Haus angezündet, in dem ausschließlich migrantische Menschen leben. Ein vierjähriges Kind kommt dabei ums Leben, weitere Bewohner*innen werden lebensbedrohlich verletzt. Die Familie des verstorbenen Kindes habe wiederholt unter rassistischen Anfeindungen gelitten – durch Nachbarn, und Verwaltung. Vom Hausmeister sei die Familie regelrecht schikaniert worden, berichtet die taz.
https://www.belltower.news/totes-kind-in-wilhelmshaven-wenn-rassistische-gewalt-auch-vor-kindern-nicht-halt-macht-160803/

26. Juni 2025

In Aachen (NRW) wird das indische Restaurant „Maharaja“ Opfer eines rassistischen Brandanschlags. Am Tatort: Hakenkreuze und rassistische Parolen, das Restaurant selbst verwüstet. Die Staatsanwaltschaft sieht kein rassistisches Motiv. U. a. weil auch Penisse an die Wand gemalt wurden. Eineinhalb Wochen später, am 8. Juli, kam es in Aachen erneut zu mehreren Bränden. Betroffen war unter anderem das chinesische Restaurant „Yangguofu“. Durch die starke Rauchentwicklung im Gebäude, konnten die Bewohner*innen des darüberliegenden Wohnhauses nicht eigenständig fliehen. Die Feuerwehr evakuierte 21 Personen, fünf wurden zur Sicherheit ins Krankenhaus gebracht. Die Kriminalpolizei kann Brandstiftung in diesem Fall nicht ausschließen. Die Fälle werden bisher nicht in Zusammenhang gebracht.
https://www.t-online.de/region/aachen/id_100795758/rassistischer-brandanschlag-auf-maharaja-in-aachen-hilfsaktionen-starten.html 

https://www.t-online.de/region/aachen/id_100809274/aachen-feuer-in-chinesischem-restaurant-ausgebrochen-menschen-verletzt.html 

Der Skandalfall Solingen

Der Brandanschlag in Solingen aus dem Jahr 2024 steht exemplarisch für das Versagen staatlicher Institutionen im Umgang mit rassistischer Gewalt. Das Tatmotiv wurde in großem Umfang vertuscht. Die Polizei entfernt den Hinweis „rechtsextrem“ aus den Akten – per Hand und ignorierte dann weitere Indizien. 166 Dateien mit Nazi-Inhalten (Hakenkreuze, Hitlerbilder, Hetztexte) werden zunächst für den Prozess nicht ausgewertet – erst nach Druck durch die Nebenklage. Zudem gibt es diverse Aktenlücken. Von der Polizei gefundene NS-Literatur, rassistische Gedichte und Chatverläufe tauchen nicht in den Ermittlungsakten auf. Trotz allem schließt die Staatsanwaltschaft ein rassistisches oder rechtsextremes Motiv lange aus – obwohl alles darauf hinweist. Die Betroffenen werden systematisch übergangen. Überlebende und Angehörige werden nicht ernst genommen – ihre Perspektive zählt nicht.

Institutioneller Rassismus am Einsatzort

Betroffene von rechtsextremer und rassistischer Gewalt berichten immer wieder von Rassismus am Einsatzort, durch die Ermittlungsbehörden und vor Gericht.

  • Notrufe werden ignoriert oder nicht ernst genommen, insbesondere wenn die Anrufenden gebrochen oder mit Akzent sprechen
  • Rettungskräfte treffen zu spät am Einsatzort ein
  • mangelnde Kommunikation und fehlende Empathie durch Einsatzkräfte
  • rassistische Kommentare
  • Opfer werden basierend auf rassistischen Zuschreibungen beschrieben, Zahlen zur Anzahl der Betroffenen sind oft falsch

Institutioneller Rassismus durch Ermittlungsbehörden

  • Rechtsextreme Tatmotive werden vorschnell ausgeschlossen, stattdessen wird in migrantische „Milieus“ oder Familiendynamiken hinein verdächtigt
  • Betroffene oder Angehörige geraten selbst ins Visier der Ermittlungen
  • Stereotype Annahmen, mangelndes Vertrauen und die Delegitimierung von Zeugenaussagen
  • Verdachtsmomente gegen rechtsextreme Täter werden heruntergespielt oder ignoriert
  • Oft gelingt es erst durch das Engagement der Nebenklage oder Recherchen aus der Zivilgesellschaft, die rechtsextreme Tatmotivation aufzudecken

Institutioneller Rassismus vor Gericht

  • Betroffene und Überlebende werden als Zeug*innen nicht ernst genommen, in ihrer Glaubwürdigkeit infrage gestellt oder sie werden retraumatisiert
  • Fragen des strukturellen Rassismus und der institutionellen Mitverantwortung werden systematisch ausgeklammert
  • Rassistische Motive der Täter werden nicht konsequent benannt oder strafverschärfend gewertet
  • Opferfamilien fühlen sich alleingelassen. Sie berichten von mangelnder Aufarbeitung und fehlender Empathie seitens der Justiz
  • Beamt*innen decken sich oft gegenseitig. Der institutionelle Korpsgeist verhindert interne Ermittlungen

Baseballschlägerjahre 2.0?

Wenn von den Baseballschlägerjahren die Rede ist, meint das die enorme rechte Gewalt der frühen 1990er Jahre nach der Wende. In dieser Zeit kam es verstärkt zu Angriffen auf Geflüchtete, Migrant*innen oder alternative Jugendliche – aber auch zu rassistischen Brandanschlägen. Neonazis dominierten vielerorts den öffentlichen Raum, mit offener Gewalt. Man denke nur an die Bilder der ausgebrannten Häuser in Mölln (1993) und Solingen (1993) oder das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (1992). Auch sie zählen zu den ikonischen Zeugnissen der „Baseballschlägerjahre“. Wenn wir also von einer Zunahme rechtsextremer Gewalt in Deutschland sprechen, dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass viele Fälle, wie Brandanschläge, nie als solche erfasst werden. Ohne eine aktive Zivilgesellschaft bliebe oft nicht einmal eine Aktennotiz. Wir müssen laut bleiben, sichtbar machen und gemeinsam gegen Rassismus und rechte Gewalt kämpfen.


Dieser Artikel ist am 10. Juli 2025 zuerst auf Belltower.News erschienen.

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